Sebastian Haffner rief 1942 zum Völkermord auf

»Stern«-Leitartikler wollte 500 000 Deutsche umbringen lassen

Mark Weber, Washington

Roosevelts Sohn Eliott verdanken wir die ausführliche Schilderung der in Teheran (Nov. 1943) zwischen den »Großen Drei« geführten zynischen Auseinandersetzung über die Frage, ob man nach dem Sieg 50 000 Deutsche (wie von Stalin verlangt) oder nur 49 500 (wie von Roosevelt »scherzhaft« vorgeschlagen) umbringen solle (Eliott Roosevelt: As he saw it, Duell, Sloane and Pearce, New York 1945). Aber schon mehr als ein Jahr zuvor hatte der heute in Westdeutschland als politischer Kommentator und Buchautor so erfolgreiche (einst rassisch verfolgte) Sebastian Haffner einen Mordplan publiziert, der denjenigen Stalins an Grausamkeit noch weit übertraf. Unser nordamerikanischer Mitarbeiter entdeckte ihn bei seiner wissenschaftlichen Arbeit in der Kongreßbibliothek zu Washington. Dies sind die sensationellen Enthüllungen Professor Mark Webers, der 1977 - nach Studium u. a. auch in München - in zentraleuropäischer Geschichte promovierte und z. Z. als Historiker in Washington tätig ist.


Einer der einflußreichsten Autoren im Deutschland der Nachkriegszeit ist Sebastian Haffner. Seiner flüssigen Feder entstammt ein halbes Dutzend politischer und historischer Bücher. Sein jüngstes enthält sehr kritische Anmerkungen zu Hitlers Leben und seinem Platz in der Geschichte. Die amerikanische Ausgabe »Die Bedeutung Hitlers« (»The Meaning of Hitler«) fand in der USA-Presse ein günstiges Echo. Viele Jahre hindurch schrieb Haffner regelmäßig in der weitverbreiteten westdeutschen Illustrierten »Stern« politische Kommentare. Haffner versteht es, liberaldemokratische, egalitäre Ideen in eine scheinbar unvoreingenommene, objektive Form zu bringen. Dabei gewinnt sein nüchterner, selbstsicherer Stil auch an sich skeptische Leser.

Haffners wahrer Charakter tritt jedoch in einem außergewöhnlichen Artikel zu Tage, den er während des Zweiten Weltkrieges als Emigrant in England verfaßt hat. Im Augustheft 1942 der angesehenen Londoner Monatsschrift »World Review« finden wir nämlich einen Aufsatz, in dem Haffner den Massenmord an über 500000 jungen Deutschen am Ende des Krieges durch die alliierten Sieger vorschlägt.

Die nationalsozialistische Revolution - so argumentiert Haffner - habe 1933 Deutschland vom christlichen, europäischen Kulturkreis abgespalten. Eine Zurückführung (reintegration) Deutschlands in diesen Kreis müsse angestrebt werden. Ein alliierter Sieg werde es ermöglichen, die Vorkriegsordnung wiederherzustellen.

»Leicht zu liquidieren«

»Glücklicherweise«, so fährt Haffner fort, »ist der ›harte Kern‹ der Nazirevolutionäre in der ›SS‹ konzentriert und daher leicht zu liquidieren. Die ›SS‹ ist in jeder Beziehung die menschliche Komponente des Nazismus. Sie ist der Träger des nazistischen Gedankenguts. Freilich wird ihre Auslöschung nicht die Idee an sich töten können, aber doch ihre aktive, politische Kraft für die entscheidenden nächsten zehn Jahre. Dadurch wird der Weg für einen Wiederaufbau Europas mit Deutschland frei. Nur die Ausrottung muß vorangehen.«

Haffner schreckte nicht davor zurück zu erläutern, wie er sein Ziel erreichen wollte: »Das ist nun eine durchaus grausige Angelegenheit (a stark and gruesome matter). Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen mehr als 500 000 junge Männer hingerichtet werden, sei es nach einem kriegsgerichtlichen Schnellverfahren (jede Massenjustiz ist summarisch) oder sogar ohne eine derartige Förmlichkeit (ceremony). Auch wenn man die direkte Tötung vermeiden will und die ›SS‹ in Divisionen aufteilt, die zu lebenslänglicher, internationaler Strafarbeit eingesetzt werden, würde das auch nichts anderes als lebenden Tod bedeuten. «

»Die Massenhinrichtung«, so erklärt Haffner, wäre »ein weithin schallender Akt internationaler Justiz« (a resounding act of international justice), denn, so argumentiert er 1942 weiter, »es wäre verbrecherische Gefühlsduselei (sentimentality), die Terroristen am Leben zu lassen, wenn der teuer erkäufte Sieg es endlich möglich machte, sie zu beseitigen«.

Ein umfassendes »Umerziehungsprogramm« sei auch vonnöten, um sicherzustellen, daß das niedergeworfene

Deutschland für dauernd auf Vordermann bleibe. Da jedoch offensichtlich die große Mehrheit des deutschen Volkes hinter der nationalsozialistischen Führung stehe, könnte nur eine kleine Gruppe der nazifeindlichen protestantischen Geistlichkeit und katholische Priester mit dieser wichtigen Aufgabe betraut werden. »Gott sei Dank ist das Christentum noch eine sehr lebendige Kraft in Europa, nicht nur als geistiger Kern, sondern auch als organisatorische Einheit. «

Ein Netz christlicher Schulen würde für »die Umerziehung der deutschen Jugend und die Ausrottung des Nazismus als Idee verantwortlich sein, um Deutschland wieder zu einem christlichen Land in Europa zu machen«. Haffners Artikel ist keineswegs der erste Aufruf zum Völkermord, der in der Geschichte im Namen des Christentums erfolgte. Sein mörderischer Vorschlag wurde -wenn auch nur teilweise - erfüllt. Viele Zehntausende junger ›SS‹-Männer - nicht nur Deutsche, sondern Angehörige fast aller europäischer Nationen - wurden in der Tat durch die siegreichen Alliierten in Ost und West umgebracht,

»... moralische Ratschläge von Herrn Haffner verbitte ich mir ein für alle Mal!«

Das ist einer der Leckerbissen, die Franz Schönhuber in seinem neuen Buch »Freunde in der Not« (siehe Buchberater-Besprechung auf Seite 37) serviert. Er hat sich, wie Mark Weber, den Haffner-Artikel in der »World Review« vom August 1942 vorgenommen und ihn mit um so größerem Interesse gelesen, als er sich als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS von Haffners infamen Mordplan direkt getroffen fühlen mußte. Aber Schönhuber hat noch etwas entdeckt: der Schreibtischmörder Haffner wurde kürzlich 75 Jahre alt und erhielt aus diesem Anlaß (It. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 3. Januar 1983), ein »herzliches Glückwunschschreiben« des ehemaligen Offiziers der großdeutschen Luftwaffe und derzeitigen Bundespräsidenten Karl Carstens, indem er Haffner seinen »besonderen Dank« und die Hoffnung ausspricht, daß er seine »historischen Arbeiten« weiterführen werde, »Mit freundlichen Grüßen Karl Carstens, Bundespräsident«. Wir schämen uns für ihn

Eine sensationelle Entdeckung

Ich stieß zufällig auf Sebastian Haffners Publikation, als ich in der Washingtoner Kongreßbibliothek alte Nummern der nationalsozialistischen Tageszeitung »Völkischer Beobachter« durchsah. Die erste Seite der Ausgabe vom 11. Dezember 1942 brachte groß diesen blutigen alliierten Vorschlag, Europa zu »befrieden«. Es war für mich eine schwerwiegende Erkenntnis, daß einer der einflußreichsten Schreiber im heutigen Westdeutschland einst Urheber eines solchen Planes war. Es dauerte nicht lange, bis ich den englischen Originalartikel in gebundener Form in einem abgelegenen, staubigen Regal der größten Bibliothek der Welt finden konnte.

Ein Jahr vor der Veröffentlichung von Haffners Artikel hatte der USA-Rechtsanwalt Theodore Kaufman eine ähnliche Endlösung des deutschen Problems vorgeschlagen. In seinem Buch »Germany must perish« (Verlag Argyle, New York) trat Kaufman für eine Sterilisierung aller zeugungsfähigen Deutschen (Männer und Frauen) ein. Dazu empfahl er eine totale Aufteilung des Reichsgebietes unter seine Nachbarn.

Aber im Gegensatz zu Kaufman, der nach dem Krieg in Vergessenheit geriet, stieg Haffners Stern in große Höhen. Es gelang ihm, eine wichtige Rolle bei der Umerziehung zu spielen und das besiegte Deutschland zu dem ihm vorschwebenden gefügigen, »zivilisierten« Land zu machen.

1946 hängten die Allierten den Nazi-Gauleiter und Publizisten Julius Streicher in Nürnberg wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Sie hatten ihn für schuldig befunden, in seinem Monatsblatt »Der Stürmer« antijüdische Artikel verbreitet zu haben, das heißt, Streicher wurde für Handlungen getötet, die zur Tatzeit weder nach deutschem noch nach amerikanischem Recht unter Strafe standen. Niemals hat aber Streicher zur Tötung von Juden aufgefordert oder zur Tötung von irgend jemand anderem aufgrund seiner Rasse, Religion oder Zugehörigkeit zu einer Organisation.

Ganz im Gegensatz dazu ist Sebastian Haffner offen dafür eingetreten, wenigstens eine halbe Million junger Männer nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Organisation zu töten, eine Handlungsweise, die er selbst als eine »durchaus grausige Angelegenheit« gekennzeichnet hat.

Nach den von den Alliierten in Nürnberg angewandten Maßstäben hätte man Haffner für »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verurteilen müssen. Tatsächlich ist er niemals wegen seiner Aufforderung zum Völkermord zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil, das demokratische Nachkriegsdeutschland hat ihn reich belohnt. Wie viele aus seiner Leserschaft, die nach Millionen zählt, würden über ihn und seine Ansichten wohl anders denken, wenn sie um seinen Aufruf zum Massenmord während des Krieges wüßten!


Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 31(2) (1983), S. 18ff.

Zurück zum DGG-Menü