RICHARD HELM / KRIEG UND FRIEDEN UNTER DEUTSCHEN UND ENGLISCHEN GESICHTSPUNKTEN

England steht, vom europäischen Festland aus gesehen, ein wenig abseits; was ihm aber zum Vorteil gereicht, sobald es in Europa zu Störungen kommt, die von einem Land zum anderen überspringen und jedes von ihnen in Mitleidenschaft ziehen. Infolge seiner geographischen Lage kann es sich in Kriegs- oder Krisenzeiten mehr oder weniger vom europäischen Schicksal abkoppeln und abwarten, um dann im geeigneten Zeitpunkt wirkungsvoll in das Geschehen einzugreifen und die in Fluß geratenen Dinge in eine für England günstige Richtung zu lenken. Zudem bietet seine Lage ihm die Möglichkeit, wie eine Spinne seine Fäden zu entfernten überseeischen Ländern zu ziehen, wenn es nur energisch genug die notwendigen Vorkehrungen trifft und sich diejenigen charakterlichen Qualitäten anerzieht, die für die Unterwerfung und Beherrschung der Beuteländer notwendig sind. Das aber sind Eigenschaften, die zur Gewaltanwendung und für kriegerische Aktionen taugen; Eigenschaften von Raubmenschen, deren Fachgebiet der Krieg ist.

Deutschland wiederum steht mitten im europäischen Geschehen, von allen Seiten von Nachbarn eingeschlossen. Es muß sich mit jedem von ihnen auseinandersetzen, muß seine Eigenheiten fortwährend gegen jeden von ihnen behaupten, muß mit dessen Gebräuchen fertig werden und sich an sie gewöhnen, ohne die eigenen aufzugeben. Wobei die eigenen Qualitäten ständig mit denen der Nachbarn in Wettbewerb treten und sich in allen möglichen Situationen bewähren müssen und dadurch einer fortwährenden Erprobung unterliegen. Darin steckt sowohl die Möglichkeit zu andauerndem Hader, aber auch die, sich in der friedlichen Beilegung von Konflikten zu üben. Das enge Nebeneinander kann also einerseits Anlaß sein zu häufigen Spannungen und birgt in sich die Gefahr von verlustreichen Auseinandersetzungen; bietet andererseits aber auch die Gelegenheit für einen Austausch von Ideen und Fertigkeiten, wobei sich jeder aus dem Angebot des Nachbarn die für sich selbst geeignetsten heraussuchen und im eigenen Sinn verwerten kann. Und da jede Nation irgend etwas zu bieten hat in Können und Wissen, aber auch im charakterlichen Verhalten, so gereicht ein solches Zusammenleben allen Beteiligten zum Vorteil - aber nur, solange Frieden herrscht.

England hat seine Vorzüge in Eroberungen und Kriegen entwickelt, und in Kriegszeiten kann es zudem seine dafür günstige geographische Lage ausspielen.

Deutschland hat seine Stärke in Tätigkeiten entwickelt, die den Frieden zur Voraussetzung haben und kann in Zeiten des Friedens seine dafür günstige Lage ausspielen.

England gerät in Friedenszeiten aufgrund seiner isolierten Lage leicht ins europäische Abseits, d. h., die Kontinentaleuropäer gewöhnen sich leicht daran, so gut wie möglich auch ohne die Briten auszukommen; alles aber dreht sich dann um Deutschland.

Deutschland gerät dafür aber in Kriegszeiten aufgrund seiner geographischen Lage in eine hoffnungslose Situation, denn es kann von allen Nachbarn her angegriffen werden, und schon eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Nachbarländern fügt ihm großen Schaden zu; während England von seiner isolierten Position aus auf die Geschehnisse einwirken kann, ohne dabei derart in das Getümmel zu geraten, wie dies bei Deutschland der Fall ist.

England kann seine in den Jahrzehnten der Eroberungen entwickelten kriegerischen Fähigkeiten vornehmlich im Krieg zur Geltung bringen; im Frieden liegen sie brach.

Deutschland braucht, um seine Vorzüge zur Geltung zu bringen, unbedingt den Frieden; im Krieg hingegen sind Eigenschaften wie Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit nur hinderlich. Während die deutschen Politiker also alles nur mögliche tun müssen, um das friedliche Miteinander auf dem Kontinent zu erhalten, da dieser Zustand dem Lande alle Wettbewerbsvorteile bietet, so stehen englische Politiker mit ziemlich leeren Händen da, solange der Frieden andauert. Könnte da dem einen oder anderen englischen Politiker nicht der Gedanke kommen, diesen für das eigene Land ungünstigen friedlichen Zustand zu beenden, ihn zu verändern in einen, in dem England seine Trümpfe ausspielen kann?!? Denn Deutschland, im Frieden unbesiegt, kann von England nur durch einen Krieg von seiner Schlüsselposition auf dem europäischen Kontinent verdrängt werden.


Quelle: Staatsbriefe 7(4) (1996), S. 21


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