Buchglossar
GENAUIGKEIT STATT WAHRHEIT
MITTELEUROPÄISCHE BEVöLKERUNGSPOLITIK 1938-1948
Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden; 446 Seiten, Fischer Verlag 1995, DM 48,-
Fritz Arlt: Polen-Ukrainer-Juden-Politik; Askania-Verlag 1995, (Wissenschafdicher Buchdienst Taege, Postfach 1147,31694 Lindhorst), 152 Seiten, DM 24,50
James Bacque: Verschwiegene Schuld. Die Alliierte Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945; 309 Seiten, Ullstein-Verlag, DM 44,-
Begriffe entscheiden Diskussionen. Das Ergebnis jeder Diskussion kulminiert in schlagwortartig gefaßten Begriffen. Der Kerngehalt der Diskussion verdichtet sich so auf ein einziges Wort. Mein die Nennung dieses Wortes kann jede weitere Diskussion erübrigen, weil hierdurch ausgedrückt werden soll, das Thema sei erledigt, für eine weitere Debatte abgehakt. Solche Begriffe dienen zur Orientierung, aber eben auch zur Positionierung bestimmter Meinungen.
In der Diskussion um geschichtliche Ereignisse der jüngsten Zeitgeschichte schien bislang der Begriff "Endlösung" ein solcher diskussionsentscheidender Begriff zu sein. In der Nachkriegsdebatte (Aly, S. 3 97) ist dieser Begriff fast ausschließlich als Planungsbegriff für den Völkermord an ethnischen Minderheiten verstanden worden. Durch diese monokausale Verwendungsweise des Begriffes hatte sich eine Betrachtungsweise etabliert, die den mit der "Endlösung" begrifflich erfaßten Sachverhalt als "System kumulativer Radikalisierungen" (Mommsen) verstand.
Da sich diese Auffassung als herrschende Meinung verfestigt hat, ist deren Hinterfragung immer mit einem gewissen Wagnis verbunden. jeder Neuansatz muß damit rechnen, zuerst mit der feststehenden Lehrdoktrin konfrontiert und verworfen zu werden, wenn er dieser konträr gegenüber steht. Anders kann es nur sein, wenn der Neuansatz nochmals an den Anfang der Diskussion zurückkehrt, das heißt ' zu den Quellen selbst. Aus diesem Quellenstudium kann sich durch die Berücksichtigung neuer Dokumente eine völlig neue Perspektive ergeben, aus deren Sicht der ausschlaggebende Sachverhalt in einem anderen Kontext, die vergangene Diskussion in einem anderen Licht erscheint.
Der Berliner Forscher Götz Aly hat dieses Wagnis auf sich genommen und über die "Endlösung" ein primärquellenorientiertes Buch vorgelegt. Ihm gelingt es, einen bislang nicht gekannten Facettenreichtum und Vielfältigkeit von Planungen aufzuzeigen, die mit dem Begriff der "Endlösung zwischen 1938 und 1941" verbunden waren. Seine sich stringent entwickelnde empirische Untersuchung gipfelt in der Feststellung, daß es "keinen voluntaristischen 'Entschluß' zum systematischen, industriellen Mord an den europäischen Juden" (S. 3 88 f) gegeben habe. Einen "determinierten Vernichtungsplan" (S. 374) habe es nicht gegeben. "Die innere Logik des NS-Staates entwickelte sich in der Spannung großer Veränderungs- und Expansionspläne, instabiler Zwischenlösungen und begrenzten Ressourcen" (S. 374). Er schlußfolgert daraus, daß es nicht angängig sei, die Unterschiedlichkeit des Entscheidungsprozesses nicht zu beachten und leichtfertig vom übergreifenden, internationalen Vernichtungswillen der Beteiligten auszugehen" (S. 390). Die richtige Einschätzung der damals betriebenen Politik "ethnischer Entflechtung" (S. 11) könne sich einzig aus der Berücksichtigung der "totalitären Einheit sogenannter negativer und positiver Bevölkerungspolitik" (S. 375) ergeben.
Die von der deutschen Reichsregierung angestrebte Bevölkerungspolitik war laut Aly ursprünglich darauf angelegt, Minderheitenkonflikte zu lösen. Minderheitenfragen beherrschten "die europäische Politik der 20er und 30er Jahre ununterbrochen", weil das Versailler Diktat ethnische Fehlordnungen in Mitteleuropa verursacht hatte (vgl. S. 47). Die erste Maßnahme zur Klärung dieser Konflikte ist darin zu sehen, daß die reichsangrenzenden Territorien des Sudetenlandes und Restösterreich 1938 dem Reich angeschlossen wurden. Auf die Wiedereingliederung Südtirols verzichtete man, um die Entstehung eines neuen Konfliktes mit Italien zu verhindern. Die Politik der ethnischen "Flurbereinigung" räumte mithin keineswegs immer den deutschen Interessen den Vorrang ein. Inhalt der ursprünglichen Konzeption war, sämtliche zahlenmäßig größeren ethnischen Minderheiten, die nicht dem jeweiligen Staatsvolk als zugehörig empfunden wurden, entweder durch Grenzanpassungen oder Aus- und Umsiedelungen in das entsprechende Herrschaftsgebiet zu verbringen.
Die Korrektur der Pariser Verträge von 1919/20 nach volklichen Gesichtspunkten (S. 46), bezog ganz Mitteleuropa in die deutsche Planung ein. 1938 schlichteten die Außenminister Italiens und Deutschlands die Grenz- und Minderheitenstreitigkeiten zwischen der Tschechoslowakei, Ungarn usw. und legten mit den Wiener Schiedssprüchen die heute noch gültigen Grenzen fest. Im "Einvernehmen mit der Sowjetregierung" (S. 39/85) wurde die Aussiedlung der Balten-, Bessarabien-, Bukowina- und Wolhyniendeutschen aus ihrem Einflußgebiet vereinbart. Im Gegenzug konnte die 1939 in den deutschen Herrschaftsbereich gelangte ukrainische Minderheit für die Sowjetunion optieren.
Angesichts der quantitativen und räumlichen Dimension, die die von der Reichsregierung geplante endgültige ethnische Neuordnung annehmen sollte, ist es nicht verwunderlich, daß hierfür eine eigene Dienststelle eingerichtet wurde. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler, wurde zu diesem Zweck am 7. 10. 39 zum Reichskommissar zur Festigung deutschen Volkstums (RKF) ernannt. Sein Zuständigkeitsbereich beschränkte sich zuerst nur auf die mit der Umsiedlung der Südtiroler verbundenen bevölkerungspolitischen Belange. 1940 wurde der Aufgabenkreis auf alle Umsiedlungsprojekte ausgedehnt, die innerhalb des Reichsgebietes in Angriff genommen worden waren. Im Jahr darauf wurde diese Zuständigkeit auf die besetzten Ostgebiete erweitert.
Hauptorganisator der Auswanderungen und Räumungen war, neben Himmler und Heydrich, Adolf Eichmann. Seine genaue Dienststellenbezeichnung als "Räumungsbeauftragter" (S. 103) war 1940 jedoch ziemlich unklar. Laut dem ersten Geschäftsverteilungsplan des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) hatte er zuerst das Referat IVD 4 (Auswanderung und Räumung) unter sich, das vorher in einer anderen Amtsgruppe als Referat IV R nur für die Räumung in den besetzten Gebieten zuständig gewesen war. Im März wurde sein Referat wieder einer neuen Amtsgruppe (B) zugeordnet. Im November 1941 und im Oktober 1943 wurden die Aufgabenkreise des Referates neu gefaßt. Die ständigen Änderungen der Pläne und Konzeptionen, mit der die in Angriff genommene endgültige ethnische Neuordnung Europas vollzogen werden sollte, verursachte ein ständiges Hin und Her der Zuständigkeit innerhalb der RSHA. Die Unterscheidung in "Nah- und Fernplanung" (S. 128) und der Streit um die konzeptionelle Ausrichtung der Generalplanung Ost, nach völkischen Gesichtspunkten oder volkstumspolitischen Belangen, riefen ein verwaltungstechnisches Chaos hervor.
Die Politik schneller ethnischer "Flurbereinigung" begann im September 1939 in außerordentlich überstürzter, improvisierter Form (S. 45). Macht- und bündnispolitische Zwänge erforderten die kurzfristige Rücksiedlung von 500 000 Volksdeutschen. Die Evakuierung und Einweisung so großer Massen ließ sich nicht "Zug um Zug" bewerkstelligen, so daß die Umsiedlungsfunktionäre des RKF schon Mitte 1940 gezwungen waren, große Sammellager für die deutschen Ostsiedler zu errichten. Mit der Erweiterung des deutschen Herrschaftsraumes vergrößerten sich die Siedlungsmöglichkeiten zwar, vergrößert wurde aber auch der siedlungspolitische Aufgabenbereich. Eine Erleichterung der Durchführung der in Aussicht genommenen Maßnahmen war nicht zu erwarten. Obwohl die Logistiker des RKF durch Fahrplankonferenzen mit Vertretern des Reichsverkehrsministeriums versuchten, die Transportkapazität der Eisenbahn bestmöglichst auszunutzen, verschärfte sich die Lagersituation noch. Die Organisatoren der "modernen Völkerwanderung" hatten sich wider Willen in Lagerverwalter verwandelt (S. 177). Ab dem Spätherbst 1940 saßen Hunderttausende deutsche Umsiedler in Lagern fest (S. 168). Die Situation war so verfahren, daß Eichmann noch 1960 darüber klagte, daß sich alle Um- und Aussiedlungen gegenseitig blockiert hatten (S. 350).
Im März 1941 mußten die Evakuierungen vorläufig gestoppt werden, um wenigstens keine neuen unbewältigbaren Probleme zu verursachen. Zur Unterbringung der in Lagern festsitzenden Volksdeutschen wurde die Planung von Barackenbauten in Angriff genommen, was die Planungsbürokraten des RKF als "Notsiedlung" bezeichneten (S. 246). In internen Verwaltungsschreiben nannte man die deutschen Ostsiedler, denen man eine "großzügige Ansiedlung" versprochen hatte, jetzt recht profan "Lagerinsassen" (S. 176). Die praktische Überwindung der Misere schien vorerst ausgeschlossen, weshalb die Mitarbeiter Himmlers zum Mittel der "Beschäftigungstherapie" griffen. Wenigstens eine "Lagerpsychose" sollte verhindert werden (S. 249). Verhindern konnte dies jedoch nicht, daß viel Umsiedler bald wieder in ihre angestammte Heimat zurück wollten, regelrechte Streiks entfachten und die Ansiedlung in fremden Gebieten verweigerten (S. 320 ff). Der RKF registrierte diese als "böswillige Umsiedler", denen man ihre "Ostwürdigkeit" aberkannte (S. 322).
Teil der allgemeinen Aussiedlungspolitik war die Judenpolitik (S. 106). Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Abläufe waren die Entscheidungen zur Judenpolitik "verwirrend uneinheitlich" (S. 359). Die äußeren Rahmenbedingungen änderten sich beständig, was immer neue Konzeptionen erforderte. Zuletzt hatte man die Endlösung der Judenfrage unlösbar mit dem Endsieg über die Sowjetunion verknüpft (S. 393). Da dieser nicht eintrat, erwuchsen aus dem Ausbleiben der erforderlichen Rahmenlage unlösbare Probleme. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich daraus, daß die Juden sich mit der übrigen Bevölkerung über die Jahrhunderte fraternisiert hatten. Den Ethnokraten des RKF gelang es deshalb nicht, für ihre verwaltungstechnische Einordnung eine geeignete und praktikable Grenzziehung zu finden. Es stellte sich als unmöglich heraus, hinsichtlich der in "Mischehen" lebenden jüdischen Ehepartner und der sogenannten Mischlinge" eine ethnokratische Lösung zu entwickeln, was die vorgesehene Gesamtlösung der Judenfrage in Europa von vornherein ausschloß (S. 363).
Die Juden sollten im Wege der "territorialen Endlösung" zwangsweise an die tatsächliche oder - beginnend mit dem Madagaskarplan - an die gedachte Peripherie der deutschen Einflußsphäre umgesiedelt werden (S. 134). Ursprünglich wollte man hierzu "südöstlich von Krakau" ein "Judenreservat" errichten. Bereits Ende September 1939 hatte man diese Planung zu Gunsten der in Aussicht genommenen Schaffung eines "Reichs-Gettos" im "Raum hinter Warschau und Lublin" aufgegeben (S. 44). Das Generalgouvernement Polen sollte dabei nur vorübergehender Aufnahmeort sein. Mit Errichtung eines "Kolonialreiches Mittelafrika" strebte man eine dauerhafte "insulare Lösung" an. "Der Führer will Madagaskar für Judenunterbringung unter französischer Verantwortung verwenden", notierte Großadmiral Raeder am 20. Juni 1940 zum Ziel der angestrebten Lösung (S. 143). Der ungünstige Kriegsverlauf und das "Hinzukommen der Massen des Osten" machten diese Planung zunichte, wie in einer Studie des RSHA festgestellt wurde (S. 132). Die Umsiedlerfunktionäre des RKF, die mit ihren Planungen zur Umsiedlung der Volksdeutschen schon in Sammellagern und Notsiedlungen versackten, waren auch mit ihrer Aussiedlungspolitik der Juden gescheitert. Als im Januar 1941 die Anordnung zur vorübergehenden konzentrierten Zusammenfassung der Juden in Gettos erging (S. 258), war dieses Scheitern offenbar geworden.
Die Stringenz der Untersuchung Alys bricht Ende 1941 ab, was sicherlich vielerlei Gründe hat. "Die weitere Annäherung" an die Thematik auf dem von Aly beschrittenen Weg erscheint daher als höchst sinnvoll, damit sich die "historische Wahrheit" restlos ermitteln läßt (S. 388). Mit seiner quellenorientierten Untersuchung hat er die unterschiedlichen bevölkerungspolitischen Planungen zur Endlösung anschaulich gemacht, womit die in der Nachkriegsliteratur etablierte monokausale Betrachtungsweise ihre Rechtfertigung verloren haben dürfte. An zwei Ergebnissen seiner Arbeit verdeutlicht er besonders, daß bislang viele Dokumente bislang "offenkundig falsch" (S. 199) interpretiert oder völlig falsch analysiert wurden (S. 389).
Bei dem ersten handelt es sich um einen von Göring am 31.7.41 geschriebenen Brief, mit dem er Heydrich beauftragte, "einen Gesamtentwurf zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen". Laut dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg (Bd. XXVI, S. 11 f) erteilte Göring hiermit den "Befehl" zum Genozid an den Juden. Laut Aly (S. 271/295/307/391) handelte es sich hierbei lediglich um die Beauftragung zur Fertigung einer diesbezüglichen Planungsstudie.
Auch die vorherrschende Meinung über die hohe Bedeutung einer am 20.1.42 am Berliner Wannsee stattgefundenen "Besprechung der Staatssekretäre" muß laut Aly relativiert werden. Das Protokoll der Konferenz vom 20.1.42 spiegele nur den Abglanz eines Diskussions- und Entscheidungsprozesses zwischen den damaligen zivilen, polizeilichen und militärischen Eliten des Deutschen Reichs wider (S. 363). Besondere Bedeutung könne der Konferenz schon deshalb nicht zugebilligt werden, weil sie im Vorfeld aus terminlichen Gründen um Monate verschoben werden konnte. Dies war nur bei unbedeutenden Konferenzen möglich, meint Aly. Aly weist selbst darauf hin, daß seine vorliegende Studie Fragen offen lassen müsse (S. 387), weil Zahlenschwankungen bis zu 50% (s. 59) vorkommen können und Dokumente nur fragmentarisch vorhanden sind. Richtig bewußt geworden scheint er sich dieser von ihm selbst eingeräumten Schwäche der Untersuchung jedoch nicht. An vielen Stellen geht er mit seinen Thesen weit über den Bereich zuverlässiger Analyse hinaus. Kenntlich sind solche Überinterpretationen daran, daß Aly sie einleitet mit "das ist zu vermuten". "davon ist auszugehen" oder "das deutet darauf hin".
Dieses hiervon ihm angewandte retrospektive Verfahren mentalpsychologischer Beweisführung, mittels dessen er sich in die Psyche handelnder Personen einzufühlen versucht, um ihre Gedanken dem Leser als Erkenntnisgewinn präsentieren zu können, ist der auf höchstmögliche Sachlichkeit und Objektivität bedachten ordentlichen Geschichtswissenschaft fremd. Es wirkt auf den Leser wie eine Geisterbeschwörung und sie gipfelt darin, daß Geheimnisse als Tatsachenersatz vorgeführt werden (vgl. S. 331). Befremdlich wirkt auch, das Aly es als große Leistung betrachtet, daß sich die Nachkriegsliteratur eine parteiische Perspektive (S. 95/375) zu eigen gemacht hat. Er selbst weist doch durch seine Untersuchung nach, daß diese Opferperspektive in eine Sackgasse geführt hat. Der Wert von Alys Untersuchung, die in dem quellenorientierten Überblick über den Bedeutungswandel der Endlösung liegt, wird dadurch nicht zunichte gemacht. Deprimierend ist aber die mangelhafte Ausführung der Arbeit im Einzelnen und Spezifischen.
Fritz Arlt, der von Aly wider bessern Wissens als "Vordenker der Vernichtung" bezeichnet wurde, hat über seine für Alys Behauptung ausschlaggebende Tätigkeit als Chef einer oberen Zivilverwaltungsbehörde in den besetzten Ostgebieten eine Autobiographie vorgelegt. Aus Gründen geschichtlicher Genauigkeit wollte er einen derartigen Vorwurf nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen. Mittels einer Sonderstudie (S. 123 ff) weist er zusätzlich auf Oberflächlichkeiten Alys hin und belegt sie durch einen mit ihm geführten Briefwechsel (S. 15 ff). Das von Aly über ihn gezeichnete Phantombild zerlegt er ins Nichts, indem er nachweist, daß Aly gleich drei verschiedene Namensträger als eine einzige Person Arlt sah (S. 140). Durch diese Namensverwechslung erklärt sich wohl auch, warum Aly keinen Unterschied zwischen der Arbeit der Zivilverwaltung und den übrigen Dienststellen (S. 235/365) sehen will. Die These, daß sich dem Leser die sachspezifische Thematik erst durch die Lektüre beider Bücher erschließt, erscheint daher nicht als abwegig.
Arlt war Planer und Entwickler der Abteilung "Bevölkerungswesen und Fürsorge" (BuF) im Generalgouverriement Polen. Die Verknüpfung von Bevölkerungswesen und Fürsorge war verwaltungsmäßig ein Novum. Sinn und Aufgabe der Fürsorgearbeit bestand darin, "eine soziale Situation zu schaffen, die eine ruhige und ordentliche Verwaltungsarbeit garantiert" (S. 32). Hierzu sorgte er dafür, daß die Verbände der polnischen freien Wohlfahrt und der öffentlichen Fürsorge als volksgruppendifferenzierte Selbsthilfeorganisationen restituiert wurden. In welcher Form dies damals geschah, wird durch den Abdruck oder Verweis auf einige entsprechende Dokumente nachvollziehbar gemacht.
Die BuF war durch nachgeordnete Dienststellen in allen Distrikten und Kreisen vertreten. In Sachen Fürsorge und bei Konflikten diente sie als Beschwerdestelle und als Regulativ (S. 35). Durch Vorträge und Informationsschriften übte Arlt damals auf die übrige Gesamtverwaltung einen wirkungsvollen Einfluß aus (S. 38). Er vertrat dabei ein volkstumspolitisch orientiertes Konzept, das auf die Anerkennung und Formierung bestehender und vorhandener Nationalitäten ausgerichtet war. Eine Konzeption, die gegen die vom Reichsführer-SS mit dem Generalplan Ost bis 1943 verfolgte Fremdvolkpolitik durch Germanisierung Osteuropas gerichtet war. Mit der Rückendeckung der Oberpräsidenten Fritz Bracht und Josef Wagner konnte Arlt dieses Gegenkonzept verwaltungstechnisch etablieren und war bei den Volksgruppenvertretern wegen dieser sozialen Arbeit anerkannt (S. 45). Seine Konzeption von Sozialpolitik konnte Arlt in wechselnden Stellungen in der Zivilverwaltung durchsetzen. Nachdem er mit dem Reichsführer SS deswegen mehrmals persönlich aneinander geraten war, (S. 88), verlor er durch dessen Intervention im März 1943 seine Stellung. Zur weiteren Verwendung meldete er sich zur Kampfdivision "Das Reich" an die Ostfront. Die von ihm gestarteten Initiativen und Planungen wurden vorerst zu Gunsten der von Himmler verfolgten Germanisierungspolitik (S. 78) zurückgestellt.
Die Auseinandersetzungen um die Gestaltung der deutschen Ostpolitik hatte 1943 ihren Höhepunkt erreicht und Arlt vorerst sein Amt gekostet. Ministerielle und administrative Funktionsträger stritten zu dieser Zeit intensivst über die Grundausrichtung. Die mit dem Generalplan Ost verfolgte Absicht, daß die Deutschen im Osten als germanisches Herrenvolk auftreten sollten, war von maßgeblichen Kreisen der politischen Führung als Degenerationserscheinung jeden echten Nationalismus erkannt worden. Eine Änderung der in ihren Zielen antinationalen Ostpolitik wurde deshalb von einigen Verantwortlichen mit allen Mitteln angestrebt.
Einige Generäle der SS hielten eine Änderung der betriebenen Ostpolitik damals nur noch durch die Exekution Hitlers herbeiführbar, die sie von Himmler in einer Denkschrift forderten. Hierin wurde festgestellt, daß echter Nationalismus nur zu verwirklichen sei, wenn man das Reich als Grundlage einer völkerrechtlichen und nicht völkischen Großraumordnung aufbauen würde, in der das deutsche Volk nicht als germanisches Herrenvolk, sondern als europäisches Führungsvolk anerkannt sei. In Umrissen wird die Tiefe des um die Klärung dieser Fragen entstandenen Risses in dem von Herbert Taege im gleichen Verlag erschienenen bemerkenswerten Buch "NS-Perstroika" deutlich. Ende 1943 schien es jedenfalls, daß die desaströse Germanisierungspolitik durch eine auf die volkstumsmäßige Anerkennung gerichtete Nationalitätenpolitik überwunden war.
Sichtbarster Ausdruck dieses Wandels war die Umbenennung der "Germanischen Leitstelle" im Hauptamt der SS in "Europaamt" - Die Neuausrichtung ermöglichte die Rückkehr Arlts unter voller Restitution seine Verdienste. Im Juni 44 übernahm er in SS-Hauptamt die Leitung der Freiwilligenleitstelle Ost (S. 105). Damit war er mit der Betreuung und Koordinierung der Interessen der 1.000.000 Ost-Freiwilligen befaßt (S. 111). Hier setzte er durch, daß die osteuropäischen Freiwilligen ihrer Nationalität entsprechend in Divisionen zusammengefaßt wurden. Die vom Chef des RSHA, Ernst Kaltenbrunner, gewünschte Unterordnung der nichtrussischen Nationalitäten unter das Oberkommando der russischen Befreiungsarmee verhindert er damit (S. 116).
Als sich im Februar/März 1945 die militärische Niederlage des Deutschen Reiches abzeichnete, betrieb Arlt weiterhin Nationalitätenpolitik. Er sorgte mit dafür, daß die verschiedenen Nationalitätenkomitees noch den Rechtsstatus von Emigrantenregierungen zugebilligt bekamen, was deren spätere Auslieferung an die Sowjetunion verhindern sollte. Durch persönlichen Einsatz bei den Kommandeuren der Ostfrontabschnitte erreichte er, daß die dort immer noch das Reich verteidigenden Einheiten von Ostfreiwilligen sich bei einer Kapitulation nach Westen absetzen konnten.
Die deutscherseits betriebene integrale ethnische Neuordnung und Nationalitätenformierung ist 1945 an äußeren Sachzwängen gescheitert. Völlig vom Erdboden verschwunden sind die Ergebnisse damaliger Maßnahmen nicht. Die Wiener Schiedssprüche haben im Gegensatz zum Münchner Abkommen heute noch Gültigkeit. Von den Emigrantenregierungen und ihren Vertretern geht mittlerweile ein starker Mythos aus, auf den man sich zu berufen beginnt. Die Slowakei und Kroatien beriefen sich bei ihrer Staatswiedergründung ausdrücklich auf diese kurze staatliche Epoche. In der Ukraine und in Bulgarien werden mittlerweile die ersten Straßen und Plätze nach den Namen der Freiheitskämpfer umbenannt, worauf John Lukacs in seinem letzten Buch über das Aufleben des Nationalismus in Osteuropa hingewiesen hat.
Die von Arlt und anderen verfolgte bevölkerungspolitische Behebung der durch Versailles geschaffenen Unordnung ist nicht spurlos an den Völkern vorbeigezogen. Ihre positiven Aspekte treten heute wieder in den Vordergrund. Zur Person und Arbeit Arlts stellte daher einer der damaligen Nationalitätenvertreter, der ukrainische General Shandruk, in seinen Memoiren fest, daß sich "die ukrainische Gemeinschaft und deren Soldaten immer an seine wichtige Rolle erinnern werde, und diesen feinen Mann dafür ehren werde" (S. 119). Es ist daher zu kurz gegriffen, wenn Aly meinte, die Tätigkeit Arlts und anderer als "Chronologie des Scheiterns" schreiben zu können (S. 95/197).
James Bacque, der mit einer Studie über das alliierte Lagersystem für deutsche Kriegsgefangene bekannt geworden ist, hat mit seinem neuen Buch nun die alliierte Bevölkerungspolitik dargestellt. Bacque fand mit seiner Untersuchung heraus, daß die Alliierten mit ihrer Politik an jahrzehntealte Pläne anknüpften, mit denen sie bereits in ähnlicher Weise ihre Ziele verfolgt hatten (S. 142 ff). Die alliierte Bevölkerungspolitik hatte es deshalb leichter, weil sie mit ihrer desintegrierenden Wirkung nicht mit den Zwängen konfrontiert war, die für die deutsche aus der versuchten integralen Lösung der Versailler Minderheitenkonflikte resultierte.
Die Alliierten hatten die Nahrungsmittelproduktion des Deutschen Reiches eingehend studiert. Ihnen war bekannt, daß sie mit der Abtrennung der "Kornkammer" des Reiches, der an Landwirtschaft reichen Ostgebiete, den Deutschen 25% ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen wegnahmen - während gleichzeitig der größte Teil der männlichen Arbeitskräfte in Gefangenschaft war (S. 104). Hinzu kam die drastische Verringerung der Düngerproduktion von 2 113 000 Tonnen im Zeitraum 1938/39 auf nur noch 782 000 Tonnen in 1945/46 (S. 106). Die Nahrungsmittelversorgung ließ man hierdurch teilweise auf eine Zuteilung von 450 Kalorien pro Tag zusammenbrechen. Durch die niedrige Lebensmittelzuteilung stieg die Sterberate der Zivilbevölkerung um ein Vielfaches an, wodurch der Morgenthau-Plan in demographischer Hinsicht seine Umsetzung fand. Ein Vorgang, der mittels salopper, aalglatter Formulierungen als "günstig" bezeichnet wurde. Der Militärgouverneur der US-Zone, Lucius D. Clay, hieß das Ansteigen der Sterberate sogar willkommen (S. 120). Lebensmittelhilfslieferungen für die Zivilbevölkerung lehnte Clay mit den Worten ab: "Sollen die Deutschen doch leiden " (S. 122).
"Von 1945 bis Mitte 1948 stand einem der wahrscheinliche Zusammenbruch, die Auflösung und Zerstörung einer ganzen Nation vor Augen", zitiert Bacque einen amerikanischen Augenzeugen zu den Auswirkungen der Hungerblockade (S. 102). Keine ausländische Regierung und keine internationale Hilfsorganisation durfte den Deutschen im ersten Nachkriegsjahr helfen. Die Invasoren beschlagnahmten oder schickten so viele Lebensmittel in die Herkunftsländer wieder zurück, daß sich das Internationale Kommitee des Roten Kreuzes im August 1945 veranlaßt sah, Beschwerde einzulegen (S. 173). Von den Protesten unbeeindruckt, vollzogen die Verantwortlichen weiter die Maßnahmen zum geplanten Hungergenozid am deutschen Volk. Die Anzahl der aufgrund dieser Maßnahmen zu Tode gekommenen Deutschen beziffert Bacque auf 5 700 000 (S. 138). Diese Toten sind nicht Bestandteil der bereits bekannten Statistiken über die Toten der Vertreibung und der Kriegsgefangenenlager, sondern sind zu diesen noch hinzuzurechnen. In den ersten fünf "Friedensjahren" starben demnach mehr Zivilisten, als Soldaten in sechs Kriegsjahren umgekommen waren. Die Alliierten machten mit dem Töten nach Kriegsende nicht Schluß, sondern steigerten es (S. 144).
Erst 50 Jahre nach den Vorgängen konnte Bacque die Größenordnungen der damaligen Planungen aufdecken. Daß diese bislang vertuscht werden konnte, liegt seiner Meinung nach daran, daß der Alliierte Kontrollrat damals sämtliche statistischen Erfassungen beaufsichtigte und entsprechend zusammenstellte. Das statistische Bundesamt in Wiesbaden übernahm später diese Zahlen und Statistiken. Die offiziellen deutschen Angaben stammten demnach gar nicht aus deutschen Quellen, sondern wurden schlicht vom amerikanischen Militärgouverneur übernommen, der niedrigere Zahlen gemeldet hatte (S. 13 1). Die 5 700 000 Deutsche, die man nach dem Krieg verhungern ließ, erhöhen die Gesamtzahl der Toten auf 9 300 000 bis 13 700 000. Eine Zahl, die das Blut in den Adern gefrieren läßt.
Die Revision der zu einer Umsetzung des Morgenthau-Planes verwirklichten Maßnahmen setzte ab 1946 ein, als man meinte, auf die Deutschen in der Auseinandersetzung des Kalten Krieges nicht mehr verzichten zu können. Der Initiative des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover ist es zu verdanken, daß ab 1947 erste humanitäre Zielsetzungen die alliierte Besatzungspolitik beherrschten. Bacque weist nach, daß dies von Hoover fast im Alleingang gegen den Widerstand das State Department durchgesetzt wurde, weshalb er von ihm eine verdiente Würdigung erfährt (S. 165 ff). Die alliierte Bevölkerungspolitik hätte noch viel tiefgreifendere Auswirkungen gezeigt, wäre die vollständige Umsetzung des Morgenthau-Plans nicht durch den Tod des Präsidenten Roosevelt in eine gewisse Stagnation verfallen.
Allen drei Autoren liegt die Wahrheit sehr am Herzen. Von ihren unterschiedlichen Standpunkten aus tragen sie zu ihrer Findung ein gutes Stück bei. Alle weisen auf die Gefahr hin, die darin liegen kann, bei ungenauer Quellenlage etwas vorschnell für wahr auszugeben. Aly weist vehement darauf hin, daß "beweiskräftige, schwarz auf weiß überlieferte Urkunden rar" sind und viele, die befragt worden sind, "systematisch logen", weshalb eine "weitere Annäherung an die historische Wahrheit" durch wissenschaftliche Untersuchung erforderlich sei. Bacque liegt die Wahrheit und die hierzu notwendige Genauigkeit ganz besonders am Herzen. Durch seine Untersuchung hat er schließlich herausgefunden, daß bis zum heutigen Tag der am deutschen Volk verübte Hungergenozid durch statistische Manipulationen verschleiert wird, infolgedessen die "Verbrechen Eisenhowers und de Gaulles" unbestraft geblieben sind (S. 202). Bacque sieht in dieser Nichtverfolgung von Unrecht, das im In-Abrede-Stellen der Toten gipfelt, einen Punkt erreicht, wo sich die Frage aufdrängt, ob sich dieser way of life noch verteidigen ließe, wenn die Wahrheit, wesentlicher Bestandteil jeder Demokratie, auf der Strecke bleibt" (S. 209). Von Historikern werden Lügen verbreitet, welche die Verbrecher in Schutz nehmen und die Opfer diffamieren (S. 152). Bacque resümiert: "Die Mörder laufen frei herum."
Götz Aly ist zu seiner Annäherung an die historische Wahrheit durch die Auseinandersetzung mit Fritz Arlt veranlaßt worden, der das Phantombild, das Aly von seiner Person und der damals betriebenen Politik zeichnete, mit souveräner Einordnung der Zusammenhänge und Konflikte widerlegte. Hanno Loewy bemerkte in seiner Rezension der "Endlösung" in der SZ vom 22. 7.95 irritiert, "wie sehr Aly sich nun von seinen früheren Thesen" entfernte. Freilich gibt er sich immer noch verschiedenen Trugschlüssen hin; sollte er jedoch nach dem Erscheinen der Arlt'schen Autobiographie weiterhin an ihnen festhalten, würden sie sich leicht als Betrug an der historischen Wahrheit erweisen.
In der Geschichtswissenschaft geht es darum, Trugschlüsse und Schwindel durch genaue Untersuchung aufzudecken und zu verhindern. Das leisten Methoden, die als Ergebnis Wahrheit hervorbringen. Ihre Voraussetzung ist die Bewegung freien Erkennens. Ist sie nicht möglich, weil vorschnelle Wahrheiten ausgegeben werden, bleibt die Genauigkeit auf der Strecke und die Wahrheit im Dunkeln. Solche Ergebnisse lassen sich nicht nachvollziehen. Sie begründen sich selbst als offenkundig. Das Wahre ist dann nicht mehr das Wirkliche, sondern etwas Fiktives, Wunderliches. Wunderglaube, der sich zur Zeit partiell in der Geschichtswissenschaft auszubreiten scheint, wäre dafür der richtige Begriff.
Wir leben in einer Zeit, die den Begriff der historischen Wahrheit nur zu oft und von vielen Seiten als Mittel der Propaganda oder gar als Waffe mißbraucht hat. Wir sollten ihn deshalb nicht strapazieren, nicht gleich von ihm ausgehen, sondern uns der Genauigkeit hingeben, mit der das Wahre -wie Aly gezeigt hat - auch gegen das erkenntnisleitende Interesse erkannt werden kann.
Jochen Lober
Quelle: Staatsbriefe 7(2-3) (1996), S. 68-72