Ist Krieg in Sicht? Schon über hundert Jahre sind vergangen, seitdem ein deutscher Kanzler mit dieser Frage an seine Landsleute herantrat. Daß ihm die Frage abschlägig beschieden wurde, ist heute nicht mehr wichtig. Entscheidend ist, daß sie gestellt und als solche vernommen wurde. Denn heute wird in der Tagespresse wieder über dieselbe Thematik gestritten, ohne daß von offizieller Seite eine solche Frage gestellt worden wäre. Angesprochen ist damit die gegen die Schweiz gerichtete Kampagne, deren Wegbereiter aus dem neutralen Verhalten während des letzten Weltkrieges einen internationalen (Straf-) Vorwurf gegen den Schweizer Staat herleiten wollen.
Der Tatbestand wird als "eine unendliche Geschichte von Vertuschung und Verleugnung" von Daniel Krierfer (FAZ) 25.5.97) beschrieben: "Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird der Schweiz jetzt der Prozeß gemacht für ihr Verhalten in jener Zeit. Die Anklage lautet auf verschwörerische Kumpanei mit den Nationalsozialisten, auf schamlose Bereicherung und Hehlerei, auf Beihilfe zu Völkermord und Kriegsverlängerung. Gerichtsstand ist New York, die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil der Welt, als Hauptankläger wirken zusammen, Alfonse D'Amato, amerikanischer Senator italienischer Abstammung, und Edgar Bronfman, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses (...). Die amerikanische und die britische Regierung signalisieren Unterstützungsbereitschaft und publizieren in amtlichen Studien selbst überaus Kritisches zum Verhalten der Schweizer in Kriegs- und Nachkriegszeit - nachdem sie jahrzehntelang geschwiegen haben."
Auf den Tag zweiundfünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg, am 8. Mai 1997 hat für die Schweiz eine "Höllenfahrt"(FAZ' 10.5.1997) begonnen. "Das Land steht auf der Anklagebank der Weltöffentlichkeit und nach fünfzigjahren isolationistischer Politik vollkommen im Abseits: keine Verbündeten - und allüberall nur mehr oder weniger verstohlene Schadenfreude." Die "Verstrickungen" der Schweiz in die Politik des Deutschen Reiches, die das Kriegsgeschehen "verlängert" hätten, sind in den letzten Wochen inflationär in Zeitungsartikeln und Büchern thematisiert worden.Zusammengefaßt finden sie sich jetzt in einem offiziösen mehr als 200 Seiten umfassenden Bericht. Mehrere amerikanische Behörden, darunter das Außen-, Verteidigungs- und Handelsministerium sowie der Geheimdienst CIA, beschuldigen darin die Schweiz, "Nazi-Gold" bedenkenlos angenommen und eingetauscht zu haben. Es gebe zwar "keine Beweise", daß man in der Schweiz gewußt habe, daß die Goldbarren möglicherweise auch eingeschmolzenes Zahngold und beschlagnahmtes Gold von KZ-Häftlingen enthalten hätten. Sicher sei aber auf jeden Fall, daß "die Schweiz Nazi-Deutschlands Bankier und finanzieller Helfer (war). Sie nahm und transferierte deutsches Gold -das meiste geplündert -und versorgte Deutschland mit Schweizer Franken, um notwendige Waren zu kaufen" (FAZ, 9.5. 1997).
Noch Ende letzten Jahres hatte der mittlerweile zurückgetretene eidgenössische Botschafter in den Vereinigten Staaten nach Hause telegrafiert: "Es geht um einen Krieg, den die Schweiz an der Außen- und Innenfront führen und gewinnen muß." Damit ist die aktuelle Problematik auf den Punkt gebracht. Man muß sich die Frage stellen, ob es sich bei der aktuellen Kampagne gegen die Schweiz um einen Krieg oder um eine neuartige Form von Weltinnenpolitik handelt. Denn einfach geleugnet werden kann nicht, daß die Schweiz vor 52 Jahren rechtlich betrachtet den NeutralitätsStatus eines an einem Krieg zwischen anderen Staaten nicht beteiligten Staates inne hatte. Wird ihr dieser Status nun im Nachhinein streitig gemacht, kann dies gemäß dem klassischen Völkerrechtsverständnis nur als feindseliger Akt gewertet werden. Es kann nämlich nicht einfach in Abrede gestellt werden, daß die Schweiz die sich aus ihrem neutralen Status ergebenden Unparteilichkeitspflichten damals erfüllte. Die Schweiz enthielt sich jeder im rechtlichen Sinne meßbaren Unterstützung einer der Kriegsparteien. Weder unterstützte sie das Deutsche Reich durch Lieferungen von Kriegsschiffen, Waffen, Munition oder sonstigem Kriegsmaterial, noch finanziell durch Staatsanleihen oder Kredite.
Der zum Anklagevorwurf hochstilisierte deutsch-schweizerische Goldhandel verfügt nicht über die erforderliche Tauglichkeit, um als völkerrechtswidrige Unterstützungshandlung qualifiziert werden zu können. Der Valutahandel wurde zum Realkurswert abgewickelt, weswegen die Schweiz der kriegführenden deutschen Seite damit auch keinen völkerrechtswidrigen Vorteil gewährte. Trotzdem wird dieses (neutrale) Verhalten heute zum Gegenstand eines intemationalen (Straf-)Vorwurfs gegen die Schweiz gemacht. Was das bedeutet, muß man sich in vollem Umfang vergegenwärtigen, weil der in Streit stehende Begriff der Neutralität in einem unmittelbaren funktionalen Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Kriegsbegriff steht.
Die Schweiz ist der Prototyp eines Neutralen, und nach dem Ende des Kalten Krieges scheint diese Maxime, wie schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, fragwürdig geworden zu sein. Wenn man heute so etwas Eigenartiges wie die immerwährende Schweizer Neutralität nicht mehr zu akzeptieren bereit ist, muß nach den daraus folgenden Auswirkungen auf das Neutralitätsrecht gefragt werden. In der völkerrechtlichen Entwicklung war bereits während des letzten Weltkriegs ein Trend feststellbar, der dahin ging, die Pflichten der Neutralen besonders in den Vordergrund zu stellen. Wenn es jetzt aber möglich sein soll, einem Staat seine ehemals allseitig respektierte Neutralität zum Vorwurf zu machen, ist das Wesen des Neutralitätsrechts preisgegeben. Der Sache nach lautet ein solcher internationaler (Straf-)Vorwurf nämlich nicht auf Valutahandel mit dem Deutschen Reich, er erhebt die "Neutralität" zum Verbrechen.
Die Eigenart und die juristische Strukturdervölkerrechtlichen Neutralität schließt eine solche nachträgliche Miteinbeziehung in einen Konflikt aus. Der Rechtsstatus der Neutralität ist durch die Pflicht des Staates zu strengster Unparteilichkeit, d.h. insbesondere zu einer Nichtparteinahme zugunsten des Rechts oder Unrechts eines der Kriegführenden gekennzeichnet. Wenn ein Staat zur Begründung eines "neutralen" Status jetzt aber nicht mehr nur während der Kriegszeit, sondern auch noch 52 Jahre später mit Enthaltungs-, Vorbeugungs- und Duldungspflicht belastet werden soll, wie dies heute unausgesprochen unterstellt wird, gibt es keinen politischen Status von Neutralität mehr. Neutralität ist ein Rechtsbegriff und kann aus diesem Grunde zu keinem über Jahrzehnte bindenden Pflichtenbegriff gemacht werden. Der rechtliche Wesenskern der Neutralität liegt in der Unparteilichkeit und nicht umgekehrt!
Das Neutralitätsrecht ist der sicherste Prüfstein für eine grundsätzliche Änderung der Struktur des Völkerrechts. Jede Veränderung im Neutralitätsrecht bedeutet bzw. führt zu einem Wandel des Kriegsbegriffs und damit auch zu einem solchen des Völkerrechts insgesamt. An anderer Stelle wurde ausgeführt, daß es zu einer grundlegenden Anderung des Kriegsbegriffes bereits gekommen ist. (vergl. meinen Aufsatz, Das Nürnberger Militärtribunal und das Jus Belli des Staates, Heft 9-1O/1996,S. 42 ff). Dieser Wandel im Kriegsrecht greift nun allem Anschein nach auf das Neutralitätsrecht über, was die amerikanisch-eidgenössische Auseinandersetzung belegt.
Gemäß klassischem Völkerrechtsverständnis handelt es sich bei der aktuellen Kampagne gegen die Schweiz um einen "Akt" undeclared hostility. Die Schweiz soll zum Verzicht ihres neutralen Status und zur Aufgabe ihrer international unabhängigen Finanzautonomie genötigt werden. In der neuartigen Vorgehenswese, in der sich staatliche und private Institutionen auf internationaler Ebene verbünden, könnte ein Präzedenzfall gegeben sein. Damit könnte eine neue Ära globaler Weltinnenpolitik eingeläutet werden, in der an die Stelle des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts ein internationales Polizei- und Strafrecht treten würde. In den Methoden und Verfahrensweisen, die gegen die Schweiz zum Tragen kommen, zeigen sich die ersten Ansätze zur Grundlegung eines solchen internationalen Polizeirechts.
Auf eine mit den Kategorien des herkömmlichen Völkerrechts nicht mehr faßbare Weise maßen sich heute internationale Vereinigungen die Funktion einer Weltstaatsanwaltschaft an, die ex cathedra Entscheidungen über die moralische und politische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit staatlicher Rechtstellungen und Haltungen treffen will. Die Möglichkeit eines Rechtsschutzes gegen die Androhung von moralischen, sozialen und wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen ist aufgrund der indirekten Vorgehensweise nahezu ausgeschlossen.
Der indirekten Gewalt ist es eigen, daß sie, ohne selbst Krieg zu führen, auf Grund einer übernationalen, moralischen oder politischen Autorität die Entscheidung über die rechtliche und moralische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit staatlicher und nationaler Auseinandersetzungen an sich zieht und dadurch den Charakter der zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen verändert. Die Logik dieser Entwicklung führt in eine Ära von Weltinnenpolitik, in der selbsternannte Weltstaatsanwaltschaften uno actu auch noch die Rolle der Weltpolizei und des Weltenrichters übernehmen wollen.