JOCHEN LOBER / DER HÜTER DES STAATES

Seid ihr glücklich?
Wir sind mächtig!
Lord Byron

KONJUNKTUR DER STAATSTHEORIE

Es darf wieder nach dem Staat gefragt werden. Der fortschreitende Zerfall des außenpolitischen Status quo hat in diesem Jahrzehnt zu einer erstaunlichen Reaktualisierung dieses, vielleicht etwas vorschnell als klassisch bezeichneten Rechtsgebildes geführt. Denn der revolutionäre Wandel in Europa hat seit 1989 den Staat auf nationaler Grundlage als Subjekt politischer Einheit eines Volkes mannigfaltig rekreiert und revitalisiert. In der politischen Philosophie hat diese faktische Realität eine wahre Konjunktur der Staatstheorie ausgelöst, die sich bislang jedoch mehr quantitativ als qualitativ niedergeschlagen hat. Vor dem Hintergrund dieser Fundierungsbestrebungen erklärt sich auch die große Renaissance, die Person und Werk des zweifellos bedeutendsten Staatsrechtlers dieses Jahrhunderts Carl Schmitt (1888-1985) gegenwärtig erleben.

Wer Staat sagt, hat im gleichen Atemzug Carl Schmitt zitiert. Kein Staatstheoretiker der Neuzeit verband in dem Grade wie Schmitt den logisch-systematischen Zusammenhang mit dem ideengeschichtlichen Denkansatz. Seine 'Iheorien und Begriffe entwickelte er aus den Schriften der politischen Klassiker von Machiavelli bis Rousseau und Sieyes und aus historischen Vorgängen und Regierungspraktiken der souveränen Fürsten des 16. und 17. Jahrhunderts bis zur Staatspraxis des 19. Jahrhunderts. Auf der Grundlage dieser weit ausholenden, sorgfältig konzentrierten Darstellung von Theorien und politischen Ideen, Ereignissen und Gestalten, kategorialisierte Schmitt in synthetischer und induktiver Methodik den Sinnzusammenhang von Ordnung und Ortung. Sein staatsrechtliches Werk ist damit wesensgemäß ein Stück politischer Wissenschaft im besten Sinn.

In beabsichtigter Schärfe hebt sich sein "Begriff des Politischen" von den üblichen Gemeinplätzen und unbestimmten Allgemeinbegriffen ab, mit denen die Theorie der Politik ansonsten ihr Thema zu bestimmen sucht. Das als Merkmal politischen Denkens und Handelns entscheidende Kriterium bestimmte Schmitt in der spezifischen Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Bestimmung ist seitdem Ausgangspunkt hitziger Erörterungen, was die ständigen Neuauflagen seiner Schriften belegen.

Noch heute entfaltet "Die Diktatur" die "Verfassungslehre" und der "Nomos der Erde" dem Leser die spannungsgeladene Tiefe geistiger Auseinandersetzung, in der um die Substanz deutscher Staatlichkeit gerungen wurde. Im Gegensatz zur allgemeinen Staatslehre, die sich nur in gedanklichen Leerformeln (Sollenssätze) und einem relativistischen Gerede über eine "normative Kraft des Faktischen" auszudrücken vermochte, versuchte Schmitt den Typus der rechtsstaatlichen-demokratischen Verfassung systematisch zu entwickeln und positive Geltung zu verschaffen. Schmitt war der Auffassung, daß in der von Georg Jellinek und Paul Laband inspirierten sogenannten allgemeinen Staatslehre kein den deutschen Staat tragendes Konstitutionsprinzip materialisiert worden war. Die allgemeine Staatslehre positiviere eine Spaltung des Staatsgedankens in einen normativen und sozialen Staatsbegriff. Gegen diese auf rein rationalistische Zweckmäßigkeitserwägungen reduzierte Staatlichkeit bezog Schmitt Stellung, weil sie seiner Auffassung nach eine Hingabe des Einzelnen nicht erzwingen könne. Da der Staat nur eine historische Form des Politischen repräsentiere, während das Politische selbst als menschliche Bewußtseinsebene ewig ist, sei die Hingabe des Einzelnen an den Staat nur von Dauer, wenn dieser sein Gebiet befrieden und der Ordnung einen Sinn geben könne.

Die Holzwege der deutschen Staatslehre hat Carl Schmitt niemals beschritten. Gerade deswegen ist er in der heutigen Zeit wohl auch so aktuell; einer Zeit, in der ein neues Raumgleichgewicht und neue suprantionalen Freundschaftslinien gefunden werden müssen. Die hohe Bedeutung des Staates, die auf seiner Rechtsverwirklichungs- und Ordnungsfunktion beruhte, hatte Schmitt wie kein anderer erkannt. Schon frühzeitig hatte er aber auch die Gefährdung dieser Funktion des Staates erkannt, die mit Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine prinzipienlose, neutralisierende Staatslehre und dem Entstehen neuartiger Machtkomplexe ausgelöst worden war. Die Erkenntnis um diese Krisenbefangenheit des deutschen Staates führte ihn von der allgemeinen Staatslehre zur Verfassungslehre, in der er den Typus der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung systematisch entwickelte. Die Besprechung der hier vorzustellenden Werke von und über Carl Schmitt soll dazu genutzt werden, diesen Hüter des Staatsgedankens in Person und Positionsnahmen zu beleuchten.

KAMPF GEGEN PLURALISMUS UND PARTEIENSTAAT

Im kritischen Augenblick, in dem der Reichspräsident 1932 als Hüter der Verfassung die Verfassung gegen einen neutralen Mehrheitsfunktionalismus zu verteidigen hatte, trat die von Schmitt prognostizierte Krise des Staates offen zutage. Die innerstaatliche Lage bezeichnete er deswegen damals staats- und verfassungsrechtlich als "Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates".[1]

Gegenüber den Totalitätsansprüchen der Parteien erwies sich die staatliche Ordnung als gefährdet und auf Dauer zu schwach. Aus diesem Grund entwickelte Schmitt das erforderliche begriffliche Instrumentarium, mit dessen Hilfe Reichskanzler Schleicher das Verbot der republikfeindlichen Parteien im Januar 1933 begründen wollte. Beim Reichspräsidenten scheiterte er jedoch mit der Forderung nach einem Verbot und der militärischen Zerschlagung von NSDAP und KPD, weil man diesem ein falsches Verständnis von Legalität insinuiert hatte.

Die Stagnation des Zusammenbruchs nutzte Anfang 1933 bekanntlich die NSDAP, um die Weimarer Verfassung durch ihr Regime zu ersetzen. Daß Schmitt zwischen 1932-36 in wechselnden Funktionen in die Konfrontation dieses Wandels eingebunden war, ist hinreichend bekannt. Weniger bekannt ist bislang noch, inwieweit Schmitt gegen den sich 1932 abzeichnenden und 1945 endgültig realisierenden staatlichen Zusammenbruch Stellung bezog. Zuerst auf Seiten der Präsidialregierung stehend, trat er für ein Verbot der staatsfeindlichen KPD und NSDAP ein. Nachdem sich diese Möglichkeit nicht mehr realisieren ließ, versuchte er nach 1933 die obsiegende Bürgerkriegspartei quasi "in Verfassung" zu bringen.[2] Seine ursprünglich gegen die totalen Parteien gerichtete programmatische Formel vom "totalen Staat" modifizierte er hierzu dahingehend, daß nunmehr die totalitäre NS-Partei förmlich in den Staat hineingequetscht werden konnte. Durch Mobilisierung weiterer theoretischer Gegenmittel versuchte Schmitt der nationalsozialistischen Partei die fehlende politische Reife injizieren.[3]

Andreas Koenen[4] hat diesen zwischen 1932 und 1936 liegenden politischen Fundierungsversuch zum Gegenstand einer kompakten Untersuchung gemacht. Formales Gerüst der Untersuchung bilden zwei Hauptthesen, denen jedoch nicht gefolgt werden kann. Es stimmt einfach nicht, Schmitt sowohl als Kronjuristen des Dritten Reichs[5] als auch als "Reichstheologen" zu bezeichnen. Trotz unklarer Linienführung besitzt Andreas Koenens Arbeit aber genügend Niveau, was eine Auseinandersetzung erlaubt. In bislang nicht gekanntem Ausmaß schildert Koenen Schmitts damaliges soziales Umfeld und die Motive, aus denen seine Initiativen ihre Dynamik entwickelten. Koenen breitet eine Unzahl materialer Fakten aus, die anschaulich machen, auf welche Weise die widerstreitenden und sich gegenseitig durchdringenden geistigen Strömungen damals miteinander verwoben waren.

In seiner Untersuchung ist Koenen keinem Menuevorschlag aus der bekannten Konstanzer Küche gefolgt, so daß seine Arbeit durch deren Dämpfe auch nicht verschwefelt ist. Das von ihm ausgewertete Material belegt, entgegen der Hauptthese, daß Schmitt zwischen 1933 und 1936 keineswegs die formale Position eines Kronjuristen inne hatte. Im Jahr seines Sturzes verfügte Schmitt zwar über verschiedene hochschulpolitische Ämter und war Herausgeber der einflußreichen Deutschen Juristenzeitung. Die damit ermöglichte öffentliche Einflußnahme hatte jedoch keinen offiziellen Charakter, weil sie von keiner ministeriellen oder parteilichen Dienststelle getragen wurde. In der um sich greifenden polykratischen Struktur des totalitären Regimes hatte Schmitt eine überparteiliche Position gewahrt und sich jeder allzu engen Einbindung entzogen. Seinen Freiraum nutzte er ausgiebig, um sein dreigliedriges Ordnungsmodell von Staat, Bewegung und Volk zu propagieren. In der rechtspolitischen Auseinandersetzung erwies sich diese "preußische Konzeption" (S. 514) dabei als überlegen, wodurch er seinen Einfluß weiter ausweiten konnte. Durch Ernennung zum "Preußischen Staatsrat" und Beteiligung an dessen gesetzgeberischen Arbeit konnte Schmitt im Reichstatthaltergesetz und preußischen Gemeindegesetz 1933 die ersten praktischen Grundlagen für den Einbau der Partei in den Staat setzen.

Die NSDAP hatte Anfang 1933 zwar die Macht übernommen, das entstandene Machtvakuum jedoch nicht zu reorganisieren vermocht. Weder personell, noch theoretisch waren ihre Funktionsträger darauf vorbereitet gewesen, die tragenden Positionen des Staates zu besetzen. In dieser revolutionären Umbruchssituation sah Schmitt die Chance, die amorphe Masse der obsiegenden Bürgerkriegspartei in politische Form zu bringen. Dieser Herausforderung stellte er sich damals, ohne sich das Theorem der Volksgemeinschaft zu eigen zu machen. Die auf politischer Genossenschaft aufbauende Volksgemeinschaft lehnte er ausdrücklich als apolitisch ab und bekämpfte sie ihres destruktiven Ansatzes wegen vehement. Dies mußte den altgedienten Parteigenossen verdächtig, zumindest aber suspekt erscheinen. Selbst als er wegen seiner Aktivitäten unter Beobachtung der SS geriet, veranlaßte ihn dies zu keiner Zurückhaltung. Schon rein äußerlich stach sein oppositionelles Verhalten den parteibraunen Herren wie ein Dom ins Auge. Bei offiziellen Veranstaltungen erschien Schmitt stets in katholisch schwarzem Anzug.

In umfassender Weise belegt Koenen, daß Schmitt weder vor noch nach 1933 Kontakte zur NS-Partei pflegte. Seine Option für den starken Staat, die schon 1932 feststand, versuchte er nach 1933 unter gewandelten Vorzeichen durch eine konsequent geführte "Einrahmungsstrategie" (S. 797) praktisch durchzusetzen. Als instrumentales Mittel fungierte hierbei das Konzept vom "Totalen Staat", mit dem er schon vor 1933 auf eine überparteiliche Lösung der Verfassungskrise abgezielt hatte. Bis 1936 hatte Schmitt hierzu einige erfolgversprechende Initiativen gestartet und eine Stellung erklommen, die ihm weitreichende Einflußmöglichkeiten verschaffte. Zum Kronjuristen des Dritten Reichs war er damit aber nicht avanciert. Zwischen 1933 und 1945 war diese Titulierung vielmehr das geheime Erkennungszeichen seiner Gegner: SS und Pro-domo-Juristen. Um so verwunderlicher ist es daher, daß Koenen die These, das Schmitt Kronjurist des Dritten Reichs gewesen sei, nicht ausdrücklich verwirft. Entgegen der von ihm selbst vorgelegten Fakten hält er hieran bis zum Schluß fest. Der Widerspruch zu den von ihm selbst präsentierten Fakten ist ihm offenbar nicht ganz bewußt geworden.

"Reichstheologe" sei Schmitt gewesen, lautet die zweite tragende These Koenens. Die Reichstheologie sei die geheime Verbindung zwischen Schmitts "Politischer Theologie" und seines zeitweiligen Gebrauchs des Begriffs "Reich" als neuer Konkretion politischer Ordnung. Daß dieser abendländisch-reichstheologische" Begriff (S. 453/816) den Zugang zu Werk und Person erschließt, erscheint etwas zu weit gegriffen. Daß der häufige Gebrauch des Begriffs zuvörderst daraus resultieren könnte, daß der Deutsche Staat damals als Deutsches Reich bezeichnet wurde, woraus entsprechende institutionelle Benennungen folgten, berücksichtigt Koenen nicht ausreichend. Hinter Schmitts Reichsbegriff verbirgt sich zwar auch eine viel tiefergehende Vorstellung. Zu diesem metaphysischen Horizont einer sich zwischen Potestas und Auctoritas entfaltenden Respublica Christiana ist Koenen allerdings nicht vorgedrungen, weil er vorschnell meinte feststellen zu müssen, daß Schmitt 1933 von einer "metaphysischen Naherwartung auf das Reich" (S. 216) ergriffen worden sei. Beweise für diese Behauptung bleibt er schuldig. Dem Leser bleibt deshalb nicht verborgen, daß Koenen mit seiner Begriffsakrobatik nur dem selbstgestellten Problem auszuweichen versuchte, Schmitt andernfalls als Katholiken, Konservativen, Nationalisten etc. schubladieren zu müssen. Daß Schmitt in keine dieser Schubladen paßt, weil er stets ein eigenständiger Denker blieb, war Koenen offenbar nicht kreativ genug.

REICH UND GROSSRAUM

In der Faktizität der Entwicklung hat es sich Anfang der vierziger Jahre erwiesen, daß der Staat als allein maßgebendes Subjekt der politischen Einheit eines Volkes überholt war. Die damals bekanntesten Verfassungstheoretiker versuchten deswegen die völkerrechtlichen Ordnungsprinzipien nicht mehr ausschließlich am Staat, sondern auf überstaatlicher, supranationaler Ebene am "Reich" festzumachen.

Diese Debatte hat Mathias Schmoeckel[5] zum Gegenstand einer bahnbrechenden Untersuchung gemacht. Schmoeckel entfaltet darin einen Überblick über die verschiedenen Hauptströmungen der völkischen, etatistischen und geopolitischen Völkerrechtstheorie. Zusätzliche Substanz gewinnt die Untersuchung damit, daß sie immer wieder auf den Inspirator dieser Debatte, Carl Schmitt, zurückkommt. Der Autor verdeutlicht damit, daß sich die von Schmitt entwickelte Großraumtheorie auf zwei Hauptmotive zurückführen läßt. Einerseits formulierte Schmitt damit ein neues völkerrechtliches Ordnungsmodell, in dem der Staat nicht mehr höchster Träger der Souveränität war (S. 105). Andererseits versuchte er, mit der Theorie vom "Großraum" dem völkischen Ideologem des "Lebensraumes" eine substanzhafte Rezeptionsmöglichkeit unterzuschieben. Daß dieser Widerspruch zur offiziellen Außenpolitik damals bemerkt wurde, illustriert beispielhaft ein Verriß aus den Nationalsozialistischen Monatsheften: "Wie immer bei diesem Verfasser: man kann die Geistesschärfe und Ideenfülle der Ausführungen nicht leugnen - sie geben viele Anregungen für eine neue Betrachtung -, aber sie können doch dem nationalsozialistischen Denken nicht weiter helfen (Vgl. S. 141)."

Schmitts Vorschlag einer "Völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte" läuft im Ergebnis auf ein Modell gestufter Völkerrechtssubjektivität hinaus. Bezüglich der gestuften Völkerrechtssubjektivität von Staaten bleibt Schmitts Modell in der europäischen Geschichte der Neuzeit ohne direktes Vorbild (S. 275). Angesichts der "mächtigen Dynamik der außenpolitischen Entwicklung", d. h. der Entwicklung Deutschlands zu einer "starken, unangreifbaren Mitte Europas", vermutete Schmitt damals, könne dem Deutschen Reich die Reichsqualität zuwachsen, die Führung des europäischen Großraums zu übernehmen. Für die weitere Klärung der Großraumtheorie, so Schmitt, sollte aber zuerst abgewartet werden, zu welcher konkreten Großraumbildung die Entwicklung führe.

Grundlage jeder Großraumordnung, führte Schmitt aus, sei jedenfalls das völkerrechtliche Ordnungsprinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker (S. 43). Da dieses von der damaligen europäischen Außenpolitik beständig mißachtet wurde, kam es zu keiner Herausbildung eines europäischen Großraumes. Von den Vertretern der etatistisch und völkisch orientierten Völkerrechtsschulen wurde die Schmitt'sche Großraumtheorie zwar ausgiebig diskutiert, infolge mangelnden Problembewußtseins jedoch nur ungenügend reflektiert. In beiden Schulen hingegen ist der beherrschende Einfluß Carl Schmitts festzuhalten. Soviel er kritisiert wurde, sowenig wurde auch nur ein eigenständiges Großraumkonzept erarbeitet. Es finden sich lediglich modifizierte Adaptionen, wobei es gerade die Modifikationen sind, die oft zur inneren Widersprüchlichkeit führen" (S. 238).

BRUCH UND KONTINUITÄT

Durch den Zusammenbruch jeglicher staatsgebundenen Ordnung konnte mit dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg 1945 die existenzielle Gesamtentscheidung eines Volkes, der letzte nicht hinterfragbare Geltungsgrund nationaler Subjektswirklichkeit aufgehoben werden.[6] Was die deutsche Staatsrechtslehre im klassischen Sinn unter Staat verstand, war damit nicht mehr vorhanden. Nach Schmitts Auffassung war der Staat damals im klassischen Sinn gestorben. Die Kategorien seiner Verfassungslehre sind damit nicht mehr anwendbar, weil der Gegenstand, den sie beschreiben können, nicht mehr existent und in den heutigen Staatsgebilden bestenfalls fragmentarisch als Pseudomorphose weiterlebt.

Der heutige Staat beruht nicht mehr auf einer verfassungsgebenden Gewalt, nicht mehr auf einer "Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit", wie es Ernst Forsthoff für die Bundesrepublik behauptet hat: "Das Grundgesetz ist nicht das Ergebnis einer politischen Entscheidung, sondern das Produkt einer Lage, genauer eines Zustandes beispielloser Schwäche als Folge der Verwüstungen des verlorenen Krieges."[7]

Schmitt zog sich 1945 teils freiwillig, teils unfreiwillig aus der öffentlichkeit zurück. Auslöser dieses Abtauchens waren gegen seine Person gerichtete Kampagnen, deren Parteigänger allesamt in den Fußstapfen marschierten, die die SS schon gegen ihn ausgetreten hatte. In skurrilen Abwandlungen benutzten die Wortführer dieser Kampagnen dieselben Vorwürfe, mit denen die SS schon 1936 gegen ihn intrigiert hatte. Das Ausmaß an geistiger Unbedarftheit, mit dem Schmitt damals konfroniert wurde, war wohl zuviel der Peinlichkeiten. Weil ihm die Öffentlichkeit genommen war, wählte er für sich die Sicherheit des Schweigens. Warum sollte er auch weiterhin öffentlich theoretisieren? Seine bis dato erschienenen Veröffentlichungen waren doch nicht einmal ansatzweise begriffen worden.

Dirk van Laak[8] hat bereits in einer grundlegenden Untersuchung gezeigt, daß es sich um ein sehr lautstarkes Schweigen von Carl Schmitt in der frühen Bundesrepublik gehandelt hat. In welchem Umfang Schmitt weiterhin das Geschehen verfolgte und sich daran beteiligte, wird nun anhand seines Briefwechsels mit Armin Mohler deutlich.[9] Zum Kontakt zwischen beiden kam es 1948, als Mohler Material für seine Dissertation über das von ihm ausgemachte Phänomen der Konservativen Revolution suchte. Aus diesem Kontakt entwickelte sich eine über Jahrzehnte dauernde Bekanntschaft. Die professorale Sorgsamkeit, mit der sich Schmitt der Unterstützung des jungen Doktoranden Mohler annahm, gestattet einen Blick auf seine private Seite, die ansonsten hinter der Dichte seiner Veröffentlichungen nicht wahrzunehmen ist. Seine eigene Rolle in dieser Beziehung beschreibt Mohler als die eines Schülers. Da Mohler einen konservativen Sonderweg beschritten hat, der die theoretischen Positionen Schmitts nicht reflektiert, ist es sicher nicht falsch, dieser Selbsteinschätzung zu widersprechen. Dies soll aber auch nicht heißen, daß Mohler zu dem Getümmel von Schmittologen und Carlchen Schlau's gezählt werden kann, für das Schmitt nur eine Antwort übrig hatte: Meiner Gläubiger sind viele; Gläubige habe ich nie gemocht und nie gehabt. (S. 403).

Dem Außenstehenden entfaltet die Lektüre des Briefwechsels einen Einblick in Schmitts private Gegenwelt zum offiziellen Nachkriegsdeutschland, zu der unbefugte "Verfolger" keinen Zutritt hatten. Im zwanglosen Dialog mit seinem Briefpartner entwickelte Schmitt hier fast spielerisch seine Gedanken. Unvermittelt blitzt hierbei Schmitts eigene Fähigkeit assoziativen Denkens auf, die tagespolitischen Meldungen und Ereignisse auf den Punkt zu bringen vermag. Als Mohler beispielsweise eine Anfrage Axel Springers über die rechtlichen Möglichkeiten einer Verlegung der Bundesregierung von Bonn nach Berlin an Schmitt übermittelte, zeigt sich in seinen gutachtlichen Gegenfragen ("Wer soll sie auffordern?", "Mit welchen Methoden oder in welchem Verfahren?", "Wozu soll im Ernst aufgefordert werden?"), daß seine juristische Kombinationsfähigkeit nichts von ihrem Scharfsinn verloren hatte (S. 362). Die Korrespondenz lebt hauptsächlich von Schmitts Beiträgen.

Die Korrespondenz bricht fünf Jahre vor Schmitts Tod ab. Schon in den späten sechziger Jahren hatten sich jedoch erste befremdliche Untertöne verdichtet (S. 399/408). Durch die Verschiedenheit der beiderseitigen Interessensgebiete scheint eine gewisse Sprachlosigkeit hervorgerufen worden zu sein. Ein Beleg dieser Entfremdung ist Mohlers kühne These, daß Schmitt sich vom Christentum gelöst hätte.[10] Gestützt hatte er diese erstmals 1986 auf einer Tagung vorgetragene Behauptung auf seinen damals noch unveröffentlichten Briefwechsel mit Schmitt.

Aus der Lektüre erweist sich diese damals schon mit Verwunderung aufgenommene Behauptung als Mißverständnis Mohlers. Schmitt hatte gegenüber Mohlers zwar des öfteren recht spöttische Bemerkungen über die Kirche gemacht und im Anschluß an Vaticano II. das hohle Schnattern kirchlicher Organe beklagt (S. 407). Hier herein eine Lösung vom Christentum zu deuten, geht aber entschieden zu weit. Angesichts Schmitts säkularen Apotheosen des römischen Katholizismus in seiner imperialen und triumphalen Größe liegt in seinen teils verächtlichen Bemerkungen über den Zustand der Kirche keine Verwerfung des Christentums. Er kritisierte nur, daß Vaticano II. den großen Blick auf die Tradition und Universalität des Katholizismus verloren und den Papst mit einem Päpstchen vertauscht hatte. Die Kirche protestantisch, das heißt national und beschränkt geworden war. Schmitts Kritik spiegelt also nur seine zutiefst katholische Erfahrung wider.

Felix Grossheutschi[11] hat unter dem Titel "Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon "eine Arbeit vorgelegt, die ein wenig Licht in das Dunkel von Schmitts Katholizismus zu bringen vermag. Die darin behandelte Lehre vom Kat-Echon ist einer der Hauptpfeiler von Schmitts Politischer Theologie. Nach eigenen Angaben hatte Schmitt bereits 1932 eine Theorie des Kat-Echon aufgestellt, die er in der Auseinandersetzung mit dem christlichen Theologen Erik Peterson entwickelt hatte. Verwendet hat er den Begriff in seinen Publikationen jedoch erst zehn Jahre später.

Mit der Theorie vom Kat-Echon assoziert Schmitt institutionelle und personelle "haltende Mächte", die den Bürgerkrieg von der Menschheit abwenden und das Ende der Welt aufhalten. Als haltende Mächte sieht er dabei sowohl das Imperium Romanum als auch die römische Kirche. Aber auch Rudolf II., Hegel und Savigny weist er die Funktion von Aufhaltern zu. Nach Schmitt haben sie alle auf ihre spezifische Weise das Alte zerstört, haben Neues errichtet und zugleich doch das römische Erbe weitergeführt.

Ausgehend vom Ursprung der Lehre vom Kat-Echon im zweiten Thessalonicherbrief, zeigt Grossheutschi die Grundzüge der verschiedenen theologischen Interpretationen auf, die dieser neutestamentarischen Stelle durch die Jahrhunderte gegeben worden sind. An den geschichtlichen Überblick schließt sich im zweiten Teil seiner Arbeit eine Einzeldarstellung der Schriften an, in denen Schmitt sich explizit über den Kat-Echon geäußert hat. Die entsprechenden Stellen werden von Grossheutschi erläutert und in den Gesamtzusammenhang des Werks eingeordnet. Recht oberflächlich fällt jedoch die abschließende Analyse aus. Der Grund dafür führt an den Ausgangspunkt der Arbeit zurück, an dem Grossheutschi die Frage nach der Echtheit des Thessalonicherbriefes ausdrücklich für belanglos erklärt (S. 11). Gerade an diesem Punkt kann einer Entscheidung aber nicht ausgewichen werden, weil Schmitts ganzes Katechonverständnis die Echtheit dieser den Feind der Menschheit ankündigenden Stelle voraussetzt.

Der Hinweis Schmitts auf die eschatologische Bestimmtheit der haltenden Mächte harrt also weiterhin der Nutzbarmachung. Ob dem römischen Katholizismus ein politisches System affin ist und gegebenenfalls welches oder welche, ist zweifelsohne eine Frage, vor der man zurückschrecken kann. Sie gar nicht mehr zu stellen, führt aber dazu, daß sich die Erwartungen des Lesers an die Arbeit Grossheutschis nur "zum Teil erfüllt haben" (S. 121). Und dies liegt nicht am mangelnden Begriffsverständnis Schmitts, sondern an dem nicht erschöpfenden Bewußtseins der eschatologischen Bedeutung der Lehre vom Kat-Echon seitens Grossheutschis. Daß Grossheutschi in bezug auf das römische Imperium beständig von Staat spricht, unterstreicht diese Feststellung nur. Seine Arbeit wäre als Einführung in die Lehre vom Katechon besser betitelt worden.

SCHMITTIANA: BAUSTEINE DES WISSENS

In Bezug auf die CS-Forschung kann man ein berühmtes Schmitt-Zitat abwandeln: Souverän ist, wer über den Überblick über die Veröffentlichungen verfügt. Über Werk und Person Carl Schmitts ergießt sich nämlich seit geraumer Zeit eine wahre Flut zitatenverschnipselter Tertiärliteratur. Zweifellos ein bibliographischer Souverän der Schmitt-Forschung ist Piet Tommissen.[12] In den von ihm herausgegebenen Schmittiana finden sich regelmäßig die neuesten Forschungsergebnisse, unveröffentlichte Dokumente und Inedita von und über Schmitt. Der fünfte Band der Reihe setzt diese Tradition fort.

Als veröffentlichte Inedita sind Schmitts Ansprache zu seinem fünfzigsten Geburtstag, in der er über seine "Schwäche, meine Neugierde, Begeisterungsfähigkeit, die Fähigkeit, sich betrügen zu lassen" (S. 11) offenherzig spricht, und der nicht vollständige Briefwechsel mit Wilhelm Stapel zu nennen. Bemerkenswert sind auch die von Tommissen selbst zusammengetragenen Bausteine, die einzelne Stationen der Vita des Gelehrten beleuchten (S. 151 ff.). Bereits zum drittenmal verschafft Tommissen damit einen vertiefenden Überblick über einzelne Aspekte des breitgefächerten Wirkens von Schmitt. Diese Fundamentbausteine des Wissens wird ein künftiger Autor der Wissenschaftsbiographie über Schmitt mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen. Folgende Themenkomplexe werden in den Bausteinen diesmal beleuchtet: Plettenberg (S. 152), Greifswalder Intermezzo (S. 15 8), Kieler Referat (S. 159), Gespräch über die Macht (S. 169), eine Hypothese (S. 176), europäische Rechtswissenschaft (S. 182), Barcelona (S. 190), Kollegen (S. 204),

Die CS-Forschung hat bislang in vielen wichtigen Einzelpunkten noch keine ausreichende Klärung der Chronologie, Motivation und der Zusammenhänge erreicht. Das von Dirk van Laak[13] veröffentlichte "Nachlaßverzeichnis Carl Schmitt" dürfte diesem Mißstand auf Dauer Abhilfe verschaffen. Der bibliothekarische Überblick über die von Schmitt archivierten Materialien und Arbeitsmappen macht diese für die Forschung zugänglich. Schon in dem Personenverzeichnis des Nachlaßverzeichnisses zeigt sich eine außergewöhnliche Bandbreite von Schmitts Kontakten. Aus den Briefwechseln mit Ernst Jünger und Hans Barion dürften sich sicherlich noch interessante Neuigkeiten ergeben.

Der gerade teilveröffentlichte "Briefwechsel zwischen Hugo Ball und Carl Schmitt" bietet leider kaum Einblick in deren Beziehung. [14] Der Scharfsinn des Hasses, mit dem Ball gegen die protestantische Intelligenz anschrieb, der noch durch die Maßlosigkeit seiner imponierenden Ausfälle gegen Kant, Hegel und Nietzsche gesteigert wurde, ist aus dem Briefwechsel nicht ersichtlich. Daß Balls Kritik der deutschen Intelligenz[15] bei dem Katholiken Schmitt auf lebhafte Zustimmung stieß und in der Politischen Romantik grundlegend reflektiert ist, läßt sich nur aus deren Veröffentlichungen nachvollziehen. Ball und Schmitt waren darin einig, daß die Fehlentwicklung des deutschen Staatsbegriffs durch ein protestantisches Staatsverständnis ausgelöst worden war.

Was beide an Deutschland verzweifeln ließ, war dessen hinterwäldlerisches Germanentum, "war der verwilderte Doktor Faust, die martialische Totenmaske einer erschöpften Theokratie" (S. 235). Ausgehend von mittelalterlichen Mystikern und Thomas Münzer entwickelte Ball eine anarchistische Ideengeschichte als Gegenbewegung zur Reformation und deren Folgen, die in einer utopischen Vorstellung vom Reich gipfelte. Daß Schmitt in seiner politischen Theologie ein gegenläufiges Konzept entwickelte, stand dem beiderseitigen Interesse nicht im Wege. Die von Ball angemahnte "Geschichte des Machiavellismus in Deutschland" (S. 233) schrieb jedoch allein Schmitt. Sowohl in seinem Werk als auch in Person in seiner späteren Heimstätte in San Casciano.

Den 1913 unter dem Pseudonym Dr. Johannes Negelinus veröffentlichten" Schattenrissen" ist es bis heute nicht gelungen, Allgemeingut aller Gebildeten zu werden. Ingeborg Villinger[16] hat diese wohl witzigste Veröffentlichung Schmitts in einer staunenswert gründlichen Edition wieder zugänglich gemacht: 260 Seiten Kommentar und Analyse zu 60 Seiten Text! In ihrer satirischen Durchtriebenheit ist diese Kritik des sich selbst betreibenden Kulturbetriebes der Moderne herzerfrischend.

Die Phrasen und Floskeln seiner Zeit wußte Schmitt virtuos zu imitieren und als "Buribunkologie" zu dadaisieren. Die "Kräfte", "Wollungen" und "Leitsterne" aller Kulturen, die Johannes Negelinus "zum Wohle und Gedeihen allseitiger Geistesfrische, harmonischer Persönlichkeitsdurchbildung und moderner Kultur" in zwölf Geschichten in Szene setzte, ergeben ein Pandämonium all dessen, was der Katholik Schmitt an seiner Zeit verabscheute - Naturalismus, Positivismus und Monismus, die Verabsolutierung der Naturwissenschaften, Persönlichkeitskult und Idolatrie des Übermenschen, Fortschrittsdenken und seine Bildungsverflachung.

In wunderbar plastischen Bildern höhnt Schmitt über die Phantasmagorien einer geistig surrogierten Welt, in der das Gemeingut aller Verbildeten darin besteht, ihre überheblichen Sonderstellungen nicht zu übersehen (S. 48). Das erheiternde Ereignis soll durch keine weiteren Lesefrüchte vorweg genommen werden. Nur ein Ratschlag soll dem gebildeten Leser mit auf den Weg gegeben werden. Einsetzender Verstandsschärfung sollte mit dem dazu passenden Moselwein entgegengetrübt werden, damit dem Leser nicht die Bodenhaftung verloren geht. Dies aber nur als Ratschlag an die Gebildeten! Die allgemein Verbildeten sollen ruhig weiter "das Kleine hinauf, das Große hinab auf ein ihnen zulässig Erreichbares ziehen".

STAAT - GROSSRAUM - NOMOS

Der von Günter Maschke[17] herausgegebene Sammelband "Staat - Großraum - Nomos" stellt eine stringente Symbiose zwischen den darin enthaltenen Aufsätzen Schmitts und Maschkes Kommentierung her. Der Kontext, in dem die Artikel standen und die Vorgänge auf die sie Bezug nahmen, werden von Maschke umfassend erläutert und weiterführend interpretiert. Maschke hat für seine Edition 39 seit langem vergriffene Aufsätze und Abhandlungen Schmitts zu den Themenkreisen "Verfassung und Diktatur", "Politik und Idee", "Großraum und Völkerrecht" und "Um den Nomos der Erde" zusammengestellt. Mit der Einteilung der Kapitel vollzieht er geschickt die geistige Entwicklung nach, die Schmitt zwischen 1916 und 1969 durchmachte. Während am Anfang seiner Arbeit die Klärung des zwischen Recht und Macht herrschenden Spannungsverhältnisses stand, gipfelte seine Arbeit in der Frage nach der Antwort auf einen neuen Nomos der Erde.

Der Band beinhaltet also nicht nur weitere Materialien für eine Verfassungslehre, sondern führt darüber hinaus die Frage nach einem neuen Nomos der Erde fort. Eine Fragestellung, hinter die nicht zurückgegangen werden kann, worauf Maschke mit Nachdruck hinweist (S. XXVII). Die Stringenz der editorischen Gedankenführung braucht den Vergleich mit den von Schmitt noch selbst herausgegebenen "Verfassungsrechtlichen Aufsätzen" nicht zu scheuen.

Ein bislang unbekanntes Gutachten Schmitts über "Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges" und der Grundsatz "nullum crimen, nulla poena sine lege" ist von Helmut Quaritsch[18] herausgegeben worden. Schmitts letzter Pfeil des Philoktets (Glossarium, 6.10.49) ist damit abgeschossen. Die vorzügliche Edition erläutert die juristische Problematik des Angriffskrieges und zeichnet in einem ausführlichen Nachwort die weitere Behandlung der Thematik bis in die heutige Zeit fort. Daß es sich um ein Gutachten handelt, ergibt sich aus einem dem Original beigelegten Blatt, das Schmitt handschriftlich mit dem Vermerk "Text des Gutachten 25. August 1945" versah. Auf dem Titelblatt fehlt die Charakterisierung der Arbeit als "Rechtsgutachten" ebenso wie der Name des Auftraggebers (Friedrich Flick). Wahrscheinlich ist, daß das Gutachten nicht nur zugunsten eines einzigen "ordinary business man" vor dem Nürnberger Tribunal Verwendung finden sollte, sondern zur Verteidigung mehrerer dort angeklagter Personen herangezogen werden sollte (S. 125). Die an ihn gerichtete Fallfrage beantwortete Schmitt daher nicht mit einem einfachen Anwaltsschriftsatz, "sondern mit einer Abhandlung, die (in normalen Zeiten) zu veröffentlichen, sich jede Redaktion einer rechts- oder geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift mit Wissenschaftlichem Anspruch zur Ehre angerechnet hätte. Die ausholende Darstellung, in der die Fakten und Daten, Ansichten und Behauptungen aus Rechtsgeschichte und Zeitgeschehen, Strafrecht und Rechtsphilosophie, Völkerrecht und Politik, Sozialphilosophie und Staatstheorie stimmig und scheinbar mühelos verknüpft werden, dieses enzyklopädische Spiel mit allen Bällen der wissenschaftlichen Jurisprudenz, das Carl Schmitt beherrschte wie kein anderer Jurist seiner Zeit" (S. 142). Nicht unerwähnt bleiben darf jedoch, daß Quaritschs eigene Ausfführungen denen Schmitts um kein Jota nachstehen.

Schmitts Abhandlung über die Frage, ob der Angriffskrieg in Nürnberg zum Gegenstand eines Tatvorwurfs gegen den normalen Staatsbürger gemacht werden konnte, enthält der Sache nach drei Antworten. Erstens führte Schmitt darin den Nachweis, daß der Angriffskrieg weder im kontinentalen Recht noch im englischen oder amerikanischen Rechtskreis vor 1945 als völkerrechtliches Delikt normiert gewesen war. "Weder im bisherigen Völkerrecht noch im bisherigen Strafrecht war der Angriffskrieg als solcher eine mit krimineller Strafe bedrohte Handlung" (S. 17). Auch der Kellogg-Pakt habe eine solche Strafbarkeit nicht begründet. "Der Kellogg-Pakt ist ein Pakt ohne Definition, ohne Sanktionen und ohne Organisationen" (S. 45). Die hieraus zu ziehenden Konsequenzen seien zwingend. Eine international-rechtliche Verpflichtung ohne genauen Tatbestand, ohne genaue Umgrenzung des Täterkreises, ohne eine gerichtliche Organisation zur Entscheidung von Zweifelsfällen, ohne eine Organisation zu einem wirksamen Schutz des Verpflichteten, kann (…) nicht die Grundlage für eine strafrichterliche Verurteilung sein, jedenfalls dann nicht, wenn es sich um den unpolitischen Staatsbürger handelt, der sich in dem Konflikt zwischen einem auf festen Institutionen beruhenden nationalen und einem höchsten umstrittenen internationalen Recht mit Bezug auf den Krieg 1939 auf die Seite seiner nationalen Regierung gestellt hat." (S. 79)

Die einfache Fragestellung, daß vor 1945 eine völkerrechtliche Strafbarkeit des Angriffskriegs nicht begründet worden war, genügte Schmitt jedoch nicht. Darüber hinaus entwickelte er deshalb auch die Täter- und Teilnahmeproblematik des neuen Verbrechens "Angriffskrieg" (S. 55). Wie auch immer der Versuch einer Pönalisierung des Angriffskrieges als individuell strafbares Verbrechen in Nürnberg ausgehen würde, der einzelne Staatsbürger käme als Täter auf jeden Fall nicht in Betracht. "Der einzelne Staatsbürger, der sich im Jahr 1939 entschließen sollte, dem Krieg seiner Regierung als einem ungerechten Akt Widerstand zu leisten, fand weder innerstaatlich noch innerstaatlich-rechtlich irgendeinen Halt oder Schutz" (S. 74). Da ihm auch von internationalen Institutionen kein Schutz zugekommen sei, könne der einzelne Staatsbürger weder als Täter noch als Teilnehmer eines Verbrechens "Angriffskrieg" in Betracht kommen. "Es ist nämlich nicht möglich, eine unmittelbar völkerrechtliche Situation des Einzelnen, die im Kriegsfall zum Widerstand gegen sein eigenes Land und gegen seine eigene Regierung verpflichtet, zu postulieren, solange nicht feste, internationale Institutionen geschaffen sind, an die der Einzelne sich zu seiner Information und seinem Schutz wenden kann" (S. 73).

Dies gelte auch für die Zukunft, solange der Konflikt zwischen nationaler und internationaler Rechtspflicht, in die der einzelne Staatsbürger hineingestellt werde, wenn man ihm einen unmittelbar internationalen Status mit international-kriminalrechtlichen Folgen auferlege, nicht zugunsten neuer Schutzmechanismen auflöse. Im Konfliktfall gelte dann nach wie vor nur der innerstaatliche Zusammenhang von Schutz und Gehorsam, der "mutual relation between obedience and protection". Das bedeute in Anwendung auf die Frage nach dem Täter und dem Täterkreis eines (zukünftigen) internationalen Verbrechens "Krieg", daß nur diejenigen als Täter in Betracht kommen, die wirklich am Regime im Sinne der Bildung des politischen Willens beteiligt sind (S. 65). In erster Linie also das den Angriffskrieg erklärende Staatsoberhaupt und die an der Beschlußfassung mitwirkenden Personen in politischen Funktionen.

In Nürnberg wurde entgegen dem Grundsatz "nullum crimen, nulla poena sine lege" der Angriffskrieg als völlig neuartiges internationales Verbrechen mir rückwirkender Kraft für die Vergangenheit justiziert. Durch Ignorierung gültigen positiven Rechts und Mißachtung von naturrechtlichen und moralischen Maximen wurde der besiegte Feind zum Verbrecher gemacht, womit seine straftechtliche Verfolgung eröffnet war. An die Stelle des zwischen Krieg und Frieden unterscheidenden jus publicum Europaeum trat eine diffuse "Verbindung und Vermischung moralischer und juristischer Gesichtspunkte" (S. 23). Der Krieg hörte damit auf, ein Clausewitzscher Krieg zu sein; es geht nicht mehr um die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern um eine Beendigung der Politik mittels militärischer Gewalt und moralischer Gewalttätigkeit.

Der moderne Vernichtungskrieg ist kein Rechtserzwingungsmittel mehr, sondern ein Mittel zur Liquidation des feindlichen Völkerrechtssubjekts. Dem Gegner soll kein fremder Wille mehr aufgezwungen werden, er soll vom eigenen Willen endgültig befreit werden und wird daher der Polizei zugeführt. Die staatliche Politik verwandelt sich in Polizei, die den Gegner "unschädlich" machen soll. In der Logik dieses "modernen" Polizeirechts liegt die Unschädlichmachung des Politischen, die Entpolitisierung der Völker, die Entmenschung des Völkerrechts und die Verbrecherung der Welt, die insgesamt unschädlich zu machen ist."

Der Ursprung dieser friedlosen Entwicklung, die auch weiterhin die Grund-Lage deutschen Daseins bestimmt (S. 247), liegt in der Außerkraftsetzung der klassischen Ordnungsprinzipien des Völkerrechtes. Carl Schmitt und Helmut Quaritsch sprechen daher auch gar nicht mehr vom Völkerrecht im klassischen Sinn. Für sie gibt es nur noch ein internationales Recht.

Der Begriff des internationalen Rechts vermag nach der Lektüre nur noch bei Außenstehenden zu insinuieren, daß es sich dabei um Recht im herkömmlichen Sinne handelt. Aus den Schlußfolgerungen der Autoren geht schlüssig hervor, daß dieser Typus von Recht sich vom Boden des Völkerrechts völlig emanzipiert und eine eigenständige Qualität gewonnen hat. Es hat nicht mehr die zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen der Völker zum Gegenstand, es beschreibt nur die jeweiligen Stationen politischer Faktizität. Damit ist es in jeder Hinsicht flexibel, es ist nur noch eine Funktion zur Gleichsetzung von Recht und Macht, der Selbstsetzung von hegemonialer Politik als Internationales Recht.

POST SCRIPTUM

Carl Schmitt wurde 97jahre alt, ohne sich selbst widerlegt oder überlebt zu haben. Das Schicksal gestattete ihm die Erfüllung eines Wunsches, den er fast ein halbes Jahrhundert zuvor in "Ex captivitate salus "geäußert hatte: "Ich hoffe immer noch, ein Grab im westfälischen Sauerland zu finden, auf dem katholischen Friedhof in Eiringhausen, wo meine Eltern ruhen, über der Lenne, einem sauerländischen Fluß, der in meiner Kindheit noch schönes stolzes Bergwasser führte und den ich im Laufe meines Lebens zu einem armen Kanal für Industrie-Abwässer habe werden sehen." Auf seinem Grabstein sind die Worte "Kai Nomon Egno" eingemelßelt "Er kannte den Nomos - Er kannte das Gesetz", wird man dies frei übersetzen können.

Die Thematik seines bewegten Lebens, die Rekonstruktion des Staates als Subjekt der politischen Einheit des deutschen Volkes, vermag diese Übersetzung nur chiffrenhaft zu erfassen. Zeit seines Lebens rang Schmitt um die eigentliche katholische Verschärfung, um die Re-Ontologisierung einer revolutionär gewordenen Legitimität. Denn allem politischen Ringen um Entscheidungen liegt die notwendige Erkenntnis um die vergangene und immerwährend gegebene Entscheidung voraus. Aus diesem Grunde versuchte Schmitt den Staat in seiner letzten Konsequenz wieder auf christlicher Grundlage aus dem christlich-religiösen Gedanken eines christlichen Volkes zu gestalten und zu formieren.

Damit setzte er genau an dem blinden Punkt in Hegels Staatsphilosophie an, der von Hegels Gegnern genutzt wurde, um in dessen Staatskonstruktion einen neuen Sinn zu finden und zu erfinden. Schmitts Politischer Theologie liegt dagegen eine unvertrübte heilsgeschichtliche Dimension zugrunde, aus deren Tiefe er seine staatsrechtlichen Prinzipien und politischen Theorien gewann. In seiner eigenartigen poetischen Theologie hat Konrad Weiß in "Das Herz des Wortes" (1929) diese Dimension in Schmitts Werk freundschaftlich zu erfassen vermocht:

Als ich Entscheidung sann und schrieb vergangen,
gewesen meinte und dem Worte sann,
als ich, so geht ein Werk vorbei, begann
und plötzlich in mich sah und ward mit Zangen

rückwärts geführt und in mein Einverlangen
der einen Erde schon vergangnen Bann,
Adam von Anbeginn, ein frevler Mann,
den Weg bestimmen sah, befiel mich Bangen.

So schlug mich Trübung ewig reinem Hauche
entfliehend, als ich sprach das Wort vergangen
und sah Entscheidung schon im Wort gegeben,

daß ich die Perle wegwarf, daß sie tauche,
du blindes Herz, durch Gottes Sinn empfangen,
o hartes Korn, wie willst du ewig leben!

Anmerkungen

  1. Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, S . 7.
  2. der Verfasser, Totaler Staat - Totale Partei. Carl Schmitts Verfassungskonzept des totalen Staates als Gegenentwurf zur Faktizität totalitärer Parteienherrschaft (1932/36); (Manuskript; erscheint voraussichtlich Ende des Jahres).
  3. Hans-Dietrich Sander, Hüter der Freiheit, in: Deutschland Archiv 1968 (8), S. 824 ff.
  4. Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen" des Dritten Reiches; 979 Seiten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darrnstadt 1995, DM 128,-.
  5. Mathias Schmoeckel: Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, 310 Seiten, Duncker & Hurnblot, Berlin 1994, DM 98,-.
  6. derVerfasser, "Das Nürnberger Militärtribunal und das jus Belli des Staates", in: Staatsbriefe, Heft 9-10/1996, S. 42 ff.
  7. Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. 2.Auflage 1971, S. 61.
  8. Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik; 331 Seiten, Akadernie-Verlag, Berlin 1993, DM 48,-.
  9. Armin Mohler (Hrsg.): Carl Schmitt - Briefwechsel mit einem seiner Schüler, 473 Seiten, Akademie-Verlag, Berlin 1995, DM 78,-.
  10. Armin Mohler, Carl Schmitt und die "Konservative Revolution", in: Complexio Oppositorum, (Hrsg.) Helmut Quaritsch, Berlin 1988, S. 129 ff.
  11. Felix Grossheutschi: Carl Schmitt und die Lehre vorn Katechon; 125 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin 1996, DM 72,-.
  12. Piet Tornmissen (Hrsg.): Schmittiana V.; 332 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin 1996, DM 98,-.
  13. Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Bearb.): Nachlaß Carl Schmitt, 698 Seiten, Respublica-Verlag, Siegburg 1993, DM 52,-.
  14. Abgedruckt in: Dionysos DADA Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, (Hrsg.) Bernd Wacker, Schöningh-Verlag, Paderbom 1996, DM58,-.
  15. Hugo Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919.
  16. Ingeborg Villinger: Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text, Kommentar und Analyse der "Schattenrisse" des Johannes Negelinus; 361 Seiten, Akademie-Verlag, Berlin 1995, DM 98,-.
  17. Günter Maschke (Hrsg.): "Carl Schmitt, Staat - Großraum - Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969"; 668 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin 1995, DM 198,-.
  18. Helmut Quaritsch (Hrsg.): "Carl Schmitt - Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz Nullum crimen, nulla poena sine lege", 259 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin 1994, DM 58,-.
  19. Siehe: Reinhold Oberlercher, Zerlegung der Lage, in: Festschrift für Hans-Joachirn Arndt, Politische Lageanalyse, Bruchsal 1993, S. 235 (238).

Quelle: Staatsbriefe 8(6) (1997), S. 26-32


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