JOCHEN LOBER / BONN AUF DEM WEG ZUM AUSNAHMERECHTSSTAAT

 

Wo dem Nächsten die Freiheit genommen wird, verfällt man selbst der Knechtschaft. Für Voltaire war deshalb sein streitbares Engagement im Fall Calas so selbstverständlich wie später für Zola in der Affäre Dreyfus. Karl Salm hat mit Nachweis und Kritik des Rechts- und Verfassungsbruchs im Vogt-Prozeß dieselbe Haltung exemplarisch vorgeführt, "Der Justizskandal im Fall Thomas-Dehler-Stiftung", Staatsbriefe, 2-6/95. Jochen Lober hob bei der Schilderung der Neufassung des § 130 die Nichtgewähr eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Deckert Prozeß hervor, "Bonn auf dem Weg zum Ausnahmerechtsstaat", Staatsbriefe, 3-4/95. Von diesem Aufsatz folgt heute, nach einem aktuellen Kommentar zur Verurteilung Deckerts, Staatsbriefe 5/95, in diesem Heft ein zweiter abschließender Teil, der sich auf die Frage der Ächtung zuspitzt, die heute so viele Zeitgenossen leichtfertig im Munde führen (darunter Innenminister Kanther und Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger). Auf diese beiden Prozesse wird wegen ihres präjudiziellen Charakters bei künftigen Verfahren aufgrund des § 130 immer wieder hingewiesen werden.

Grundrechte nach Ermessen

Wo die Wirklichkeit nur als Funktion doktrinärer Wahrheit in Erscheinung Geltung erlangt, bildet sich ein totalitäres Meinungsklima. In diesem Klima herrschen Spannungen und Kräfte, die gesetzestreue Bürger mit dem Zweifel plagen, ob ihr Tun noch verantwortbar sei oder bereits ein Gefährdungsverbot verletze. Der verunsicherte Bürger für den die Trennungslinie zwischen offiziellem mainstream und gesellschaftlich tabuisiertem Verbotssprech nicht eindeutig erkennbar ist, zieht sich aus Furcht und zu seinem Schutz aus der totalitarisierten Öffentlichkeit ins Private zurück.

Die regierenden Oberschichten verstärken diesen Privatisierungsprozeß durch Potenzierung des Polizeistaatscharakters in den von ihnen regierten Ländern.[1] Formal wird die Etablierung des Polizeisstaates unter die Fahne des "Kampfes gegen die Organisierte Kriminalität" gestellt. Gegen den Kampf gegen Kriminalität ist an sich nichts einzuwenden, wenn sich zwischen den allgemeinen strafrechtlichen Vorschriften nicht Sondertatbestände finden würden, die in der Sache weder mit dem Kampf gegen Kriminalität, noch überhaupt mit dem allgemeinen deutschen Strafrecht im Zusammenhang stehen. Anhand der umstrittenen Neufassung des § 130 StGB (Volksverhetzung) wurde in dieser Zeitschrift anhand mehrerer Aufsätze verdeutlicht, daß es sich bei der Neufassung um keine allgemeine Strafvorschrift handelt. Hierbei handelt es sich vielmehr um eine Blankettnorm, die auf beinah jede regimekritische Äußerung Anwendung finden kann und deren Anwendung im "Ermessen" der regierenden Oberschichten steht. Die Vorschrift geht daher weit über die in Amerika mit "Political Correctness" betriebene "mobbing" der Meinungen hinaus.

Die Vorschrift bezweckt in ihrer Zielsetzung genau dasselbe, was in der DDR die Vorschrift über Boykotthetze erreichte. Nämlich die Verhinderung einer offenen Debatte und Ausschaltung der Opposition.

Diese Beeinträchtigung der Freien demokratischen Streitkultur führt zu einem kontrollierten Diskurs im ausschließlich regimefreundlichen Sinne. Das hierdurch etablierte affirmative Grundrechtsverständnis läßt die Grundrechte zwar weiterhin Formal in Kraft, beseitigt aber deren materiellen Sinn- und Kernbereich. Im Bedarfsfall gewähren die so sinnlos gewordenen Grundrechte keinen Schutz mehr, weil sie nicht mehr vollinhaltlich gelten und daher nicht mehr in einem rechtsstaatlichen Verfahren justiziabel sind. Faktisch läuft dieser Trend auf die Abschaffung der demokratiegestaltenden Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 5, 8 GG) hinaus. [2]

Im Fall der schon durch ihren Namen volkstümlich anmutenden Regelung der Volksverhetzung erweist sich deren Neufassung immer mehr als Fall, wo die Grundrechte nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich in ihrem Kern beseitigt sind. Erfreulicherweise findet diese zuerst von Schüßlburner [3] vertretene Auffassung immer mehr namhafte Anhänger die ihre verfassungsrechtliche Legitimität gleichfalls bezweifeln.[4] Nachfolgend wird der derzeitige Diskussionsstand dargestellt, wobei auf den vorläufigen juristischen Abschluß der Fälle des Richters Dr. Orlet und Parteichefs Deckert, die zur Begründung der Neufassung des § 130 immer wieder herangezogen wurden, nochmals eingegangen wird.

Im "Archipel GULag" wurde von Solschenizyn das sowjetische Unterdrückungssystem eindringlich geschildert und in seinen Folgen dargestellt. Neben den üblichen Restriktionen und Repressionen der Opposition war hiernach ein wesentliches Element die Extegrierung der Regimekritiker aus dem öffentlichen Leben, ihre Verbringung in Zwangslager. Um die Deportationen nicht als gegen die Opposition gerichtete politische Zwangsmaßnahme erscheinen zu lassen, bemühte man sich, dem Sachverhalt den Anschein eines normalen staatlichen Vollzugsaktes zu geben. Die Verantwortlichen behaupteten daher immer wieder, daß die zunehmende Zahl aus der Gesellschaft extegrierten Dissidenten nicht aus politischen Gründen, sondern einer psychischen Krankheit wegen in eine Heilanstalt verbracht seien.

Unter den damals herrschenden Wahrheitszwängen sowjetischer Glaubenslehre war diese Erklärung unter systemimmanenten Gesichtspunkten sogar richtig. Die Dissidenten knüpften mit ihren Aussagen und Forderungen an die herrschende Wirklichkeit und nicht die Fiktionen der totalitären Wahrheitsdoktrin an. Als sich das Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und doktrinärer Wahrheit auch durch Intensivierung des GULagsystemes staatlicherseits nicht mehr steuern ließ, erhielt die Haltung der Dissidenten schließlich durch die Implosion des ganzen Regimes ihre Bestätigung. Diese Bestätigung erfolgte für viele zu spät, da sie sie posthum erreichte, sie hatten mittlerweile in der Situation ihrer Hoffnungslosigkeit resigniert oder sich geistig an ihr psychisches Umfeld angepaßt.

Die Kenntnis des sowjetischen Psychofoltersystems wirkte auf die meisten Menschen abschreckend. Man sollte annehmen, daß es niemanden geben könne, der öffentlich eine Forderung nach einem erneuten Mißbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken aufstellen würde. Seit kurzem ist man aber in diesem Punkt durch eine Leserzuschrift eines Professor Dr. med. an die FAZ [5] eines besseren belehrt. Unwidersprochen führt dieser dort aus, daß man wegen Volksverhetzung verurteilte Angeklagte nicht nur ins Gefängnis bringen, sondern sie wegen ihrer "verworrenen Ideen" als "psychisch abnorme Rechtsbrecher" in psychiatrische Zwangsunterbringung bringen solle. Die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit eines gemäß § 130 Angeklagten ergebe zwingend die Schlußfolgerung, daß dieser nicht dem Kreis der normalen Bevölkerung zugerechnet werden könne. Dieser sei von der Krankheit Monoperceptose befallen, was seine psychische Abnormität begründe. Hierdurch eröffne sich die Möglichkeit, den wegen § 130 Verurteilten nicht nur ins Gefängnis, sondern über den formalen Weg der §§ 21 und 63 StGB dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Weiter führt dieser Professor Dr. med. aus, daß angeblich "jeder Gutachter in der Lage wäre, in der Psyche des Angeklagten, der von einer Monoperceptose befallen ist, Material (für die psychiatrische Unterbringung) zu finden". Und als wollte er sich selbst schon für die von ihm gewünschte Ausschreibung einer Planstelle, Wärter des Archipel Schindler' bewerben, stellt er speziell zum Fall Deckert fest, daß bei ihm "der Verurteilte" in den Maßregelvollzug gekommen wäre, wo er bis zur 'Heilung' in psychiatrischer Obhut bleiben würde. Bei dem 'charakterstarken' Mann dürfte das sehr, sehr lange dauern."

An sich wäre über diesen professoralen Unsinn, dem jede fachliche und sachliche Qualität fehlt, kein weiteres Wort zu verlieren. Die Abgabe von psychologischen Gutachten zur Gesamtwürdigung der Persönlichkeit eines Menschen, in Unkenntnis der untersuchten Person, bedeutet keine fachliche Leistung, sondern stellt eine Frechheit dar. Das ungeheure Ausmaß dieser üblich gewordenen Anmaßung gestattet es jedoch nicht mehr, hierüber achtlos wegzusehen. Als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, fordert hier jemand, einen anderen wegen seinen Äußerungen aus der Rechtsgemeinschaft auszuschließen und ihn "sehr, sehr lange" psychologisch zu maßregeln. Dies zeigt deutlich, wie erschreckend weit sich unser Gemeinwesen mental dem Archipel GULag angenähert hat. Eine unmittelbare Folge der durch selbsternannte gesellschaftliche Interventionisten verbreiteten Gesinnung "gegen Rechts", die sich gesellschaftlich verfestigt.

Die Aberkennung der gleichberechtigten Anteilnahme jedes Staatsbürgers am Gemeinwesen, dem due process of law, bedeutet die Aufhebung der demokratischen Staatsform. Durch Etablierung von Über- und Unterordnungsverhältnissen wird eine neue Gesinnungsaristokratie geschaffen. Die Zustände dieser neuen "deutschen Ordnung" charakterisierte Eckehard Fuhr wie folgt: "Deutschland ist ein ordentliches Land. Gut ist alles, was nicht böse ist. Böse ist alles, was rechts ist. Wer sich daran hält, kann reden, was er will (...) Darin sieht nur der einen Verstoß, der nicht versteht, daß nur rechts das Böse ist, es links aber höchstens ein Zuviel des Guten gibt."[6]

Seit der deutsch-deutschen Vereinigung herrscht der mentale Ausnahmezustand, der mittlerweile die Intensität eines geistigen Bürgerkrieges angenommen hat. Die Art und Weise, wie auf den damaligen Präsidentschaftsbewerber Steffen Heitmann eingedroschen wurde, dürften jedem noch in frischer Erinnerung sein. Die Attacken gegen die Partei der Republikaner dürften dagegen für viele fast schon in Vergessenheit geraten sein. War es üblich, ihre Anhänger als Rattenfänger zu bezeichnen, so scheute man sogar vor keiner bakteriologischen Sprache zurück. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag Gerster forderte beispielsweise, die Gesetze so zu ändern, "daß das Krebsgeschwür der Republikaner unsere Gesellschaft nicht weiter bedrohen kann."[7] Nachdem Menschen öffentlich ohne Widerspruch als Geschwür bezeichnet werden konnten, hat sich die übliche Ausgrenzung von allem, was rechts ist, zu einer Seuchenbekämpfung gesteigert.

Im Dezember 1994 wurde auf die Druckerei einer bundesweit erscheinenden Wochenzeitung ein Brandanschlag verübt. Dieser Anschlag auf das Recht zur freien Meinungsäußerung wurde der Öffentlichkeit durch Nichtmeldung einfach verschwiegen oder durch Herunterspielen verschleiert. Der Anschlag richtete sich schließlich nicht gegen Die Zeit, sondern gegen die als rechts geltende Junge Freiheit. Der Jahreskongreß des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), der damals zufällig zur gleichen Zeit stattfand, fand es nicht für nötig, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Der zuständige Pressesprecher meinte, daß der Kongreß, der die "lebenswichtige Rolle der freien Presse"[8] zum Thema hatte, hierdurch in seinem Ablauf gestört hätte werden können. Der antifaschistische Terror sei aber ein "spannendes Thema."[9]

Nicht untätig blieb der Deutsche Presserat. Er forderte die Zeitungsredaktionen zu einer verstärkten Zensur der eintreffenden Leserzuschriften, in Form freiwilliger Selbstkontrolle auf. Bei der Debatte zur Bewertung des 8. Mai waren zuviele veröffentlichte Leserbriefe von der offiziell verkündeten Wahrheitsdoktrin inhaltlich abgewichen, sodaß "erhöhte Wachsamkeit und Sorgfalt bei der Auswahl der Leserbriefe"[10] angezeigt sei.

Die Verfolgung von allem, was rechts ist, als "geistige Brandstifter", "geistige Urheber", "geistige Wegbereiter" usw. hat in den letzten Monaten ein Maß angenommen, dessen irrationales Ausmaß nicht mehr als DDR-light bezeichnet werden kann. Das politische Klima ist totalitär geworden. Eine abgewrackte Ideologie, die auf einer selbstreferentiellen Wahrheitsdoktrin gründet, erhebt zunehmend den alleinigen gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsanspruch. Abweichende politische Meinungen werden aus dem Diskurs verbannt und geächtet.

Die Vereinnahmung und Instrumentalisierung jedes einzelnen Mitgliedes der Bevölkerung durch einen "Anspruch des Zugriffs auf alle politischen, gesellschaftlichen und kulturell-geistigen Bereiche der Gesellschaft"[11] ist das erklärte Ziel. Mit allen zur Verfügung stehenden medialen Agitations- und Propagandamitteln hat eine Minderheitenherrschaft es geschafft, den intellektuellen Diskurs in Deutschland gänzlich zum Erliegen zu bringen.

Die herrschende repressive Toleranz wendet sich gegen alles, was rechts ist. Dies wirkt sich nicht nur gegen die unmittelbar von Repression Betroffenen aus, sondern beeinträchtigt mittelbar die Freiheit der Gesamtgesellschaft.

Mittels des "moralischen Ausnahmezustands", der durch den Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel verkündet worden ist, soll eine Atmosphäre geschaffen werden, die es nicht mehr allen Leuten ermöglicht, zu existieren. [12] Diese Forderung sprengt jeden Maßstab einer politischen Debatte. Die Anerkennung des Anderen ist Grundvoraussetzung jeder Debatte. Wird die Existenzberechtigung einer unbestimmt großen Vielzahl von Personen in Abrede gestellt, ist zum Bürgerkrieg aufgerufen.

Zur Wiederherstellung des antitotalitären Konsenses ist ein entschiedenes Auftreten gegen diese Tendenzen erforderlich, über alle Parteigrenzen hinweg. Richtschnur des Handelns muß dabei sein, die Wiederherstellung allgemeiner Freiheit für alle zu fordern. Die Freiheit des Nächsten bestimmt die Reichweite eigener Freiheit.

Das neue Deckerturteil

Im fünften Anlauf ist Günter Deckert am 21. April zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt worden. Die 2. Strafkammer des Landgerichtes Karlsruhe, die ihn verurteilte, war ein für das Verfahren örtlich nichtzuständiges Gericht. Es wurde bereits ausgeführt, daß örtlich zuständiges Gericht weiterhin das Landgericht Mannheim gewesen wäre. Nachdem Deckert seinem zuständigen gesetzlichen Richter entzogen war wurde in der mündlichen Verhandlung des Verfahrens vor dem LG Karlsruhe das Verhalten Deckerts von der Richterin Wollentin als "gefährliche politische Brandstiftung bezeichnet." Bei der internen Richterberatung bei Abfassung der schriftlichen Urteilsbegründung wurde die Richterin wohl darauf hingewiesen, daß diese Bezeichnung zwar gesellschaftlich üblich geworden scheint, sie aber keinen Täterbegriff im deutschen Strafrecht umschreibt. In den schriftlichen Urteilsgründen findet sich diese mündliche Prozeßbemerkung daher nicht mehr.

Der diesem Begriff zugrundeliegende Geist hat aber im Urteil [13]auf Seite 13 Eingang gefunden. Dort heißt es nämlich, daß "von der Tat des Angeklagten (...) eine ganz erhebliche Gefahr für den öffentlichen Rechtsfrieden aus(-geht). Bei der ersichtlich immer stärker werdenden Gefahr eines auflebenden Rechtsradikalismus ist es erforderlich, daß solche Täter ihre Strafe verbüßen, auch um der Gefahr der Nachahmung zu begegnen. Eine Strafaussetzung zur Bewährung würde für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen und könnte von der Bevölkerung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus verstanden werden."

Sieht man von weiteren Mängeln des Urteils ab, sind allein gegen diese Wertung drei Einwände vorzubringen. Der erste richtet sich dagegen, daß Rechtsradikalismus hier als Gefahr für den öffentlichen Rechtsfrieden dargestellt wird. Dieses kann jedoch kein Radikalismus, sondern nur Extremismus sein. Als zweiter Einwand ist zu nennen, daß Grundlage der Bemessung einer Strafe immer nur die individuelle Schuld des Angeklagten sein kann. Die Berücksichtigung eines "allgemeinen Rechtsempfindens (...) der Bevölkerung" bei der Strafbemessung ist so anrüchig wie ehedem die Berücksichtigung des "gesunden Volksempfindens".

Der dritte Einwand richtet sich schließlich dagegen, daß diese von der Vorsitzenden Richterin der 2.Strafkammer auf Seite 13 wiedergegebene Wertung auf den streitgegenständlichen Fall überhaupt keine Anwendung finden konnte. Hierbei handelt es sich um ein Zitat[14], das die Richterin Wollentin fast wörtlich aus einer Fachzeitschrift abgeschrieben hat. Macht man sich die Mühe, das Zitat nachzuschlagen, stellt man verwundert fest, daß diese zitierte Wertung dort nicht im Zusammenhang mit Ausführungen zu § 130, sondern zu § 86 und § 86a steht, § 130 und die §§ 86, 86a haben weder strafrechtssystematisch, noch inhaltlich etwas miteinander zu tun. Die falsche Bezugnahme auf nicht im Zusammenhang mit dem Tatbestand des § 130 stehenden Wertung stellt daher eine negative Analogie zum Nachteil des Angeklagten dar. Derartige "rechtschöpferische" Wertungen sind dem Strafrecht leider nicht fremd. Das im NS-Regime geltende Gesinnungsstrafrecht [15] ermöglichte die negative Analogie zum Nachteil des Angeklagten. Da diese Möglichkeit mit dem Ende des NS-Regimes ihr Ende im Strafgesetzbuch fand, wirkt sich dieser Gebrauch der negativen Analogie auf das Urteil aus. Daß gerade mit der falschen Bezugnahme die Anerkennung der Aussetzung der Strafe zur Bewährung begründet worden ist, zeigt umsomehr wie berechtigt die Forderung nach Einstellung des Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK gewesen wäre. Die rechtsschöpferischen Fähigkeiten Karlsruhes erscheinen dadurch in einem bezeichnenden Licht.

Ein endgültiges Ende gefunden hat die juristische Laufbahn von Dr. Rainer Orlet. Als berichterstattender Richter im zweiten Deckert-Verfahren vor dem Mannheimer Landgericht war er für die schriftliche Abfassung der Urteilsgründe zuständig gewesen. Wegen des Tenors des Urteils kam er in die Schußlinie medialer Kritik und die Möglichkeit einer Richterklage gegen ihn wurde erwogen. Um dieser und dem auf ihm lastenden Druck zu entgehen, distanzierte sich Orlet von dem von ihm verfaßten Urteil. In seinem Schreiben betonte Orlet, seine Deckert-Äußerungen seien von den Medien unvollständig und "in erheblich sinnentstellter Weise" wiedergegeben worden. Der Vorwurf des Verstoßes gegen die verfassungsmäßige Ordnung treffe ihn schwer. Seine "beiläufig gegebene bejahende Antwort" auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, mit einem solchen Mann privat befreundet zu sein, "hatte rein theoretischen Charakter" gehabt. Er habe jeden Antisemitismus verworfen, den Holocaust als Tatsache bezeichnet und sei für das Lebensrecht Israels eingetreten. "Sollte ich (...) den unzutreffenden Eindruck einer geistigen Nähe zum Rechtsextremismus oder einer persönlichen Nähe zu dem mir fremden Angeklagten Decken erweckt haben, so bedaure ich dies und erkläre es mit der damaligen Situation, in der ich, völlig alleingelassen, mich schwerer persönlicher Angriffe zu erwehren hatte."[16]

Selbst durch diese ungewöhnlich harte Distanzierung war die Beratung der Richterklage nicht von der Tagesordnung zu bringen. Orlet wurde vielmehr bedeutet, daß man hieran auch weiterhin festhalten wolle. Daraufhin reichte Orlet, der schwerbehindert und 60 Jahre alt ist, einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand ein, dem noch am selben Nachmittag statt gegeben wurde. Aus gesundheitlichen Gründen hätte er die Aufregungen, die mit dem Verfahren der Richteranklage verbunden gewesen wären, nicht durchgestanden."[17]

Die durch diese mediale Exekution verursachten Folgen für die richterliche Unabhängigkeit sind so verheerend, daß es einige Juristen aufgeschreckt hat. In mehreren Artikeln in juristischen Fachzeitschriften wird mittlerweile die mediale Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit und des Strafverfahrens erörtert.[18] Diese Beeinträchtigungen sind, worauf Otto Kirchheimer[19] schon hingewiesen hatte, keine neue Erscheinung sondern in der Rechtshistorie immer wieder nachweisbar. Als Parallele zu den heutigen Einschränkungen richterlicher Unabhängigkeit sei beispielsweise auf eine Äußerung Adolf Hitlers zum sog. Ermächtigungsgesetz hingewiesen: "Der Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muß die Elastizität der Urteilsfindung zum Zwecke der Erhaltung der Gesellschaft entsprechen".[20] Wenn heute gefordert wird, daß die Bevölkerung Urteile "verstehen" muß, wird hier eine ähnliche Elastizität eingefordert.

Die Umwertung der bestehenden Rechtsordnung...

Die Forderung auf Ächtung bestimmter politischer Meinungen und Etablierung einer ideologischen Gesinnung bleibt nicht ohne Folgen für das Strafrecht und die Rechtsordnung. Das deutsche Rechtssystem ist ein rational gesatztes System, das größtenteils auf allgemeinen Gesetzen basiert. Diese müssen inhaltlich bestimmt und zur Regelung des erstrebten Zieles auch geeignet, erforderlich und angemessen sein, mit anderen Worten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Die Allgemeinheit der Gesetze begründet das Erfordernis der Existenz von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen. Diese sind unvermeidlich, weil nicht jeder Fall durch eine Einzelvorschrift erfaßt werden kann.

Wäre dies der Fall, müßten gesetzliche Kodifikationen einen Umfang von mehreren hundertausend Einzelfallnormierungen erfassen, um den Rechtscharakter eines Gemeinwesens annähernd beschreiben zu können. Da derartige Kodifikationen nicht mehr praktikabel und justiziabel wären, macht die zunehmende Pluralität der Gesellschaft das Vorhandensein von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, wie "Treu und Glauben", "gute Sitten", "wichtiger Grund", "unbillige Härte", "Zumutbarkeit", "besondere Notlage", "unverhältnismäßige Nachteile", "überwiegende Interessen", "Mißbrauchverbot", "Willkürverbot", "Interessenberücksichtigungsanspruch" etc. unentbehrlich. Um zu verhindern, daß die Gesetze durch diese Generalklauseln ihren allgemeinen Charakter hin zu unbestimmbarer Willkür verlieren, ist die Auslegung dieser Begriffe unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zwingend erforderlich. Andernfalls würde die Sicherheit und Berechenbarkeit der Normierung nicht mehr in dieser selbst, sondern in der als normal vorausgesetzten Situation liegen. Die Suche nach dem Geist des Gesetzes erweist sich damit eigentlich als einfache Klärung, von welchem Geist oder Gesinnung die Anwender der Gesetze durchdrungen sind.

Das Grundgesetz statuiert keine wertneutrale Ordnung, sondern will in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufrichten. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeiten und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten.[21] Leitet sich diese alle Rechtsbereiche durchdringende Wertordnung nicht mehr aus dem vorgegebenen Inhalt der Verfassung her, sondern wird ihr Inhalt durch rechtschöpferische Interpretationen aus anderen Quellen gewonnen, ändert sich der ganze Sinn der Verfassung. Ohne ein einziges Komma der bestehenden Rechtsordnung zu ändern, kann diese inhaltlich materiell völlig umgestaltet werden.

In dem Maße, wie die vorhandenen wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe der allgemeinen Gesetze nicht mehr gemäß rechtstaatlicher Gesichtspunkte ausgelegt, sondern nach verfassungsfremden Auslegungsgesichtspunkten interpretiert werden, ändert die äußerlich gleich gebliebene Verfassung ihren Inhalt. Ob die Gesetze einer bestehenden Rechtsordnung im Sinne des "gesunden Volksempfinden", dem "Gerechtigkeitsgefühl aller billig und gerecht denkenden" oder dem irrationalen "Menschlichempfinden" ausgelegt werden, ist daher keine Frage nach der objektiven Wertordnung, sondern eine Frage nach dem herrschenden Rechtscharakter des bestehenden Gemeinwesens.

Das einzig mögliche Gemeinschaftsprinzip im Recht ist das der Rechtsgemeinschaft. Im demokratischen Gemeinwesen ist die Rechtsgemeinschaft des deutschen Volkes die verfassungsgemäße. Sie umfaßt die Gesamtheit aller Staatsbürger gleich welchen Alters oder Geschlechts. Ihr Wesen liegt darin, daß sie auf einer Gemeinsamkeit von gewissen Vorstellungen und Anschauungen gründet, die den Inhalt der geltenden objektiven Weltordnung ausfüllen. Im Staat verwirklicht sich die Rechtsgemeinschaft des deutschen Volkes zur Gesellschaft. Der in der Gesellschaft herrschende Individualisierungsprozeß gestattet es, daß auch ein nicht der Rechtsgemeinschaft des deutschen Volkes zugehöriger hieran beteiligt wird. Dieser wird dabei nicht zum Rechtsgenossen, sondern partizipiert als Gast an der von der Rechtsgemeinschaft des deutschen Volkes erzeugten Gesellschaft.

Die aktive Beteiligung der Gesamtheit aller Staatsbürger an der Gesellschaft muß potentiell möglich sein, ist jedoch nicht erforderlich. Jeder konkrete Bürger verwirklicht und befriedigt seine Bedürfnisse in seiner Besonderheit anders. Damit sich diese konkrete Besonderheit für sich entwickeln kann, bedarf es eines Prinzips, das die Sonderung der zueinander in Beziehung stehenden Personen regelt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist dies das Prinzip der Allgemeinheit. Die Allgemeinheit ist die Totalität der Besonderheit der zueinander und auf andere in Beziehung stehenden Personen. Allein dieses Prinzip gibt der Person Geltung und der bürgerlichen Gesellschaft Wirklichkeit. Die vom deutschen Volk begründete Rechtsgemeinschaft ist einem Wandlungsprozeß ausgesetzt, wenn das Prinzip der Allgemeinheit keine Geltung mehr findet.

Dies ist im Augenblick in zweifacher Hinsicht der Fall. Einerseits wird der an der bürgerlichen Gesellschaft partizipierende Gast ohne Naturalisation zur Besonderheit erhoben, indem er den Status eines Bürgers zugebilligt bekommt. Dies geschieht durch die Bezeichnung "Ausländischer Mitbürger", womit der Nichtdeutsche zum "Auchbürger" erhoben wird. Da er hierdurch seine konkrete Verschiedenheit nicht verliert, führt dies dazu, daß die Totalität seiner Besonderheit nicht mit der vorhandenen eins wird, sondern zwei verschiedene Allgemeinheiten und Gesellschaften nebeneinander bestehen.

Andererseits ist das Prinzip der Allgemeinheit dadurch einer Wandlung ausgesetzt, daß es nicht mehr die Totalität der zueinander und aufeinander in Beziehung stehenden Personen darstellt, sondern die Totalität der in ihrer Sonderung nicht von Aussonderung betroffenen Personen. Diese mittels Ächtung betriebene Aussonderung einer unbestimmten Zahl von Personen führt dazu, daß der Rechtscharakter der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr von der Allgemeinheit der positiven Wirklichkeit gebildet wird, sondern despotischer Willkür zum Opfer fällt.

Die vom deutschen Volk gebildete Rechtsgemeinschaft ist hierdurch einem Transformationsprozeß ausgesetzt, wie dies 1933 durch willkürliche Setzung der Volksgemeinschaft statt Rechtsgemeinschaft schon einmal der Fall gewesen ist. Die Beteiligung von Nichtdeutschen als "Auchbürger" am politischen Gemeinschaftshandeln der Rechtsgemeinschaft, bei gleichzeitiger Aussonderung von zu Unperson geächteten Rechtsgenossen, führt aktual nicht wieder zur Volksgemeinschaft, sondern zur Menschgemeinschaft. In dieser Menschgemeinschaft verlieren die Personen nicht ihre konkrete Verschiedenheit, was zur Folge hat, daß eine Vielzahl von Totalitäten der Besonderheit in der zu bildenden Menschgesellschaft untereinander für das Prinzip ihrer Allgemeinheit Geltung verlangen. Die Menschgemeinschaft erweist sich wegen der Unbestimmbarkeit ihrer Prinzipien damit als viel irrationaler als die, im Rahmen ihrer konkreten Besonderheit, bestimmbare Volksgemeinschaft. Die Transformierung der Rechtsgemeinschaft zur juristisch unbestimmbaren Menschgemeinschaft führt vom Wandel der demokratischen Staatsdoktrin hin zur satzungslosen Fellachendespotie.

...und die Einführung der Bundesacht

Das Grundgesetz beinhaltet durch seinen Artikel 18 die Möglichkeit der Aussonderung von Personen aus der Rechtsgemeinschaft. In Artikel 18 konkretisiert es hierzu das Institut der Grundrechtsverwirkung. Durch die Verwirkung von Grundrechten wird die betroffene Person sozusagen entbürgert. Voraussetzung der Verwirkung ist der Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unter Mißbrauch bestimmter Grundrechte.

Diese Bestimmung hat keinen Vorläufer in der deutschen Verfassungsgeschichte. Artikel 18 ist Neuland im deutschen Verfassungsrecht.[22] Seine Existenz läßt sich nur mit der damals bestehenden Situation bei der Gründung der Bundesrepublik erklären.[23] 1949 wurde ein Wiedererstehen der NSDAP noch für möglich gehalten. Um diese zu verhindern, konstituierte man entgegen den hergebrachten Grundsätzen und Vorstellungen von Demokratie einen neuen Typ der demokratischen Staatsform.[24] Einem bestimmten Personenkreis in einer bestimmten Richtung gewährte diese von vornherein keine Grundrechte, weil sie, gemessen an der rechten Gesinnung, als Mißgesinnte angesehen wurden.[25] Um dieser Ratio der Bestimmung des Artikel 139 dauerhafte Sicherung gegen mögliche politische Aktivitäten alter Parteigenossen der NSDAP zu verleihen, wurde mit Art. 18 GG auch für die Zukunft eine jederzeit einsetzbare Waffe zur politschen Befreiung von diesen Mißgesinnten geschaffen. Von welcher Schärfe diese Waffe ist, zeigt sich daran, daß bei Art. 18 GG eine Durchbrechung des Grundgesetzes vom Vorbehalt des Gesetzes vorliegt.

Die Verwirkung von Grundrechten geschieht also nicht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes, sondern durch die Verfassung selbst. Bei einem Verwirkungsverfahren von Grundrechten vor dem hierzu zuständigen Bundesverfassungsgericht handelt es sich deshalb nicht um ein rechtsstaatliches Verfahren, sondern um ein politisches Verfahren. Die 1949 noch für möglich gehaltene Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch Wiedererstehung der NSDAP hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht realisiert. Bis in die jüngste Zeit hinein kam es deshalb nur in zwei Fällen[26] zum Antrag eines Verwirkungsverfahrens beim Bundesverfassungsgericht. Wegen seiner Brisanz handhabt das Bundesverfassungsgericht den Art. 18 GG äußerst restrikriv. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus verlangt es zur Feststellung der Verwirkung der Grundrechte nicht nur den vorherigen Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sondern auch eine gegenwärtige Gefährlichkeit der Betroffenen, die sich auch in Zukunft weiter äußern müsse. Weil dies nicht darstellbar war, nahm der zuständige 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts die beiden damaligen Anträge nicht zur Entscheidung an.

Wegen der restriktiven Anforderungen an die Anwendbarkeit und dem biologischen Aussterben seines ursprünglichen Adressatenkreises schien der darauf folgende jahrzehntelange Dornröschenschlaf des Art. 18 GG ein immerwährender zu sein. Dies änderte sich, als die Bundesregierung am 9. Dezember 1992 gegen zwei Personen beim Bundesverfassungsgericht den Antrag stellte, ihnen die Grundrechte abzuerkennen.[27]

] Wegen der restriktiven Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes dürfte auch diesen beiden Anträgen kein Erfolg beschieden sein.

Der Antrag auf Entbürgerung einer Person ist das elementarste Mittel, mit dem gegen einen individuell Betroffenen vorgegangen werden kann. Wegen der hierin steckenden politischen Brisanz bedarf die Rechtfertigung des Verwirkungsverfahrens genauer Prüfung. Festzustellen ist, daß die Anträge eine wesentliche Neuerung zeigen. Die Anträge richten sich nicht gegen zwei Personen des ursprünglichen Adressatenkreises, sondern gegen zwei Personen, die erst nach 1949 gegründeten Parteien angehörten. Die ursprünglich gegen ehemalige NSDAP-Mitglieder gerichtete Zielsetzung des Art. 18 GG ist damit aufgehoben zu Gunsten einer gegen Mitglieder aktuell tätiger Parteien zielenden Zweckeinrichtung. Im politischen Verfassungsrecht hat sich damit ein gewisser Bedeutungswandel eingestellt, von dem auch unsere Rechtsordnung nicht unberührt geblieben sein kann. Die Hauptwirkung der Verwirkungsverfahren liegt nicht in dem politischen Verfahren gegen die Betroffenen selbst, sondern in der damit verbundenen Abschreckung und Disziplinierung der dieses Verfahren beobachtenden Gruppe.

Es ist wichtig, sich den Wandel der mit Art. 18 GG verbundenen Zielsetzung zu verdeutlichen. Der damit verbundene Sinneswandel des politischen Verfassungsrechts vom Legalitäts- hin zum Opportunitätsprinzip tritt an diesem Punkt deutlich zum Vorschein. Die Abschreckungsmöglichkeit des Instituts der Grundrechtsverwirkung ist unbestreitbar. Durch Aberkennung der Grundrechte gilt der Betroffene in seiner Rechtsstellung zwar nicht als vogelfrei, gerät aber out of law. Er gehört weiterhin zur Rechtsgemeinschaft, kann an deren politischem Gemeinschaftshandeln aber nicht mehr partizipieren, weil er zum hilflosen entbürgerten Objekt geworden ist. Über dessen Bewährung läßt sich jedoch nichts sagen, weil keines der anhängig gemachten Verfahren bislang zu Ende geführt oder mit Erfolg abgeschlossen wurde. Was aber, wenn das nicht praktikable Institut durch unterverfassungsgesetzliche Regelungen abgelöst und ersetzt wurde? Im Zusammenhang mit dem Vorwurf "geistiger Urheberschaft" oder Täterschaft von Volksverhetzung wird immer wieder die Forderung auf Ächtung der betroffenen Personen erhoben. Diese geforderte gesellschaftliche Ächtung einer Person beraubt sie zwar nichtrechtlich, aber faktisch ihrer Grundrechte. Rein juristisch betrachtet ist der heutzutage Geächtete weiterhin im vollen Besitz seiner Grundrechte und voll geschäftsfähig. Da er jedoch mit dem mit § 130 verbundenen Makel behaftet ist, hat er seine Gesellschaftsfähigkeit verloren. In der demokratischen Gesellschaft ist diese Gesellschaftsfähigkeit oftmals viel wichtiger als beispielsweise die Geschäftsfähigkeit.

Der Begriff der Ächtung, wie er sich in der heutigen Zeit wieder durchzusetzen begonnen hat, hat in allen europäischen Rechtskreisen Vorbilder. Dem römischen Recht war der Gedanke der Ächtung als besondere Form der Vollstreckung von Todesurteilen geläufig. Man verstand darunter in der Weise gefällte Todesurteile, daß jedermann, wie er wollte und konnte, zur Urteilsvollstreckung aufgefordert wurde (sog. populare Execution). [28]

Ausgangspunkt der Ächtung als Rechtsbegriff war der Bannbruch. Dieser betraf Fälle, in denen die römische Gemeinde einem Nichtbürger den Rechtsschutz aus persönlichen Gründen entzog und ihm das Wiederbetreten römischen Gebietes für immer verbot und jedem untersagte, ihm Dach, Wasser oder Feuer zu gewähren. Soweit der Ausweisung ein Strafurteil zugrunde lag, wurde dem Verurteilten selbst sowie jedem, der ihm Schutz gewährte, die populare Execution der Ächtung angedroht.[29] Erst später führte man die Strafe der Entziehung des Bürgerrechts in das römische Strafverfahren ein. Der Verlust des Bürgerrechts war keine unmittelbare Strafe, sondern Rechtsfolge der ergangenen Verurteilung eines Staatsverbrechens (perduellio).

Der römische Begriff der perduellio wurde, seit sich die Volkstribunen dieses Rechtsmittels bemächtig hatten, zum Instrument für konkrete politische Situationen, vor allem zur Abwehr der Plebs- und Tribunenfeindlichkeit der Aristokratie.[30] Nach dem Umfang des Verlustes der Rechte unterschied man eine capitis deminutio maxima und media oder minor. Die capitis deminutio maxima wurde verhängt bei der Verurteilung zur Todesstrafe und lebenslänglichen Zwangsarbeit in den Bergwerken (damnatio ad metallum), die media capitis deminutio bei der aequae et ignis interdictio und der Deportation. Beide Strafen zogen den Verlust der politischen, bürgerlichen und Familienrechte nach sich. Außerdem war im älteren römischen Recht mit beiden Arten der capitis deminutio die Strafe der Konfiskation verbunden. Aber während bei der capitis deminutio maxima sich die bestehende Ehe ohne weiteres aufgelöst, konnte im Fall der capitis deminutio media die Ehe mit dem Willen beider Teile fortgesetzt werden. Die Wirkung der capitis deminutio maxima war außerdem die Aufhebung der Rechtsfähigkeit überhaupt, nicht nur des bloßen Bürgerrechts wie bei der capitis deminutio media.

Im Mittelalter taucht die Ächtung in Form der "Friedlosigkeit" und des "bürgerlichen Todes" in den verschiedensten Varianten auf. Die Friedloserklärung erscheint als Zwangsmittel gegen Ungehorsamkeit. Der Täter wird ausgestoßen aus der Lebens- und Rechtsgemeinschaft zu den Tieren des Waldes. Der Friedlose (vargo = wolfsfrei), der sich durch seine Tat außerhalb der Rechtsgemeinschaft gestellt hatte, konnte bußlos von jedermann erschlagen werden. Eine der Friedlosigkeit innewohnende selbstverständliche Folge war es, daß niemand mit dem Friedlosen verkehren oder ihm sonst Beistand leisten durfte, um die Folge der Friedlosigkeit zu beseitigen. Wer es dennoch tat, machte sich selbst strafbar. Die Friedloserklärung ist noch im 18.Jahrhundert in Form der Erklärung des bürgerlichen Todes geltendes Recht.

Erst das moderne preußische Rechtssystem nimmt Abstand von dieser Möglichkeit der Ächtung. Die preußische Strafgesetzgebung um 1800 kennt die Ächtung in Form des bürgerlichen Todes als Rechtsfolge einer Verurteilung nicht mehr. Die späteren Entwürfe zur Schaffung eines preußischen Strafgesetzbuches erklärten sich entschieden gegen die Einführung der Strafe des bürgerlichen Todes, wie sie im französischen Code penal enthalten war.[31] Auch die Frankfurter Nationalversammlung sprach sich für die Abschaffung der Strafe des bürgerlichen Todes aus.[32]

Zu einem Rückgriff auf das Institut der Ächtung kam es erst durch Wiedereinführung des Gesinnungsstrafrechtes während der Zeit des NS-Regimes. Im damals geltenden Willensstrafrecht galt die Ächtung als Strafe für alle Delikte, bei denen der Betroffene gegen die Volksgemeinschaft gehandelt hatte. Da einen von dem Geist der Volksgemeinschaft abweichenden Willen bekundet hatte, war er von dieser für immer ausgeschlossen. Die mit der Ächtung verbundene Aussonderung aus der Gemeinschaft war möglich, weil das die bürgerliche Gesellschaft gestaltende Prinzip der Allgemeinheit im NS-Recht keine Geltung hatte. Folge der Transformation der Rechtsgemeinschaft zur Volksgemeinschaft, bei der die Abschaffung des Prinzips der Allgemeinheit das Rechtsinstitut der Ächtung zum Schutz der Gemeinschaft vor regimekritischen Handlungen wiedereinführt. Die Etablierung von Elementen des Gesinnungsrechts ist der erste Schritt auf diesem Weg, der die Aussonderung von Personen aus der Gemeinschaft durch Ächtung bezweckt. Am deutlichsten tritt dieses Gesinnungsrecht in der Neufassung des § 130 StGB hervor. Eine Verurteilung gemäß § 130 spricht die Ächtung nicht unmittelbar aus. Sie ist aber akzessorische Folge dieser Verurteilung. Der Betroffene verliert hierdurch seine Gesellschaftsfähigkeit, welche in der pluralistischen Gesellschaft lebensnotwendig ist. Nicht der bürgerliche Tod, aber der soziale Tod ist sein Schicksal.

Als Folge der Umwertung der objektiven Wertordnung ist dem mit Ächtung Bemakelten auch der einfache Zugang zum Rechtssystem versperrt. Als Geächteter findet er keine Anstellung, weil er eine "Störung des Betriebsfriedens" darstellt, keine Wohnung, weil hiergegen ein "wichtiger Grund" in seiner Person liegt usw. Die mittels der Neufassung des § 130 betriebene Ächtung von Personen stellt eine unterverfassungs- gesetzliche Regelung zur Aussonderung aus der Gemeinschaft dar. Sie ist keine perduellio im Sinne eines Staatsverbrechens, sondern im Sinne eines heute viel schwerwiegenderen Gesellschaftsverbrechens. § 130 ist kein capitis demnutio maxima, dürfte aber irgendwo zwischen der capitis demnutio media und minor anzusiedeln sein. Ob die Neufassung des § 130 als Einführung der Bundesacht bezeichnet werden kann, wird sich nach der Intensität der Transformierung der Rechtsgemeinschaft zur Menschgemeinschaft bestimmen. Dies werden die rechtshistorischen Lehrbücher kommender Generationen zeigen.


Anmerkungen

  1. Die zeitweilige Erhöhung des Polizeistaatscharakters in europäischen Staaten, in deren Nachbarland sich eine revolutionäre Umwälzung vollzieht, scheint ein allgemeines geschichtliches Phänomen darzustellen. (vgl. Ernst Nolte, "Deutschland und der Kalte Krieg" S. 82).
  2. Jochen Lober, Die Aufhebung des Staates in Partei, Manuskript Dez. 1994.
  3. Josef Schüßlburner, Verfassungsumsturz mit der Volksverhetzungskeule, in: Staatsbriefe 12/94, S. 12 ff.
  4. ganz eindringlich beispielsweise Karl Lackner, Kommentar zum StGB §130 RN 8a, 21. Auflage, 1995; auch Daniel Beisel "Die Strafbarkeit der Auschwitzlüge«, in Neue Juristische Wochenschrift 1995, S. 997 (999); Ronald Dworkin "Krasse Provokationen«, in: Die Tageszeitung vom 17.6.95, S. 13; Horst Meier »Die Auschwitzlüge«, in: Merkur, Heft 12/94. Siehe auch: Klaus Kunze ,"Holocaustglaube und Auschwitzlüge«, in Staatsbriefe 3/92, S. 10 ff.
  5. Wolfgang de Boor, "Bei Angeklagten mit Monaperceptose«, in: FAZ vom 8.5.95, S. 12, Nr. 106.
  6. Eckehard Fuhr "Deutsche Ordnung«, in: FAZ vom 2.5.95, S. 1, Nr. 101.
  7. ohne Angabe, Gerster: Republikaner ein Krebsgeschwür, in: FAZ vom 11.4.95, S. 1, Nr. 83.
  8. ohne Angabe, Lebenswichtige Rolle der freien Presse, in: FAZ vom 6.12.94, S. 5, Nr. 283.
  9. ohne Angabe, Zuverlässige Reflexe, in: FAZ vom 16.12.94, S. 5, Nr. 292; die Berichterstattung der Jungen Freiheit zu dem gegen sie gerichteten Terror findet sich in Ausgabe 50 und 51 von 1994 und Ausgabe 25 von 1995.
  10. zit. nach: Presserat warnt vor Leserbriefen Rechtsradikaler, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 18.5.95, S. 6, Nr. 115.
  11. Klaus Homung "Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts", Berlin 1993, S. 50.
  12. ohne Angabe, Wiesels Kritik abgewiesen, in: Welt vom 11.5.95, S. 2, Nr. 109: .Es müßte eine Atmosphäre geschaffen werden, die es solchen (politisch rechts orientierten) Leuten unmöglich macht zu existieren.«
  13. LG Karlsruhe (21.4.95) AZ IV Kls 1/95 2 AK 1/95
  14. zit. nach: Hans Wolfgang Schmidt, Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Staatsschutzsachen, in: Monatschrift Deutsches Recht 1985, S. 183.
  15. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935, in: RGBI 1. S. 839 § 2: Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.
  16. Zit. nach: Orlet rückt von Deckert-Urteil ab, in: Welt vom 6.5.95, S. 3, Nr. 105.
  17. ohne Angabe, Richter Orlet geht in den Ruhestand, in: FAZ vom 11.5.95, S. 4, Nr. 109.
  18. siehe bspw. Edgar Weiler "Medienwirkung auf das Strafverfahren«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1995, S. 130 ff mwN; speziell zum Mannheimer Schöffenstreik; Andreas Wacke, "Schöffenstreik« - oder Schöffenmut gegenüber Berufsrichtern? in: Neue Juristische Wochenschrift 1995, S. 1199 f.
  19. Otto Kirchheimer "Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken« Frankfurt 1981.
  20. Verhandlungen des Reichstags, Band 457, S. 28.
  21. BVerfGE 7, 198 (205), (Lüth).
  22. Klaus Stern "Das Staatsrecht der Bundesrepub1ik Deutschland" Band 1 § 6 IV 1,2.A.
  23. Zu den Verfassungsberatungen siehe: Werner Matz "Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes«, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts n.F., Band 1(1951), S. 171 ff.
  24. Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20 RN 45 (30. Lieferung)
  25. Herbert Krüger "Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten«, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1953, S. 97 (100)
  26. BVerfGE 11, 282 (Remer); 38, 23 (Frey und Zeitungsverlag)
  27. zur Sache siehe: Hermann Butzer "Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG; Doch eine Waffe gegen politische Extremisten?«, in: Deutsche öffentliche Verwaltung 1994, S. 637 ff.
  28. [fehlt im Original]
  29. vgl. Mommsen "Römisches Strafrecht" 1899, S. 934 f,
  30. Eine technische Bezeichnung der Ächtung findet sich im ordentlichen römischen Strafverfahren nicht (siehe Mommsen, a.a.O., S. 938 Anm. 1).
  31. Otto Kirchheimer »Politische Justiz", S. 54.
  32. siehe: Goltdammer, Materialien, Band 1, S. 116 ff.

Quelle: Teil 1 + 2, Staatbriefe 6(3-4) S. 4-11, und 6(7) (1995), sowie Staatsbriefe - Consiliarien Nr. 1, 1995

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