OLE CAUST / WUNDER DER TECHNIK
Auch ein Wunder kommt selten allein. In vielen Fällen ist es als Urwunder ebenfalls der Mittelpunkt einer Wellenbewegung, die, wenn auch oftmals mit beträchtlicher Verzögerung, Folgewunder gebiert, die sich im Laufe der Zeit zu Hunderttausenden, ja Millionen aufsummieren. Fragt man nach, wie so etwas (nein, nein, nicht technisch) möglich ist, so lautet die Antwort stets: Wie durch ein Wunder! Umfangreiche Recherchen des Autors ergaben, daß diese Problematik von der Wissenschaft bisher kaum untersucht wurde.
Nach Wissen des Autors ist Professor Lümmeling der bisher einzige Forscher, der eine erste Deutung des Phänomens anhand eines theoretischen Modells vorstellte (vgl. Staatsbriefe 2/95). Im vorliegenden Beitrag ist der Autor in der glücklichen Lage, ein empirisches Beispiel aus der Verfahrenstechnik anzuführen, das Professor Lümmelings Thesen zu stützen scheint.
Dem Leser der Staatsbriefe sei zunächst kurz erläutert, welche Aufgabe die Verfahrenstechnik hat. Diese Technik befaßt sich, grob gesagt, mit Prozesse genannten Vorgängen zur rationellen Umwandlung von Stoffen zur Erzeugung von Gütern wie etwa reine Industriefette (RIF), aber auch mit der fabrikmäßigen Entsorgung von Altlasten, die zum Beispiel in Form von Asche oder Schlacke dem natürlichen Kreislauf wieder zuzuführen sind.
Industriemäßig betriebene Prozesse laufen in Anlagen, Reaktionsbehältern, Kammern, Rohren usw. ab. Sie erfordern in Planung, technischer Ausführung, Betrieb, Sicherheit und Verwaltung einen Aufwand, der nur von einer Vielzahl hochspezialisierter und unterschiedlich befähigter Arbeitskommandos, keineswegs aber von nur angelernten Kräften zu bewältigen ist. Das Rampen von Führungsgrößen (Sollwerten) ist übrigens ein wichtiger Teil eines Prozesses.
Wie durch ein Wunder stieß der Autor bei der Beschäftigung mit der speziell in explosionsgefährdeten Betriebsstätten sowie in stationären als auch mobilen Entsorgungsanlagen angewandten Verfahrenstechnik längst vergangener Zeiten auf ein singuläres Phänomen, das hier nur angedeutet werden kann, da es in zentralen Fragen noch der Klärung harrt und deshalb intensiver, fachübergreifender Forschung bedarf. Ein Vergleich mit den technischen Wunderwerken der Antike (hängende Gärten der Semiramis, Koloß von Rhodos usw.) bietet sich an und ist nach vorerst überschlägiger Aufrechnung durchaus statthaft.
Kurz gesagt, es handelt sich dabei um verfahrenstechnische Vorgänge, bei denen im Gegensatz zu dem heute betriebenen Aufwand in der Tat kurzer Prozeß gemacht wurde. Alter und neuer Technik scheint lediglich das Rampen von Sollwerten gemeinsam zu sein; ansonsten fehlen der alten Technik alle in der heutigen Zeit unabdingbaren Voraussetzungen.
Interessant an der alten Technik ist für den modernen Menschen jedoch der unübertroffene Wirkungsgrad, wie sich an folgendem Beispiel zeigen läßt. Wo heute noch das Anfahren einer Anlage bzw. Regelstrecke wegen eintretender Einschwingvorgänge mit hohen Risiken behaftet ist, genügte bei der Beschickung eines Prozesses wie etwa in Befeuerungsanlagen oder Seifensiedereien ein holophrastisches "Rein!", um Prozesse stark kaustischer oder oxidierender Natur anzukurbeln. Die Kaustifizierung bzw. Oxidation erfolgte zum größten Teil ohne weitere Energiezufuhr.
Da die Staatsbriefe keine technische Fachschriftenreihe sind, verzichtet der Autor auf die detaillierte Darstellung technischer Einzelheiten, die ohnehin nur der Fachmann voll würdigen kann. Der Interessierte sei daher auf die Fachliteratur verwiesen, die in Zukunft zu diesem Thema erscheinen wird. Erwähnenswert ist lediglich noch das von hoher sicherheitstechnischer und sozialer Verantwortung getragene Bewußtsein der Anlagenbetreiber. Das Bedienungspersonal durfte während der Arbeit nicht nur essen, trinken und rauchen (!), sondern wurde auch, teils aus sozialer Fürsorge, teils aus Sorge wegen Industriespionage regelmäßig ausgewechselt und durch neue Kräfte ersetzt. Selbst der Sport kam nicht zu kurz: zwischen den Prozessen konnte sich das Personal durch in der Anlage veranstaltete Radrennen entspannen. Welch ein Fortschritt gegenüber den heutigen Verhältnissen!
Soweit die Kurzdarstellung der neuesten Forschungsergebnisse für den Leser der Staatsbriefe. Doch auch bei diesem Projekt ergaben sich Probleme mit der Geheimhaltung. Zwar haben Nullius Jacke und Dubius Daimler (vgl. Staatsbriefe 2/95) anscheinend noch nicht Wind von der Sache bekommen. Schon aber rennen Industrielle dem Autor die Türen ein, allen voran die Hersteller von Lampenschirmen und Düngemitteln.
Staatsbriefe 10/95, S. 25.
Quelle: Staatsbriefe 6(10) (1995), S. 25