HANS FRITZ GROSS / VON DER VERBOGENEN MEINUNGSFREIHEIT IN DEUTSCHLAND

ÜBER DIE FREIHEIT DES ANDERSDENKENDEN

Bei den Nationalsozialisten wie bei den Kommunisten wurden alle Auffassungen geächtet und deren Äußerung mit Strafe belegt, wenn sie nicht der politischen Doktrin des herrschenden Regimes entsprachen. Man könnte auch positiv formulieren: Im Deutschland von 1933 bis 1945 sowie danach bis 1989 in seinem sozialistischen Teil bestand Meinungsfreiheit, sofern man sich an die vorgegebenen, relativ engen Grenzen hielt.

Die harten Sanktionen für deren Überschreitung gelten als Ausdruck der Unterdrückung und als zutiefst undemokratisch. Sie erlauben nicht das wirkliche politische Bürgerrecht, andere und abweichende Überzeugungen zu äußern und zu vertreten.

Das heutige Deutschland bezeichnet sich selbst gern als die freiheitlichste Demokratie auf deutschem Boden. Dies trifft jedoch allenfalls zu, wenn man an sie wiederum nur einen quasi verordneter Maßstab für Meinungsfreiheit anlegt. Deren tatsächliche Einschränkungen werden mit historischen Erfahrungen und dem Schutzbedürfnis der Demokratie begründet und z. T durch strafbewehrte Rechtsvorschriften festgelegt. Dabei gilt die Annahme, daß es sich bei der bestehenden parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung um die einzige zulässige, im höchsten sittlichen Rang stehende Regierungsform handelt. Dieser Anspruch ist absolut![1]

Sofern man jedoch die hohen qualitativen Unterschiede zwischen zahlreichen Arten von Demokratien und Diktaturen ausklammert, sind für den Bereich der Meinungsfreiheit nur quantitative Differenzierungen möglich. Aber eben diese begründen doch zugleich das Ausmaß der Freiheitlichkeit des Regimes! West-Deutschland gewährte also lediglich eine größere Meinungsfreiheit als z. B. die DDR![2]

Tatsächlich ist ja auch die "alte Bundesrepublik" von ihrer Entstehung an in allen Bereichen, besonders in Politik und Presse, zwangsweise den vorgegebenen Ansichten der Besatzungsmächte unterworfen worden. Erst nach und nach hat sie den heutigen Stand von Gedankenfreiheit erreichen dürfen, dessen sich jedermann bedienen darf, sofern er folgende Verbote oder auch ungeschriebenen Gebote beachtet, die hier nicht vollständig aufgezählt werden:

1.) Absolute Einschränkung der Meinungsfreiheit

Im Hinblick auf alle Fragen zum Judentum sollen negative Überlegungen, Kritiken und Zweifel unterbleiben.

Es darf keine positiven Aussagen zum Nationalismus geben.

Jede Ablehnung Fremden gegenüber gilt als rechtsradikal[3] oder rassistisch und ist zu unterbinden.

Alternativen zur Demokratie sind untersagt.

Es drohen in entsprechenden Fällen Verhaftungen und Sanktionen des Staates bis zu einer Bestrafung wegen Rassendiskriminierung bzw. Volksverhetzung. Zugleich erhalten solche Vorgänge eine große Publizität, in der die Straftäter meistens auch wertend verurteilt werden. Solche Beschneidungen der freien Meinungsäußerung werden von einer Mehrheit als notwendig erachtet.[4]

2.) Relative Einschränkungen der Meinungsfreiheit

Frauen müssen gefördert werden. Fakten, die deren Bevorzugung belegen oder die fast absolute, also überzogene "Gleichstellung" der zutiefst verschiedenen Geschlechter als Irrweg aufzeigen und die riesigen Kosten für Altersversorgung, Krankenversicherung usw. usf. zur Diskussion stellen wollen, werden in Medien und Politik unterdrückt. Die Zerstörung der traditionellen Familie und die Belastung für die Kinder spielen wegen der ca. 3,5 Millionen "überschüssigen" Wählerinnen keine Rolle.

Die Kritik an den ehemaligen Besatzungsmächten, besonders an den Amerikanern, und ihrer katastrophalen "Nachriegsordnung" in Europa mit den gewaltigen Gebietsveränderungen und ethnischen "Säuberungen" einerseits sowie der Schaffung von konfliktträchtigen Vielvölkerstaaten andererseits gilt als "revanchistisch". Auch die sehr viel stärker als bei uns rassistischen Gesellschaften der USA oder auch Rußlands z. B. bleiben fast gänzlich unerwähnt oder erfahren Verständnis. Damit unterbleiben zugleich alle bitteren Lehren daraus!

Tabuisiert sind die mit der Vertreibung von ca. Vierzehn Millionen Deutschen aus den Ostgebieten des Reiches und aus dem Sudetenland sowie in Rußland und Rumänien verbundenen schwersten Verbrechen der Siegermächte. Ihre Erwähnung wird möglichst - im Gegensatz zu den von Deutschen begangenen Untaten - unterdrückt oder sogar ebenfalls als revanchistisch und die Versöhnung gefährdend verurteilt.[5]

Begriffe wie Volk, Vaterland, Nation, ja, sogar Heimat und Deutschland sowie die darauf abgestellten Adjektive sind ihres Wertes und ihrer psychischen Bindungskraft beraubt worden. Dies kennzeichnet zweifellos einen gefährlichen, geradezu masochistischen neurotischen Prozeß der Entsolidarisierung sowie Desorientierung.

Im Zusammenhang damit wird die "Neue Ostpolitik"[6] der Regierung Brandt/Scheel und deren Fortsetzung von der öffentlichen und politischen Kritik weitgehend ausgenommen oder verständnisvoll behandelt. "Abweichlern" haftet schnell der Geruch des Revanchistischen an.

Bei dieser zweiten Kategorie drohen Herabsetzung, Nichtbeachtung und/oder öffentliche Ächtung in den Medien. Meinungsäußerungen der unerwünschten Art werden von ihnen entweder gar nicht verbreitet oder sofort mit entsprechenden Kommentaren zu Teufelszeug gemacht. Die Vermischung von Fakten und Auffassungen der Journalisten führt weitverbreitet zu einer oft bedrückenden Meinungsmanipulation.

In allen Fällen unter 1 und 2 wird das demokratische Gebot der Toleranz vorsätzlich aufgehoben oder eingeschränkt. Solch Mangel ist jedoch sonst vor allem ein Merkmal von Diktatur und Machtstreben. Die intolerante rassische Verblendung im realen Nationalsozialismus und der unduldsame ideologische Machtwahn des realen Kommunismus/Sozialismus haben gleichermaßen dadurch zu Verfolgung, Tötung und Unterdrückung geführt. Von ähnlichen zeitweilig übermächtigen Kräften wurden auch die Sieger des Zweiten Weltkriegs -verbunden mit Rachegedanken - anfänglich verführt, wie oben erwähnt. Mit der - nicht immer vermeidbaren! - Entscheidung, wo und gegen wen Toleranz versagt werden soll, wandeln die Herrschenden auf dem schmalen Pfad zwischen Diktatur und Demokratie.

Die Meinungsmanipulation geht darüber hinaus und verbiegt bei den Betroffenen die Fähigkeit zur mündigen, von Information gestützten Entscheidung und geistigen Entfaltung. sie ist zu einem hinterhältigen Mittel in der "öffentlichkeitsarbeit" auf vielen Feldern geworden und ist Bestandteil, Mittel und Folge jener verlogenen Handlungsanleitung, die sich Political Correctness nennt.[7]

Die Aufzählung ist nur beispielhaft. Aber sie wirft tatsächlich die Frage auf, ob in Deutschland noch soviel Meinungsfreiheit besteht, wie sie zur "freiheitlichen" Demokratie gehören muß.

Die Antwort kann durch den Leitartikel einer schwedischen Regionalzeitung mit einem Vergleich erleichtert werden.[8] "Im letzten Jahr ist Gewalt mit rassistischen oder neonazistischen Untertönen immer mehr beachtet worden… Nach einer Zusammenstellung, die Svenska Dagbladet machte über Gewalttaten mit nazistischen Anzeichen, sind mindestens 107 Angriffe mit 99 Opfern vorgekommen. Aber die erschreckende Liste könnte länger sein. Denn vielleicht geht der reine Hauptteil aller Gewalt, Bedrohungen und Schikanen unbemerkt vorbei - außer an den Betroffenen."

Es wird gegen ein Verbot der Naziorganisationen plädiert: "Wir können nicht die Meinungsfreiheit und Freiheit, sich zu äußern, voll bewahren, wenn man eine Sorte von Organisationen verbietet, so schlecht wir auch immer von gewissen Zusammenschlüssen denken."

Die Schwierigkeit der Abgrenzung wird betont wie auch der Wert des Rechtes auf Zusammenschlüsse. Erklärungen, Informationen und offene Debatten seien geeignete Gegenmittel. Sowohl die Änderung der Lebensverhältnisse als auch schärfere Strafen gegen tatsächliche Gewalt seien zu erwägen. Der Leitartikel schließt jedoch: "Men förbud mot rassistiska och nynazistiska organisationer är fel väg att gä." (Aber ein Verbot der rassistischen und neunazistischen Organisationen heißt, den falschen Weg zu gehen).

Nur wenige Meinungen und Vereinbarungen traten selbst nach einem Ansteigen der öffentlichen Erregung für verbotsähnliche Maßnahmen ein. Übrigens: Auch Schweden war 1933 eine ausgesprochen nationalistische Gesellschaft mit großer Sympathie für die Nationalsozialisten in breiten Teilen der Bevölkerung, nicht zuletzt auch bei Polizei und Militär Dies änderte sich erst, als sich im Zweiten Weltkriege das Glück gegen Deutschland wandte, dem Schweden bekanntlich erhebliche Dienste erwies.[9] Also: auch dort besitzt die jüngere Geschichte viele Flecken.

Trotzdem treten immer wieder Rechtsradikale öffentlich auf. In den Schulen bereiten nationalsozialistische Gedanken sowie Symbole ernsthafte Probleme und veranlassen die Verantwortlichen, intensiv über pädagogische Gegenstrategien nachzudenken. Einhundert Attentate zwischen 1990 und 1992 sprechen ein eigene Sprache. Es wird übrigens die Erkenntnis auch öffentlich vertreten, daß die Ideen nicht von außen kämen, sondern aus der eigenen schwedischen Geschichte.[10]

Sogar in diesem sensiblen Bereich stellen die Schweden also die Meinungsfreiheit als die Freiheit des Andersdenkenden als demokratisches "Grundgesetz" über alle Bedenken. Man hat voll und richtig erkannt, daß man sich mit Ideen geistig auseinandersetzen muß, nicht durch ihre Unterdrückung und ihr Verbot. Nur auf diese Weise wird auch die im deutschen Grundgesetz so hochgehaltene Würde eines jeden Menschen anerkannt und ihm die schon in der Kinderpädagogik betonte Mündigkeit des Bürgers nicht abgesprochen, nur weil er sich auf ideologischen Irrwegen befindet, die sich so zahlreich anbieten. Selbst ein Herbert Wehner, später "großer alter Mann" der Sozialdemokratie, ist doch ohne Verstrickung in linksradikale Ideen und Verbrechen der russischen Sowjetdiktatur nicht zu denken! Ihm wurde Läuterung geglaubt und Vergebung gewährt.

Falls also Deutschland auf Grund seiner "besonderen jüngeren Geschichte" wirklich nur eine besonders eingeschränkte politische Meinungsfreiheit zulassen kann, ist es aus diesem Grunde eben auch als eine vergleichsweise eingeschränkt freiheitliche Demokratie zu betrachten. Diese muß nach Ansicht der deutschen Parteien wehrhaft alle Auffassungen unterdrücken, die ihr und ihnen selbst schaden könnten. Die Freiheit des Anderen, also ein entscheidende Grundlage allgemeinen Demokratieverständnisses, ist in Deutschland mit den genannten Begründungen zur Freiheit gewisser politisch mächtiger und meinungsbildender Anderer und damit zu einer politisch bestimmten Definitionsfrage geworden. - Ein nicht unbedenklicher Weg.

Den jungen noch suchenden und von den Mißständen der demokratischen wesentlichen Gesellschaften abgeschreckten Bürgern kann jedoch nur durch geistige Führung und überzeugende Hilfe ihre Zustimmung zum heutigen Deutschland abgerungen werden. Denkverbote begründen nur Zweifel, Kritik und Widerstände!

Der Staat hat aus einem übermächtigen Bedürfnis nach Prävention eine wichtige Grundlage seiner selbst, einen Teil seiner Glaubwürdigkeit und jene Bürger, die zu "Abweichlern" wurden, aufgegeben, statt sie zu gewinnen.

ÜBERZEUGEN GEHT VOR VERBIETEN

Kein vernünftiger Mensch in Deutschland kann die Notwendigkeit leugnen, das Land vor einem Rückfall in die Diktatur nach den Mustern Hitlers oder Stalins zu bewahren. Es geht dabei also zunächst um die Wahl der rechten Mittel und Wege. Weiterhin jedoch auch darum, daß gerade dabei demokratische Prinzipien befolgt werden müssen.

Bisher haben die Deutschen sich also gegenüber den "Radikalen" lieber der Macht als des Geistes bedient. Die in vielen anderen westlichen Demokratien, nicht nur in Skandinavien oder den USA, entwickelte Praxis trägt hingegen eher der psychologisch gesicherten Erkenntnis Rechnung, daß die Unterdrückung eines Verhaltens nicht auch den Verhaltensantrieb dazu tilgt. Anders ausgedrückt: Die vom Betroffenen in aller Regel als unbillig empfundenen Sanktionen veranlassen ihn allenfalls, seine Überzeugung nicht mehr zu zeigen, sondern höchstens da zu äußern, wo dies gefahrlos geschehen kann. Damit wird zugleich ausgeschlossen, daß man sich mit seinen Ideen auseinandersetzen und somit eine andere Einstellung schaffen kann. Nur dies wäre ein Gewinn für die Allgemeinheit und die Lösung des fundamentalen psychologischen Problems über sinnvolle Lernprozesse.

Die für das Ausland offenbarte Bereitschaft des deutschen Staates, mit Macht und Gewalt jede braune (oder auch, weniger ernsthaft, rote) Gefahr zu bekämpfen, mag lange opportun gewesen sein. Heute darf jedoch ein demokratisch etabliertes und akzeptiertes Land sich dessen allein im Extremfall bedienen und muß seine Kraft darauf richten, die als Irrlehren erkannten Ideen in den Hirnen und Herzen auszurotten. Dafür wäre eine intensive Schulung bei allen meinungsbildenden Kräften nötig, also bei Lehrern auf allen Ebenen, in den Medien und - nicht zuletzt - in den demokratischen Parteien. Dies ist eine schwere Aufgabe; doch nur deren Lösung kann das Anwachsen neo-nationalsozialistischer und linksextremer Gruppen bei der Jugend stoppen. Dazu gehört auch, die mit diesen Ideen verbundenen Sehnsüchte ideeller Art und die Orientierungssuche so zu berücksichtigen, daß sie sich in demokratische Lebensformen einbinden lassen.

Im Bereich der geistig-psychischen Aufgabenstellungen hat die deutsche Republik in katastrophaler Weise auch bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Wiedervereinigung versagt. Dies hat in vielen Fällen sogar dazu geführt, daß die Menschen im Ostteil, die mit offenen Herzen in das fremde, multikulturelle und sehr viel weniger deutsche Neuland "Westen" gingen, erschreckt in nostalgische Gedanken über das getrieben wurden, was sie kurz zuvor noch als Unglück empfanden. Diese Unfähigkeit, geistig-emotionale Kräfte, die in eine unerwünschte Richtung gehen, mit Maßnahmen zu beeinflussen, die solche psychischen Haltungen verändern können, ist überall vorhanden. Mit "Marktkräften" oder Machtmitteln" ist ihnen auf jeden Fall nicht beizukommen! Man scheint teilweise sogar in der Euphorie über den Sieg der Marktwirtschaft zu vergessen, daß diese nur als sozialgebundenes Prinzip (Ludwig Erhard) menschlich sein kann.

Sofern ein "unerwünschtes Verhalten" von einer Veränderung der Lebensgrundlage ausgelöst worden ist, wird seine bloße Unterdrückung zur Bankrotterklärung für jede demokratisch legitimierte Sozial- und Bildungspolitik. Den jugendlichen im Ostteil z. B. werden die bisherigen Erziehungseinflüsse auf sie ohne gekonnte lernpsychologisch-pädagogische Aufbereitung und damit Umerziehung einfach als verderblich und falsch dargestellt. Alle bisherigen Bindungen an einen sozialistischen Betrieb und an staatliche Pflichtorganisationen sind ihnen abrupt genommen worden. Die (besonders!) jungen Menschen müssen geradezu über eine große Leere und Orientierungslosigkeit nach Protesthandlungen suchen. Für diese gibt es im Westen gewiß kein Vorbild der Mäßigung, weil die Wahrung der eigenen Interessen und die Erlangung eigener Vorteile das immer weniger soziale System der "freien" Marktwirtschaft kennzeichnen.

Strafe und Ächtung statt Hilfe und klärende Diskussion mit den "Verwantwortlichen" düngen den Boden für neuen Extremismus, verhindern die Vollendung der Einheit, ermöglichen Mehrheiten bei der PdS. Die deutsche Politik versagt in erschreckender Weise bei der Aufgabe, Andersdenkende und Verirrte zu gewinnen und damit auf einen als demokratisch erwünschten Weg zu führen. Dabei darf auch die berechtigte Kritik an diesem Weg nicht besserwisserisch ausgeschlossen werden. Denn so würde doch sofort die Behauptung von der größeren Meinungsfreiheit des "Westens" zur unredlichen Phrase. Jene bestand doch eben nicht oder völlig anders in der alten DDR, und damit konnten auch die neu geltenden Begrenzungen nicht verinnerlicht werden.

Dies gilt noch mehr für das Demonstrationsrecht, das den Menschen im früheren Mitteldeutschland über das Fernsehen als Ausdruck westlicher Meinungsfreiheit besonders dann vorgeführt wurde, wenn es mit Gewalt, Sitzblockaden und Vermummung ausgeübt wurde. Ihre Abwehrhaltung gegen Fremde ist viel verständlicher als der angebliche "Ausländerhaß" in der Alt-Bundesrepublik; denn die Menschen hatten in großer Isolierung unter einer rein deutschen Bevölkerung gelebt, die sogar ihre Fremdarbeiter von ihnen abschloß. Lernen heißt Anpassung. Und es geschieht in der Zeit, individuell verschieden und führt nur am Schluß auch zur mehr oder weniger dauerhaften Verhaltensänderung.[11] Doch dafür bedarf es der Lernanstöße!

Solche Binsenweisheiten hätten verhindern müssen, den Landsleuten im Ostteil Meinungsfreiheit ä la Westdemokratie und das gesamte System der alten BRD schnell und ohne Hilfe überzustülpen. Das materialistische Modell der Marktwirtschaft allein lieferte die Umschulungsinhalte und rein ökonomischen Fördermaßnahmen, ließ aber den Menschen selbst vor der Tür, anstatt ihn, um den es doch geht, helfend an die Hand zu nehmen. In ungeheuerlicher Arroganz unterblieb nach der notwendigen Analyse in beiden Staaten die Synthese zu einem gemeinsamen und für alle besseren Ganzen. Doch nur die eigene, die West-Meinung, galt allein!

Solches fortgesetzte Fehlverhalten hat durch die Wähler in Berlin zu einer Lektion in Demokratie geführt! Die "Ausgrenzung" der PdS statt der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihrer Linksideologie wurde als überheblich und intolerant empfunden. Repressalien konnten die fehlenden Argumente nicht ersetzen, wie es gegenüber Rechtsparteien scheinbar gelingt.

DIE BEGRENZTE POLITISCHE INFORMATIONSFREIHEIT

Wenn man dem Bürger mündiges Urteilsvermögen zutraut, ergibt sich die strikte Forderung, ihm seine politischen Informationsquellen nicht vorzuschreiben. Das soll nicht heißen, man müsse die Verbreitung jeglicher Hetz- und Pornolektüre dulden. Doch die Restriktionen könnten enger angelegt sein als bisher und weniger "einäugig" - Niemals dürften sie die Wahrheiten der deutschen Geschichte nach dem Prinzip der gewollten und der ungewollten Fakten behandeln. Gerade vernünftige und auch kompetente, im Sinne der politischen Grundhaltung völlig unverdächtige Personen sollen z. B. nicht auf "Mein Kampf" zurückgreifen, um die z. T naive, z. T. falsche, oft aber demagogisch-hetzerische Ideologie des "Führers", von dem sie dauernd Böses hören, direkt und mit eigenem Urteil zu erfahren. Dies mutet absurd an. Es ist unwahrscheinlich, daß bei einer besseren Kenntnis dieses Buchs irgendwelche neo-nationalsozialistischen Gefahren entstünden. Wo es allerdings von z. T. Unkundigen und noch Unreifen nach Bedarf für andere zitiert und zur Verfügung mißbraucht wird, wie es jetzt oft heimlich geschieht, stellt es die größte Gefährdung dar! Daß "Mein Kampf" in den USA in mäßiger (schwieriger!) Übersetzung jedermann zugänglich ist, hat in diesem von Rassismus und Antisemitismus zweifellos mitgeprägten Land noch keine Revolution bewirkt. Dazu ist das Werk zu schlecht und unserer Zeit viel zu fern. Normale junge Menschen fallen nicht darauf herein. Ein Verbot kann sie neugierig machen und schon aus Protest das verkünden lassen, was sie eigentlich gar nicht wollen. Mit geeigneten eingeschobenen Kommentaren könnte "Mein Kampf" sogar die besten Argumente für Demokraten liefern, wenn man seinen Inhalt mit der Geschichtserfahrung ehrlich verbindet!

Eine größere und akute Gefährdung des inneren Friedens scheint von den zahllosen linksextremistischen Werken auszugehen, die leicht zu erhalten sind und denen ebenfalls politisch, also nicht nur mit Verboten, zu begegnen ist.

Jede unterdrückte politische Information findet einen Weg zu den Interessenten; und niemand kann ihr wegen ihrer Heimlichkeit sachlich und überzeugend begegnen in einem Lande, das praktisch, wenn auch nicht legal, für jeden "Import« offensteht. Diese Situation verschärft die Gefahren, denen man eigentlich begegnen will.

Nicht die Unterdrückung der unerwünschten Meinungen - stets ein wenig undemokratisch - stabilisiert unsere Demokratie, sondern die Schaffung und überzeugende Verbreitung der vernünftigen, von der Mehrheit gebilligten Auffassungen! Aber sie erhalten ihren Wert vor allem von ihrem Wahrheitsgehalt und ihrer Offenheit.

Beide fehlen oft oder finden nur mäßige Interpreten in unserem Lande. Darin liegt des Übels Wurzel. Aktive Überzeugungsarbeit, nicht Auswahl der Informationen für die angeblich mündigen Bürger wird diesem Staat und seinem Volk dienen.

Konkret müssen allerdings in unseren Schulen zunächst wieder Zuhörenkönnen, Meinungsformung durch Lernen und Verstehen, das gute Vorbild aus Geschichte und Gegenwart und die Bereitschaft zur Disziplin die schrecklichen Ergebnisse der "68er Reformen" verdrängen. Diese orientierten sich an gewalttätiger Intoleranz und Überheblichkeit der noch Unwissenden, von Utopien Geleiteten. Dies hat unsere Bildungsstätten bis heute verformt. Sie müssen zu einem Klima der geistigen und menschlichen Lauterkeit zurückkehren.

Der Weg ist mühsam. Doch er würde sich lohnen. Er bedarf einer Geisteshaltung, die sich an moralischen Grundlagen und Vorbildern orientiert, von denen wir in den Turbulenzen des halben Jahrhunderts Nachkriegszeit soviel verloren. Dann hätten die Bösen in der Politik weniger Chancen.

Und wir müssen dann ein größeres Maß an Freiheit der Informationen und der Meinungsbekundung gewähren; denn Ideen und Ideologien können nur über geistig-seelische Prozesse - und nur wenn man sie kennt! - von der Verführung befreit werden. Dafür aber bedarf es des Worts, das bekanntlich am Anfang war. Über die Sprache, besser über die Aussprache miteinander, können wir die Seele erreichen, in der unsere Einstellungen und Überzeugungen leben. Meinungsfreiheit existiert nur da, wo das Wort sie auszudrücken vermag. Dabei Form und Fairneß zu finden, ist wichtiger, als Schweigen zu fordern, sobald die Gedanken uns nicht passen. Dies gehört zur freiheitlichen Demokratie!

Form und Fairneß: - sind nicht gerade und vor allem sie im Eifer der Selbstverwirklichung und der Freiheit zum Egoismus und zum schnellen (Vor-)Urteil Viel zu kurz gekommen? Der Umgang mit der Überzeugung unserer Mitmenschen leidet darunter. Denn: Kommt es nicht sehr darauf an, wie etwas geäußert und beurteilt wird? Gilt dies letztlich nicht sowohl für die Wahrheit, nach der wir suchen, als auch für die Lüge und Verführung, der wir zu oft erliegen? jeder für sich muß versuchen, zwischen ihnen zu unterscheiden und den Weg zu finden, den er mit seinen Gedanken nach freiem Beschluß gehen will - doch ohne Gewalt zu fordern oder zu üben und ohne selbst verdammt zu werden. So verstehen wir doch sittlich getragene Gedankenfreiheit.

Jede Hilfe dazu mag willkommen sein, jeder Zwang und Druck wird dabei nur verletzen und trotzig machen. Denn: Meinungen sind wie Nägel: je mehr du auf sie einschlägst, umso tiefer dringen sie ein. - (Aus China)

Anmerkungen

Zum Verfasser. - Hans Fritz Gross wurde 1923 in Berlin geboren, 1953 Promotion zum Dr. rer. pol. Er gehörte keiner nationalsozialistischer Organisation an und blieb stets parteilos. Durch zahlreiche Aufsätze und Bücher hat er sich in den Wirtschaftswissenschaften, der Lernpsychologie und Didaktik sowie mit politischen Ansichten vorgestellt. Sein Weg führt vom Oberstudiendirektor an der Höheren Wirtschaftsfachschule zum Leiter der Wirtschaftsakademie in Berlin. Dort war er danach Hochschullehrer als Professor für Betriebsorganisation und Personalwesen mit Lehrverpflichtungen u. a. an der Technischen und der Freien Universität Berlin. Für den "Ruhestand" wählte er eine Tätigkeit als Unternehmensberater.

  1. Dabei ist auch dieser Begriff nicht etwa problemfrei! Bei O. Stammer in W. Bernsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie 1, Stuttgart 1972 S. 149, heißt es: "Der Begriff D. wird heute recht unbestimmt ausgelegt. Verschiedenartige politische Systeme und ideologisch bestimmte Bewegungen bezeichnen sich als demokratisch." Dieser Sachverhalt wird dann ausführlich beschrieben und kommentiert, wieder wird dazu also bei uns nur eine sehr abgegrenzte Meinung als richtig vorgegeben und toleriert!
  2. Der Begriff "Meinung" läßt vielfache Inhalte und Interpretationen zu. Der Duden 10 versteht darunter "die Ansicht, Überzeugung; das, was jemand glaubt, für richtig hält," Bei Textor: "Sag es treffender", rororo 1986, finden wir 49 Synonyme, darunter: Ansicht, Auffassung, Anschauung, Überzeugung, Wissen, Glaube, Einstellung, Standpunkt, Idee, Hypothese sowie Theorie. Duden 8 hingegen beschreibt "Meinung" als "vorläufiges subjektives Urteil einer Person über eine Sache". Anschauung und Auffassung sind dort die Synonyme. Die Aussage des Duden 10 zu "Meinungsfreiheit" ist danach gewagt: "die Freiheit, eine eigene Meinung zu haben und zu äußern: bei uns herrscht M." Die große Bedeutungsbreite läßt also in Verbindung mit "Freiheit" einen geradezu gewaltigen, nahezu willkürlichen Spielraum für die rechtliche und fachliche sowie sprachliche Beurteilung einer jeden Meinung! Hier orientiert sich "Meinung" inhaltlich eher an "Überzeugung", "Ansicht" und "Einstellung", ohne damit absolut präzis zu sein.
  3. Ganz ähnlich wie "Radikalismus" wird "Extremismus" in brisanten politischen Zusammenhängen als innenpolitisches Kampf- und Feindwort auf die Bestrebungen von Personen(gruppen) angewendet, die als prinzipiell intolerant und antidemokratisch eingestuft werden und (angeblich) die Grundrechte der Verfassung verletzen oder gar mit (der Androhung von) Gewalt und Terror beseitigen wollen." Strauß/Haß/Harras: Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist, Berlin-New York 1989, S. 142.
  4. Sie sind wohl durch Art. 5 (2) GG weitgehend gedeckt.
  5. Der U.S.-amerikanische Schriftsteller de Zayas stellte auf einer Treffen der Vertriebenen in Berlin am 13.05.1995 in der Urania dazu fest, daß es s.E. in Deutschland in großen Bereichen keine echte Meinungsfreiheit mehr gäbe, wie sie in den USA selbstverständlich sei.
  6. Erich Mende deckt die Grundüberlegungen Willy Brandts zu dieser Politik am 09.09.1979 in der Welt am Sonntag auf. Lt. Memorandum des US-Außenministeriums Nr. 3399 v. 22. 05. 1944 äußerste Brandt: "Es muß mit dem preußischen Militarismus abgerechnet werden. Beamte, Richter und Polizeibeamte müssen in großer Zahl gefeuert, interniert und in Gefängnisse gesteckt werden." Dem entsprechen Brandts Vorschläge zu den deutschen Ostgebieten nach Dokument Nr. 4027 v. 02.09.1944. Er habe keinerlei nationale Gefühle oder irgendwelche Bindungen an Grenzen. Daher schlage er vor, die Ostgebiete aus dem Reich auszugliedern und den Polen zu geben. In diesem Fall sollte die gesamte deutsche Bevölkerung aus den abgetretenen Gebieten ausgesiedelt werden." Kein Wunder, daß nach Mende der US-Gesandte Johnson anfügte: "Dies scheint der Gesandtschaft ein vernünftiger Vorschlag, insbesondere, da er von einem Deutschen kommt." - Der spätere Bundeskanzler wird (auch deswegen?) von der deutschen Sozialdemokratie hoch geehrt! In keinem anderen Lande der Erde könnte dies geschehen.
  7. Vgl. dazu Gerhard Detlefs: "Die Pervertierung der Meinungsfreiheit", Tübingen 1995, besonders die Zwischenbilanz auf S. 56.
  8. "Bohuslängigen", Uddevalla, 02.10.1995: "INTE ENS NAZI-IDÉER FÅR FöRBJUDAS", "Nicht einmal Nazi-Ideen dürfen verboten werden". Sonst in freier Übersetzung,
  9. Dies stützt sich auf die Dokumentation im schwedischen TV2 vom 15.04.1995 und die Kommentierung in der Programmzeitschrift På TV Nr. 14/1995 "SVERIGE OCH TREDJE RIKET".
  10. So He1éne Lööw von der Universität Göteburg lt. Göteborgs-Posten vom 03.07.1994.
  11. Diese Vorgänge sind in der Literatur sehr ausführlich dargestellt worden, u. a. auch bei Hans Fritz Gross: Lehren und Leiten in Unterricht und Arbeitswelt, Neuwied-Berlin-Frankfurt/M. 1991, besonders S. 3 ff, Das "Wörterbuch der Erziehung", München 1974, erläutert den Zentralbegriff der Verhaltensänderung zum Stichwort "Lernen": "… d. h. wir verwenden Lernen als Bezeichnung für eine ungewöhnlich umfangreiche Klasse von Verhaltensweisen bzw. Verhaltensveränderungen" (s. 389).

Quelle: Staatsbriefe 7(2-3) (1996), S. 30-34


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