THEODOR FONTANE / MOLTKE

Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke wurde den 26. Oktober 1800 zu Parchim in MecklenburgSchwerin als Sohn des dänischen Generalleutnants Viktor von Moltke geboren. Die Moltkes, ursprünglich auf der dänischen Insel Möen seßhaft, führen deutungsreich den Spruch: "Candide et caute" ("Aufrichtig und vorsichtig") in ihrem Wappen.

Helmuth von Moltke verbrachte seine Kindheitsjahre auf dem Gute seiner Eltern in Mecklenburg, dann in Holstein und trat 1812 in das Kopenhagener Kadettenkorps, 1818 in die dänische Armee ein. Aber schon vier Jahre später, 1822, vertauschte er den dänischen Dienst mit dem preußischen und ward als Sekondeleutnant im 8. (Leib-)Infanterieregiment zu Frankfurt a. O. angestellt. Nachdem er zum Hauptmann aufgerückt, unternahm er 1835 eine Reise nach dem Orient, wo er dem Sultan Mahmud vorgestellt wurde, der ihn sehr auszeichnete und ihn bald darauf, um seinen Rat bei den durchzuführenden militärischen Reformen zu hören, von der preußischen Regierung für sich erbat. Moltke wohnte, nachdem ihm ein dreijähriger Urlaub bewilligt worden war, mit mehreren anderen preußischen Offizieren dem Feldzuge in Syrien bei (1839), in welchem freilich der Oberfeldherr der Pforte, guten Rat schmähend, bei Nisib geschlagen wurde. Die Stellung des türkischen Heeres war unklug gewählt und ohne Rückzugslinie.

Moltke sah die Gefahr, fand aber bei dem schlechten Geist, der ohnehin eingerissen war, einen Trost in der Erwägung: "Jetzt weiß jeder einzelne, daß er stehen und verderben muß!" Schlimmer als alles war, daß das türkische Heer von vier Generalen befehligt wurde, während das der Ägypter, ohnehin an Zahl überlegen, unter alleinigem Befehle Ibrahim Paschas stand. Moltke suchte durch eine Frontveränderung wenigstens einer Umgehung von seiten des Feindes vorzubeugen; die Verwirrung aber, welche sich gleich bei Beginn der Schlacht gezeigt hatte, dazu das Weichen des türkischen Zentrums, ließen all seine Anstrengungen scheitern. Er und seine Genossen langten zum Tode erschöpft in Marrasch an; fünf Sechstel der türkischen Armee war verlorengegangen, weil auf der Flucht alles auseinander und nach Hause lief. Auf diesem Rückzug hatte Moltke den unersetzlichen Verlust eines Teils seiner kostbaren Karten zu beklagen, der Arbeit von Jahren. Die Trümmer des Heeres erreichten Konstantinopel. Nach einer Abschiedsaudienz bei Sultan Mahmud kehrte Moltke am 13. September 1839 endlich in die Heimat zurück.

Hier trat er wieder in den preußischen Generalstab ein, dem er schon von 1828 bis 1835 angehört hatte, empfing den Pour le mérite, anvancierte 1842 zum Major und ward 1845 Adjutant des in Rom lebenden Prinzen Heinrich von Preußen. Neuerdings (in J. Rodenbergs "Deutscher Rundschau", März- und Aprilheft 1879) sind unter Benutzung damals von ihm gemachter Aufzeichnungen seine "Wanderungen um Rom" veröffentlicht worden. Nach dem 1846 erfolgten Tode des Prinzen Heinrich wurde Moltke dem Generalstabe des 8. Armeekorps aggregiert und rückte zwei Jahre später (1848) zum Generalstabschef des IV. Armeekorps, 1850 zum Oberstleutnant, 1851 zum Obersten auf 1855 Erster Adjutant des Prinzen (späteren Kronprinzen) Friedrich Wilhelm, ward er 1856 zum Generalmajor, 1859 zum Generalleutnant ernannt. Schon einige Zeit vorher, am 18. September 1858, hatte seine definitive Ernennung zum Chef des Generalstabes der Armee stattgefunden. Bei dem Feldzugsplane von 1859, der bekanntlich infolge des Friedens von Villafranca nicht zur Ausführung kam, hatte Moltke bereits seinem umfassenden Wirkungskreise entsprochen. Dem Generalstabe galten von jetzt ab alle seine Anstrengungen. Durch Vorträge, mehr noch durch geistvolle Leitung der den Generalstabsoffizieren obliegenden Arbeiten und Studien, wußte er im Frieden das Korps wesentlich zu fördern. Bei Ausbruch des Krieges gegen Dänemark half er den gemeinsamen Operationsplan feststellen und wurde Ende April, als Prinz Friedrich Karl den Oberbefehl über die gesamte in Schleswig-Holstein und Jütland stehenden Österreichischen und preußischen Korps erhielt, zum Chef des Generalstabes für die "Alliierte Armee" ernannt.

Über Erwarten - so hoch alle Erwartungen auch gespannt waren - entfaltete sich Moltkes strategische Begabung im Kriege gegen Österreich. Im Juni 1866 zum General der Infanterie ernannt, begleitete er den König in das Lager und wohnte der entscheidenden Schlacht von Königgrätz bei, die recht eigentlich ein Resultat seiner glänzenden Kombinationen, das Zusammentreffen dreier Armeen auf einem vorausberechneten Schlachtfelde war. Nach dem "Tage von Königgrätz" leitete er den Vormarsch der Preußen gegen Wien und Olmütz und führte die Verhandlungen in Nikolsberg, welche den Waffenstillstand am 2. August zur Folge hatten… Zugleich bereitete er alles für den Entscheidungskampf mit Frankreich vor, arbeitete bereits 1868 einen genauen Mobilmachungs- und Feldzugsplan auf diese Eventualität hin aus und erntete, und das Land mit ihm, die Früchte seiner Friedenstätigkeit, als der längst als unausbleiblich erkannte Kampf endlich eintrat. Das Heranführen ungeheurer Heeresmassen mit Hilfe der Eisenbahn, der Aufmarsch der drei Armeen am Rhein, endlich der Beginn der Kriegsoperationen selbst erfüllten alle Welt mit Bewunderung und Vertrauen in seine Leitung. Wurde durch blinde Kampfbegier einer seiner Pläne gestört, so wurde sofort die notwendig gewordene Änderung getroffen. Eine vortreffliche Verwendung der Reiterei lieferte Notizen über den Feind, aus denen mit nie fehlgreifendem Scharfsinn die Stärke, Bewegungen und Absichten desselben kombiniert wurden. Die durch einfachen, klaren Stil ausgezeichneten Befehle des Generalstabes verloren sich nicht in Details, sondern gaben Direktiven, welche die Heerführer zugleich über den Zweck der Befehle unterrichteten. "Getrennt marschieren, vereint schlagen", war seine Maxime, und die Siege der deutschen Armee haben sie bewährt. Vorzüglich die große Rechtsschwenkung der III. und IV. (Maas-)Armee, die zur Einschließung Mac Mahons bei Sedan führte, wird als ein strategisches Meisterstück anerkannt.

Auch politisch ist er tätig gewesen und noch tätig. Seit 1867 gehört er dem Reichstage, seit 1872 dem Preußischen Herrenhause an. Aufsehen erregte seine am 16. Februar 1874 gehaltene Reichstagsrede "Über die politische Lage und die militärischen Pflichten des deutschen Volks". Seine vielseitige Geistesbildung gibt sich auch in seinen Werken zu erkennen. Die "Geschichte des italienischen Feldzuges von 1859", "des Krieges von 1866", endlich die des "Deutsch-Französischen Krieges", welche der Generalstab unter seiner Leitung herausgab, sind, auch in bezug auf Stil und Darstellung, als mustergültige Werke anzusehen.

Moltkes hervorragendste Charakterzüge sind Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Daß er wenig spricht, ist bekannt: Sein Geist umfaßt alle Möglichkeiten, und die Tatsachen, wie scheinbar befremdlich sie auftreten mögen, ihn überraschen sie nie. Denn auch das von anderen Unerwartetste, er hat es erwogen und gibt ohne Zögern den nunmehr einzuschlagenden Weg an. Als in der Nacht vor Königgrätz die Meldung von seiten der 1. Armee einlief, daß die Österreicher diesseits der Bistritz ständen und Prinz Friedrich Karl sich gegen sie konzentrieren werde, bedurfte es für ihn keines Augenblicks der Überlegung, um sofort sämtliche Streitkräfte zur entscheidenden Aktion (Königgrätz) in Bewegung zu setzen. Ferner, als 1870 gegen Erwarten nach Bar-le-Duc hin gemeldet wurde, daß Mac Mahon den Entsatzversuch Bazaines unternähme, stand für Moltke sofort der Entschluß fest, den vielbewunderten "Rechtsmarsch", der zur Katastrophe von Sedan führte, dem Könige vorzuschlagen. In diesem wie in jenem Falle hatten die bis dahin eingelaufenen Meldungen auf ganz andere Bewegungen des Feindes hingedeutet, und so charakterisieren sich denn die beiden größten Unternehmungen in beiden Feldzügen als blitzschnell entstandene Impromptus. Im Gefecht, in der Gefahr überhaupt von größter Kaltblütigkeit, zeigt er sich unbekümmert um das, was um ihn her passiert. Statt vom grünen Tisch aus, wie die Welt glaubt, alles zu leiten, besitzt er vielmehr eine Neigung, mit vorzugehen und sich persönlich von allem zu überzeugen. So ritt er, im Walde von Sadowa, bis fast an die vorderste Schützenlinie heran. Ihn einfach als den "ersten Strategen" unserer Zeit zu bezeichnen, erschöpft weder seine Begabungen noch seine Verdienste. Er zählt überhaupt zu den hervorragenden Naturen. Voll echter Seelengröße, dient er, wie nicht leicht ein zweiter, der Sache allein. Selbstlos und bedürfnislos, lagert eine unerschütterliche, wohltuende Ruhe über seiner ganzen Persönlichkeit. Wohl niemand hat ihn je heftig oder auch nur auffahrend gesehen; er ist frei von Leidenschaft. Dabei hat er volle Anerkennung für die Leistungen anderer. Den strategischen Meisterzug General von Manteuffels, der die Bourbakische Armee zum Übertritt auf Schweizer Gebiet zwang, erkannte er, noch ehe das Resultat da war, in seiner Bedeutung und gab ihm rückhaltlos seine Zustimmung. Gegen Personen, die sich durch vieljährig bewährte Haltung sein Vertrauen zu erwerben wußten, tritt er mehr aus sich heraus. Namentlich aber hat er ein Herz für den gemeinen Mann und ist überhaupt voll höchster Anerkennung für die Taten der Armee. Als in den schweren Tagen an der Loire der Telegraph eines Abends neue Siege nach Versailles hin meldete, rief er aus: "Vor dem letzten dieser braven Leute müßte man den Hut ziehen."

Er kannte die Armee und baute darauf seine kühnen Pläne. "denn", so waren seine Worte, "es gibt keine Aufgabe, welche man mit solchen Truppen nicht zu lösen vermöchte; sie sind einer jeden gewachsen!"

Über die Art seiner Heeresleitung begegnen wir folgender Charakterisierung: "Wie uns scheint, besteht gerade darin die Eigentümlichkeit dieses wundervoll klaren und übersehenden Geistes, daß er in jedem vorliegenden Falle das Einfachste und Zweckmäßigste, ohne Vorliebe für irgendwelche künstliche Operationsweise, anordnet. Man hat oft als seine Virtuosität hervorgehoben, daß er, seine getrennten Heeresteile rechtzeitig vereinigend, alles durch den konzentrischen Angriff bewirkte, und hat namentlich auch aus dem Einmarsch in Böhmen, anno 1870 aber aus der Turnierung Bazaines und der Einschließung Mac Mahons, eine Vorliebe für diese Operationsweise - die seine besondere Methode und in Wahrheit eine ziemlich gewagte Methode sei - herleiten wollen. Und in der Tat, wer ihm diese Weise des Angriffs urteilslos wie ein Kunststück nachmachen wollte, würde sie zu seinem Schaden sehr gewagt finden. Moltkes Stärke liegt einfach darin, daß er die Leistungsfähigkeit der einzelnen Führer und Truppen im Marsche und Gefecht, die Straße, die Verpflegung, die möglichen Hemmnisse durch Terrain, Wetter usw., dazu die Beschaffenheit des Feindes mit einer Gründlichkeit erwägt, welche seinen Berechnungen einen sehr hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gibt, und sein Genie gipfelt in der Begabung, daß ihm alle diese bestimmenden Verhältnisse schnell zu einem sehr deutlichen und richtigen Gesamtbilde der Situation werden". Weitab davon, in ein bestimmtes Verfahren nie ausschließliches oder auch nur vorzugsweises Vertrauen zu setzen, ist seine Größe vielmehr in der Vorurteilslosigkeit, in einer durch keine theoretischen Liebhabereien eingeengten Freiheit zu suchen, die, je nach der Sachlage, sich heute zu diesem und morgen zu jenem entschließe. Die Strategie ist eben keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Wie bei allen Künsten gibt es für sie wohl gewisse herkömmliche Formen, aber keine Regeln, die den Erfolg ein für allemal sicherstellen. Dem Genius liegt es ob, bekannte, verwandte und dann wieder entgegengesetzte Formen im rechten Augenblicke zu finden, je nach den Fällen, Wie sie der Krieg in seinen Überraschungen, jedenfalls aber in dem ewigen Wechsel seiner Ereignisse zu bieten pflegt.


Quelle: Staatsbriefe 9(9) (1998), S. 27f.


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