Hans-Dietrich Sander


Ende der deutschen Geduld

Margarete Buber-Neumann ist der treffliche Kalauer eingefallen: "Eine Krähe wäscht die andere." Es wird deshalb keine Strafanzeige Heribert Prantls von der Süddeutschen Zeitung gegen Eckehard Fuhr von der Frankfurter Allgemeinen geben, obwohl letzterer seit geraumer Zeit die jakobinerhafte These verficht: Schreibtischtäter sind Täter, und ersterer eine Glosse veröffentlichte, nach der etwas passierte, was zu ihr leicht in einen offenkundigen Zusammenhang gebracht werden kann.

Das sind die Fakten: Fuhr hatte in seiner Leitglosse "Politikerzonen" (FAZ,14.l1.), auf die sich schon der vorige Leitartikel der Staatsbriefe "Die Wiederkehr des Gleichen" bezog, wider die Regulierungswut der Politiker gefordert, Politik solle nur noch in Politikerzonen zugelassen werden. Zwei Wochen später meldete Die Welt vom 20. 11. nach dpa: "In einer Kneipe im Kölner Bankenviertel haben Politiker jetzt Hausverbot. Der Inhaber der Gaststätte "Banker's", Karl-Willi Paul, hat an der Tür ein Verbotsschild aufgehängt, das "Politikern jeder Couleur" untersagt, sein Lokal zu betreten. Kommt ihm ein Gast verdächtig vor, hakt Paul auch schon mal nach: "Sind Sie vielleicht Politiker?" Beschwert sich einer seiner Gäste über das Verbot, hält Paul im prompt einen Zeitungsartikel vor: Schon die Bonner Entscheidung zur Lohnkürzung für Kranke hatte Paul verärgert, aber als er erfuhr, daß Beamte weiter 100 Prozent kriegen sollen, war das Maß voll. "Es reicht mir nicht, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen." Paul versteht sich nun als Pionier und setzt auf Nachahmer: "Ich will, daß Politiker zur gesellschaftlichen Randgruppe werden."'

Es läge nun wahrhaftig nahe, in diesem Handstreich, mit "Banker' s" die Einrichtung politikerfreier Räume in Deutschland zu beginnen, eine Nutzanwendung der Fuhrschen Glosse zu sehen. Gastwirte wird man indessen kaum zur Stammleserschaft der FAZ zählen kön nen. Wahrscheinlicher ist, daß ,"Politikerzonen" und "Politiker unerwünscht" separat entstandene Reflexe auf einen Radikalisierungsschub sind, mit dem die Bevölkerung ansetzt, wieder ein Volk zu werden.

Das zu Ende gehende Jahr wurde in den Staatsbriefen mit dem Artikel "Das verborgene Volk" eröffnet: in Analogie zum Deus absconditus, der sich das letzte Wort vorbehält. Ich zitierte darin meinen ersten Lehrmeister Brecht: "So wie es ist, bleibt es nicht. Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen." Ist das jetzt schon so weit? Merken die Deutschen endlich, daß sie mehr tun müssen, als Politiker, denen ihre Rechte und Interessen piepegal sind, zu wählen oder nicht zu wählen ? Die Argumente des Kölner Gastwirtes sprechen dafür. Doch wie repräsentativ sind sie ?

Jeder hört heutzutage in seinem Bekanntenkreis ein Grollen, ein Fäusteballen, das es bisher nicht gab. In den Leserbriefen werden sporadisch rabiate Töne laut, die, wenn man weiß, daß harte Kritik in diesen Spalten nur unter dem Druck der Quantität ähnlicher Eingänge erscheint, schon für ein Geheul stehen. Die Deutschen sind enttäuscht, weil sie begreifen, daß sie getäuscht werden. Das hat eine erstaunlich lange Zeit geklappt.

Noch am 26. Januar l989 konnte Jim Hoagland in seinem Leitartikel für die Washington Post gelassen feststellen : "Die Gründung des westdeutschen Staates geschah unter der Vorspiegelung, daß die westlichen Besatzungsmächte, nämlich Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, mit den Deutschen gemeinsam das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands in absehbarer Zeit verfolgen. Dieser Täuschungsversuch ist auch im Grundgesetz von 1949 enthalten, welches besagt, daß die Bundesrepublik nur ein Provisorium sei. In ihrem Herzen wissen die Deutschen, daß die Westmächte zusammen mit der Sowjetunion Maßnahmen gegen die Wiedervereinigung getroffen haben, weil das Reich dadurch Europa, wie einst, dominieren könnte. Die Deutschen müssen aber vortäuschen, das nicht zu wissen, so daß ihre Handlungen mit den falschen westlichen Versicherungen übereinstimmen. Dadurch ist es soweit gekommen, daß der Gebrauch von absoluten Unwahrheiten, die jedermann zu glauben vorgibt, zum alltäglichen Standard politischen Handelns in Westdeutschland gehört."

Diesen alltäglichen Standard gibt es nicht mehr. Als die Wiedervereinigung infolge des sowjetischen Zusammenbruchs kam, zeigten die Maßnahmen, die seit 1990 getroffen werden, um eine deutsche Dominanz in Europa zu verhindern, so brutale Wirkungen, daß die Dialektik von Täuschung und Selbsttäuschung leerlief. Die war schließlich mit Prämien verbunden gewesen, die nun zur Beute geschlagen werden. Dabei kam ans Tageslicht, daß diese Dialektik nicht allein den Wiedervereinigungskomplex lahmgelegt hatte.

Damit auch die Wiedervereinigung verbürge, was einst die Teilung garantierte, wurden die Maßnahmen zur vorbeugenden Unterbindung der deutschen Dominanz in zwei Hauptstößen vorgetragen. Der eine zielte auf das, was die Deutschen unmittelbar traf und den meisten ohne Umschweife sinnßllig wurde, auf ihre wirtschaftliche Kraft, der zweite auf ihren Wesenkern, den nur noch wenige in sich spürten.

Deutschland sollte zum ersten mit der Wiedervereinigung nicht nur nicht stärker, sondern schwächer werden. Zuerst wurde die Produktion in der ehemaligen DDR weitgehend eingestellt, alsdann wurden mehr und mehr Betriebe in den alten Bundesländern stillgelegt. Der so geschwächten BRDDR wurden dann noch schwerere Finanzlasten zugunsten ausländischer Ansprüche auferlegt. Die Staatsverschuldung stieg in nicht mehr abtragbare Höhen hinauf. Die Massenarbeitslosigkeit ist nicht mehr zu bändigen, die Dämpfung ihrer Folgen nicht mehr zu bezahlen. Die Steuerschraube wird schon bei der Rentnern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängem angezogen.Den Rest, die stillen privaten Geldreserven soll der Euro verschlingen.

Um den potentiellen Widerstand gegen diesen gigantischen Schlußverkauf im Keim zu ersticken, ist der nationale Funke, der im Vorhof der Wiedervereinigung überraschend aufglimmte, konsequent ausgetreten worden. Daß er sich nicht wieder entzünde, hat eine Flut von Repressalien aufgepeitscht, in der das, was noch als demokratisch gelten konnte, untergegangen ist. Die Geister, die die Alliierten riefen, werden sie nun nicht wieder los.

Das angesprochene Kriegsziel und unausgesprochene Ziel aller Nachkriegspolitik rächt sich. Um es wider alle gegenläufigen Tendenzen durchzuhalten, wird jetzt die politische Neuordnung zerstört, in der die Deutschen aus der Geschichte ohne Murren abtreten sollen.

Da gibt es in Potsdam einen aus dem Westen importierten Generalstaatsanwalt, namens Erardo Rautenberg, der, einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 31. Juli zufolge, gemeinsam mit der autonomen Szene gegen das, was er "rechte Gewalt" nennt, vorgehen will. Das kriminelle Konzept fand nirgends Widerspruch. Ein hellhöriger Ostberliner Mitarbeiter der Staatsbriefe sagte mir, er füirchte, es werde nun wohl bald bestellte politische Morde geben, bei deren Aufklärung es heißen würde, ihre Spuren verlören sich unauffindbar im autonomen Spektrum. Eine hysterische Reaktion ? Einige Tage bevor ich diese Zeilen schreibe, wurde in Celle der Republikaner Wolfgang Glöckner ermordet; Täterspuren seien unauffindbar, hieß es.

War das politische System früher taub gegen jede noch so wohl gemeinte Kritik, so macht es heute, was es will, gegen Gesetz und Ordnung, gegen die Grundrechte und gegen den Willen des Volkes, der sich unter diesem mörderischen Druck nun allerdings zu regen beginnt. Die Worthülsen, die bisher alles verpackten, entproblematisierten, platzen ab. Den beschwichtigenden Reden der Politiker glaubt keiner mehr. Alles was Politiker tun, wirkt nur noch aufreizend - ob Blüm mit einem Megaphon vor der Deutschlandzentrale der Scientologen totalitär hetzt, ob Kohl mit Chirac auf kulinarischen Gipfeltreffen die Mark zu killen trachtet.

Die Medien Rihren sich auf, als wollten sie Öl in dieses Feuer gießen. In einer Zeit, in der in vielen Haushalten Frau Sorge Platz nimmt, präsentiert das Magazin der Süddeutscben Zeitung vom 13.12. als Titelgeschichte: "Diese Frau will in Frieden sterben. Sie ist inzwischen eine Rentnerin im Rollstuhl, die ehemalige KZ-Aufseherin, die sie die Stute von Majdanek nannten. Wir haben sie aufgepürt." Aufgespürt, um sie, die zwanzig Jahre im Gefängnis saß, nicht in Frieden sterben zu lassen, und so wurde sie durch die Greuelgosse geschleift, als hätte sie hinter Gittern sterben sollen. Keine Zeile atmete historische Objektivität. Wie lange kann diese Zeitung noch erwarten, daß ihr dergleichen noch wil1fährig abgenommen wird ? Martin Broszat wollte vor 10 Jahren ein Ventil öffilen, als er für eine Historisierung des Nationalsozialismus eintrat. Es ist wieder verstopft worden. Und der Überdruck ist nur noch mehr gewachsen.

Bonn scheint so wenig zu spüren wie vor ihm Pankow, daß sich zwischen den Herrschenden und den Beherrschten eine unüberbrückbare Kluft auftut. Wie damals die Russen sehen es heute eher die Amerikaner, und die Amerikaner können es so wenig begreifen wie die Russen, was da vor ihren Augen passiert. Washington hat erkannt, daß Kohl es nicht mehr macht. Es hätte lieber einen anderen, aber es ist unfähig, eine Entscheidung zu fällen. Ist Clinton der Gorbatschow der USA?

Der Bonner Generalanzeiger entwarf am 13. November ein Panorama des Skepsis, mit der die Amerikaner heute auf Deutschland blicken. Es ist mehr ein Panorama der Ratlosigkeit und Verständnislosigkeit. Jacob Heilbrunn schrieb in Foreign Affairs: "Ein Wandel findet statt in Deutschland, nicht auf der politischen, aber auf der intellektuellen Ebene. Die neue deutsche Rechte besteht nicht aus Skinheads in Stulpenstiefeln" (was zu seiner Zeit wohl beruhigte) "sondern aus Joumalisten, Schrifistellern, Professoren, jungen Anwälten und Geschäfisleuten." Richard Cohen schrieb in der Washington Post "Man fragt sich, was wird geschehen, wenn, wie es nun unvermeidlich scheint, Regierung und Industrie ihre Sozialleistungen zurückschrauben müssen ?" Und Gerald Livingstone von der John Hopkins University sagte: "Man war hier immer erstaunt, daß die Deutschen so antinational geworden sind. Der Gedanke, es müsse einmal wieder anders kommen, liegt auf der Hand." Der Bau der neuen US-Botschaft am Brandenburger Tor geriet derweil ins Stocken.

Wie es anders kommen kann, ist kein Rätsel. Überfällige Regime, die nicht abtreten, werden nicht mehr durch Revolution gestürzt, sondern durch Massendemonstrationen schachmatt gesetzt. Regime, die nicht mehr die Kraft haben, sie blutig niederzuschlagen, wie Rotchina auf dem Platz des Himmlischen Friedens, stürzen in sich zusammen. Wir haben es erlebt in den großen Städten der DDR, in Prag und in Bukarest. In diesen Tagen bahnt sich ähnliches an in Belgrad. Kippt Bonn auf solche Weise noch vor dem Umzug nach Berlin ? Hat der US-Kongress aus diesem Grund die Mittel für den Weiterbau der Berliner Botschafi nicht bewilligt?

Der Kölner Gastwirt Karl-Willi Paul hat mit seinem Hausverbot für Politiker einen mobilisierenden Trennstrich gezogen. Ein Gastwirt weiß, was er sich leisten kann. Die Kontrollgänge, die Willhelm Cronenberg in Kölner Kneipen für die Staatsbriefe machte, lassen Pauls aufmüpfige Geste als rational erscheinen. Die Geduld der Deutschen geht zu Ende. Ein Faden ist gerissen.


Quelle: Staatsbriefe 7(12) (1996), S. 1f.

(Fassung Thule : http://www.thulenet.com/texte/pubstbr/text0009.htm)

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