Buchglossar

KLÄRUNG DES ERNSTFALLES

Gottfried Dietze: Briefe aus Amerika. Befreiende Essays zur deutschen Lage; 107 Seiten, San Casciano Verlag 1995, DM 16.80

Nicht viele, sondern eine Unzahl von Zustandsbeschreibungen erscheint derzeit über den Zustand unseres politischen Gemeinwesens. Entsprechend mißmutig nimmt man derlei Neuerscheinungen mittlerweile zur Kenntnis. Die angebotenen Konzepte haben meist jegliche Bodenhaftung verloren. Vergessen wird allzu oft, daß "das wichtigste für den dauernden Bestand der Staatsform, was wichtiger als alles Sonstige ist, aber trotzdem gegenwärtig überall vernachlässigt wird, eine der Verfassung angemessene Erziehung ist. Die heilsamsten Gesetze, hervorgegangen aus einmütiger Entschließung aller Staatsbürger, fruchten nichts, solange nicht Sorge getragen wird, daß die einzelnen sich in sie hineinleben und im Geiste der Verfassung erzogen werden, demokratisch erzogen werden, wenn die Gesetze demokratisch, und oligarchisch, wenn sie oligarchisch sind." (Aristoteles, Politik IX).

Die Bedeutung der Erziehungsfrage und der Ausbildung der Tugenden faßte Aristoteles in einer kurzen Tatsachenfeststellung zusammen. Das philosophische Denken ist seitdem nicht mehr über die Frage zur Ruhe gekommen, wie das zur Vermittlung zwischen der Regierung und den Einzelnen notwendige Ethos herauszubilden sei. Überlegungen hierzu nimmt man gerne zur Kenntnis, wenn sich in ihnen Theorie mit praktischer Wirklichkeitserfassung zur fundierten Analyse verdichtet. Gottftied Dietze, Ordinarius für vergleichende Herrschaftslehre an der Johns Hopkins Universität, ist ein solcher mit Aufmerksamkeit zu verfolgender Denker. Einige seiner in den Staatsbriefen veröffentlichten Artikel sind jetzt mit einigen anderen als Zwischenstand seiner thematischen Überlegungen der letzten fünf Jahre vorgelegt worden.

Der San Casciano-Verlag, der schon so grundlegende Titel, wie die Arndt-Festschrift Politische Lageanalyse oder die angekündigten Schmittiana (Tommissen, v. Waldstein) verlegt hat, gewinnt zusehends wissenschaftliche Exklusivität.

Die Sorge um die innere Verfaßtheit der Deutschen ist tragender Tenor des Buches. Durch Selbsterniedrigung, die unter Deutschen schlechtweg nicht mehr für Deutsche reden läßt, hat sich eine Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde ausgebreitet, das am deutschen Geist und am deutschen Leibe zehrt und beide hinfällig macht (S. 16). Alles zu referieren, womit dieser Befund verdeutlicht wird, hieße zu weit auszuholen. Geklärt wird dadurch, daß der Verfall unseres Gemeinwesens permanent geworden ist. Er läßt sich deshalb nicht mehr ohne weiteres als Verlust wahrnehmen, weil er zum festen Bestandteil unserer Lebensgrundlage geworden ist.

Anhand der Schilderung des alltäglichen Treibens in einer Fußgängerzone illustriert Dietze den fortschreitenden Verfallszustand: "Immer mehr werde ich im deutschen Städtebild der Bettelei und Verwahrlosung gewahr. Kaum sieht man noch Polizisten auf der Straße, die im kleinen beispielsweise darauf achten, daß in Fußgängerzonen das Verbot des Radfahrens eingehalten wird. Sind sie anzutreffen, sehen sie lieber geflissentlich weg. Andererseits ist die Polizei im großen gehalten, ja nicht allzu streng einzugreifen, sich beim Zugriff eher zurückzuhalten, auf daß der Rechtsstaatsduselei auch da gefrönt werde. Immer mehr sieht man Bettelnde, ob sie nun musizieren oder auf der Straße liegen mit ihren Hunden und Babys." (S. 51).

Auslöser dieses Verfalls ist das Abhandenkommen des den Deutschen eigenen Grundgefühls der Ordnung. Dieses die Allgemeinheit umfassende Gefühl muß gegeben sein, damit Gemeinsames zu Gemeinschaft werden kann. Durch um sich greifende Hitlerkomplexe ist dieses Grundgefühl indessen einem stetigen Auflösungsprozeß ausgesetzt. Eine Problematik, die Dietze schon ausführlicher in seinem im Karolinger-Verlag erschienenen Buch "Der Hitlerkomplex" untersucht hat. Sein neues Buch schließt damit an das vorherige an, da sich an der Thematik nur deren Brisanz verschärft hat.

Das durch den moralischen Rekurs auf Hitler alles im Kampf gegen das Bestehende möglich und gerechtfertigt werden kann, wird scharf herausgearbeitet (S. 21). Die neuen Jakobinertugenden des Antifaschismus, Antirassismus, Internationalismus, Multikulturalismus und Feminismus arbeiten mit dieser Methode und etablieren sich zunehmend. Das allgemeine Grundgefühl der Ordnung wird aufgelöst. Der Einzelne zieht sich aus dem öffentlichen Bereich der Gesellschaft zurück. Die Widerstandshaltung wird zur gesellschaftlichen Grundhaltung, in die sich die Deutschen wegen ihrer Schuldbekenntnisse zum Hitlerregime gefangengegeben haben.

Hauptgrund dieses etablierten Mißstandes ist für Dietze der sittliche Verfall, ausgelöst durch ein aufgeweichtes liberales Grundrechtsverständnis. Die im Grundgesetz formulierten Grundrechte hatte er 1959 noch als gute Balance zwischen der Stabilität der Regierung und den Rechten einzelner empfunden. Dementsprechend hatte er die Konstruktion des Grundgesetzes auch gewürdigt. Die fortschreitend liberalistischen Auffassungen der Grundrechte, die nur noch Ansprüche und nicht Pflichten begründen lassen, wecken in ihm jetzt wachsende Zweifel, die in der Befürchtung des Eintritts eines Notstandes gipfeln (S. 53).

Die Hauptursache für die Krise des Gemeinwesens sieht Dietze im Fehlen einer Nationalerziehung im Sinne Fichtes. Eine Gesellschaft, die die Frage ihres eigenen Fortbestehens von der Erziehungsfrage abgespalten hat, verfällt zwingend in Handlungsimpotenz. Sie kann sich nur noch negativ (über Hitler) definieren. Es kommt zu extremen Störungen des gesellschaftlichen Klimas. Bislang deutlichster Ausdruck dieser Störung waren die bekannten Vorkommnisse um den 8. Mai 1995. Das Umschwindeln der besiegten Flakhelfergeneration zum Mitsieger ist Sinnbild dieser Handlungsimpotenz. Verlierer, die sich zum Sieger umzuschwindeln versuchen, sind nach Hegel "das Böse als solches, Neid, Feigheit, Niederträchtigkeit", und damit bloß widrig, platt und leer. Ein Tatbestand, den ein Franzose, François Mitterrand, so widerwärtig fand, daß er seine Rede zum 8. Mai zu einem Akt höchster Souveränität des Geistes benutzte. Als Vertreter einer ehemaligen Nichtverlierernation forderte er, nachdem er seinen Widerstand gegen die deutsche Vereinigung aufgegeben hatte, schließlich Vergeben und Vergessen!

Eine zur Freiheit erziehende Nationalerziehung ist für Dietze das geeignete Mittel, dem beständigen Verfall entgegen zu wirken. Er schließt hiermit gedanklich zur Höhe auf, die die Deutschen schon einmal während der Freiheitskriege durch Fichte gewonnen hatten. Hauptzweck der Gesellschaft ist danach, die Bildung der Nation schlechthin als solcher und aller ihrer Glieder zur Gemeinschaft (S. 78).

Die erfrischend offen vorgetragenen Gedanken machen die Lektüre des Buches überaus reizvoll. Selbstauferlegte Denkblockaden, die vorzensierenden Scheren im Kopf und ein Menschlichkeitssprech, das das Menschsein nicht mehr zuläßt, sind Gottfried Dietze fremd. Die politischen Legitimationsbegriffe Nation und Reich verwendet er mit einer Selbstverständlichkeit, in die es sich einzuüben gilt. Sein Appell zur Revitalisierung des Gemeinwesens ist von einem Ethos getragen, das wieder allgemein werden muß.

Die Bundesrepublik ist die Staat gewordene Verwaltung des Ernstfalles. Daraus resultierende Sachzwänge selbstauferlegter Handlungsimpotenz, kommen immer mehr Theoretikern vergleichender Herrschaftslehre zu Bewußtsein. So typisierte Wilhelm Hennis vor kurzem den augenblicklichen Zustand unseres Gemeinwesens in vernichtender Weise als Sultanismus.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Die soziale Frage fordert mit kaum gekannter Vehemenz Beantwortung. Mit Ausbleiben des Wachstums des Bruttosozialproduktes steht das Verteidigungsgefüge der Bundesrepublik zur Disposition. Der fünf Jahrzehnte verdrängte Ernstfall ist damit eingetreten. In den sich ausbreitenden wie erfolglosen Bündnissen (für Arbeit etc.) erblickt so mancher Zeitgenosse die Parallele zu den runden Tischen der untergegangenen DDR.

Jochen Lober


Quelle: Staatsbriefe 7(5-6) (1996), S. 71f.


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