Ein außenstehender, nicht in deutsche Lebenszwänge eingebundener und deshalb neutraler Beobachter der bundesrepublikanischen Geschichte würde seinen Beobachtungsgegenstand zweifellos in drei entscheidende Entwicklungsphasen aufteilen. Die erste deckt sich mit dem Aufbau der 50er und 60er Jahre, als der zerschlagene, zerbombte und zerschossene Westteil des niedergerungenen Reiches, natürlich mit Zulassung der alliierten Sieger, von tatkräftigen deutschen Beamten, Wirtschaftsführern und - auch! - Politikern zu einer neuen, die ganze übrige Welt verblüffenden ökonomischen Blüte gebracht wurde. Unbeschadet ihrer jeweiligen Einstellung zu Geschichte und Nation handelte es sich bei diesen Männern noch um eine echte Elite, die ihre Ausbildung und Praxiserfahrung mehrheitlich in den vielgeschmähten "vordemokratischen" Zeiten erworben hat.
Fraglich bleibt, ob in Deutschland jemals wieder ein solch hohes Niveau an solidem Sachverstand und Kompetenz erreicht wird, war doch bereits das charakteristische Erkennungsmerkmal der die 70er Jahre regierenden Nachfolgegeneration nur noch leisetreterische Mittelmäßigkeit. Sozialliberales Geschwafel gab der Epoche ihre blasse Farbe, die allein deshalb so störungsfrei und ereignislos blieb, weil die BRD-Wirtschaft inzwischen zum kräftigen Selbstläufer hochgepäppelt war und die Bonner Politik sich gleichzeitig widerspruchslos von den Herrschern der selbsternannten "Freien Welt" am Nasenring herumführen ließ. Letzteres hat sich bis heute nicht geändert, wohl aber das Machtkartell am Rhein einen weiteren Tiefpunkt erreicht. Dieses dritte, katalytische Stadium der BRD-Geschichte setzte in der Mitte der 80er Jahre ein und dürfte wohl von immer mehr Deutschen heute eher wie eine Diktatur der Dummköpfe empfunden werden.
Als der Präsident des bayerischen Senats, Schmitt-Glaeser, vor kurzem öffentliche Kritik am seiner Ansicht nach mangelnden Fachwissen der weißblauen Landtagsabgeordneten übte, dürfte er für einen kurzen Augenblick vergessen haben, was das in unserer Gleichberechtigungsgesellschaft bedeutet. Diese schlug prompt zurück und eröffnete das übliche Betroffenheitsritual; aufgrund der besonderen Verwerflichkeit der Tat wurde es diesmal sogar in beeindruckender demokratischer Gemeinsamkeit parteiübergreifend zelebriert. Während sich die eigene Parteifreundschaft aus der CSU dabei noch mit einem sichtbar indignierten Abrücken von dem Parlamentsbeschmutzer begnügte, verlangte die oppositionelle SPD eingedenk ihrer traditionell besonders kritischen Wächterrolle gleich den Kopf des 63jährigen Juraprofessors. Schmitt-Glaeser verstand und erklärte seinen Rücktritt. Das intellektuelle Selbstverständnis der Gekränkten schien wieder im Lot.
Wer diesen Vorfall als eine eher anekdotenhafte bayerische Lokalposse einordnen möchte, etwa nach dem bewährten Dramaturgieschema unzähliger weißblauer Volkstheaterfolge ("Huberbauer, du bist ein Rindviech!" "Schleich dich, Haderlump, i bin nie ein Rindviech nicht gewesen!"), verkennt dessen überaus ernstzunehmenden Kern. Er belegt die unaufhaltsame Höllenfahrt des liberalextremistischen BRD-Systems am aktuellen Zustand seiner herrschenden politischen Kaste.
Daß deren Befindlichkeit heute am absoluten Nullpunkt angekommen ist, muß selbst die konformistische Systemdemoskopie zugeben. Nur noch mit versteinerten Mienen konnten die Geschäftsführer der vier im Bonner Glaskäfig sitzenden Lizenzparteien CDU, FDP, Grüne und SPD jüngst beim "Kreuzfeuer"-Debüt der neuen RTL-Politpalaverer Mertes/Glotz aktuelle Umfrageergebnisse zur Kenntnis nehmen, nach denen über 60 Prozent (!) der wahlberechtigten Deutschen keiner Partei des sogenannten "demokratischen Spektrums" mehr die Fähigkeit zur Lösung der brennenden nationalen Existenzfragen von (A)rbeitslosigkeit bis (Z)uwanderung zutrauen.
Das im wahrsten Sinne des Wortes vernichtende Urteil ist repräsentativ; nicht nur in der Terminologie der Demoskopen. Es beschreibt mit klarer Sprache die sich im Volk ausbreitende, jeder Beschreibung spottende Verachtung des geschwätzigen (stets von allem fremden Unglück tief betroffenen, aber gleichzeitig zur Problembewältigung des eigenen Landes unfähigen, weil nur auf sein persönliches Wohl bedachten) homo politicus neuzeitgeistlicher Prägung.
Das öffentliche Bild vom Parlamentarier hat sich in der Spät-BRD zu einer gesellschaftlichen Zeitbombe sui generis gewandelt, deren systemzerstörerische Sprengkraft noch gar nicht abgeschätzt werden kann.Als eine Folge davon wächst die Un-Partei der Nichtwählerweiter zur größten unabhängigen politischen Kraft in diesem Staate an; ein anfangs stummer, eher resignierter Protest aus der Mitte des Volkes hat durch seine flächendeckende Ausbreitung auf alle Altersgruppen und sozialen Schichten inzwischen fast schon den offensiven Charakter einer Widerstandsbewegung angenommen. Selbst die journalistischen Roßtäuschertricks der lizenzdemokratischen Druck- und Sendemedien können darüber nicht mehr hinwegtäuschen.
Die nach dem verlogenen Wallstreet Strickmuster einer neuen Weltordnung ("one world in freedom and democracy") funktionierende BRD-Herrschaftsklasse hat in ihrem Machtbereich verspielt, was nur zu verspielen war. Wo aber politisches Vertrauen bis in die Wurzeln hinein zerstört wird, bleibt einem machtbesessenen System einzig diktatorischer Zwang als Mittel zur Herrschaftssicherung übrig. Unerheblich ob ein solches Regime brutal offen oder hinter liberalistischen Latrinenparolen versteckt durchgesetzt wird; es ist historisch-politisches Naturgesetz, seitdem es Menschen gibt, daß Machthaber, die um ihre eigene Legitimität fürchten, auf Kritik auch der leichtesten Art um so empfindlicher reagieren.
So kann es vorkommen, daß manchmal sogarlinde Zweifel an der Kompetenz einzelner Herrschaftsträger dem Zweifler wie Hochverrat angelastet werden. Auf der anderen Seite, auch das gehört zur inneren Logik nicht mehr reformierbarer Machtkonstrukte, bleibt es dagegen völlig folgen- los, wenn zum Beispiel Überwachungsinstanzen wie ein nüchterner Rechnungshof perfekt angepaßten Herrschaftsträgern hieb- und stichfest nachweisen, daß durch ihre Politik atemberaubende Summen von Steuergeldern, sprich Volksvermögen, vergeudet wurden. Das auf zuverlässige Aktivisten angewiesene System deckt für gewöhnlich die Adressaten solcher Vorwürfe rundum ab, so daß diese, wenn es hoch kommt, lediglich öffentlich-unverbindlich die "politische Verantwortung" übernehmen - und ansonsten unter dem schützenden Mantel der staatlich verfaßten Herrschaftsnormen wie bisher weitermachen.
Unter solchen Prämissen ist es kein Zufall, daß Vorfälle wie der Sturz des bayerischen Senatspräsidenten wegen einer einzigen politisch unkorrekten Bemerkung stark an Geschichten aus Schilda erinnern.Wie anders als Schildbürger soll man jene fanatisierten politisch-moralischen Tugendwächter nennen, die meinen, den endgültigen Totalzusammenbruch ihrer abgewirtschafteten, zukunftsfeindlichen Ordnung noch abwenden zu können, indem sie mit Zähnen und Klauen auf jegliches nonkonformistische Nachdenken losgehen ? Immerhin prägte kein Geringerer als der in seiner durch und durch rheinischen Weltanschauung (bundes)politisch völlig unverdächtige Heinrich Böll das mittlerweile klassische Zitat von der "rattenhaften Wut", mit der stürzende Macht ihre Pfründe bis zum letzten zu verteidigen sucht.
Ständig neue schildaeske Fieberphantasien steigen wie modrige Gasblasen aus den unheimlichen Tiefen des Politsumpfs an die Oberfläche, wo sie unter häßlichen Blubbergeräuschen zerplatzen und eine Wolke unerträglichen Gestanks um sich herum verbreiten. Hinter manchen der auf dem soziokulturellen Mist der Spät-SPD gewachsenen politischen Wahnideen läßt sich der vorsätzliche Anschlag auf die letzten Reste einer historisch in langen Jahrhunderten gewachsenen staatlich verfaßten Gemeinschaft der Deutschen nicht mehr verstecken. So ist inzwischen zur traurigen Realität geworden, was auch fundamentalistischste FDGO-Kritiker aus dem konservativ-nationalen Lager bis vor kurzem noch selbst unter BRD-Verhältnissen für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten haben; das Bundesland Schleswig-Holstein scheint sich allem Anschein nach tatsächlich als Rauschgifthändler betätigen zu wollen. "In einem ersten Schritt" so zitiert die FAZ den abenteuerlichen Kabinettsbeschluß der grünroten Landesregierung, will das für Hasch- Fragen künftig wohl zuständige Sozialministerium (!) beim Berliner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte um die Erlaubnis zum Cannabisverkauf in den Apotheken (!) des Landes nachsuchen. Fragt sich nur, was dann als zweiter Schritt folgen soll. Statt Salat oder Grünkohl im industriellen Maße betriebener Hasch-Anbau in den Gewächshäusern des Küstenlandes, alles unter wohlwollender staatlicher Regie, mit Landeswappen auf dem Portionspäckchen ?
Wem es angesichts solcher Nachrichten noch den Atem verschlägt, kann kein gelernter Bundesbürger sein. Zu den Umerziehungserfolgen aus fast 50 Jahren praktizierter FDGO gehört es nämlich, daß den Deutschen mittlerweile jeder Bär aufgebunden werden kann, der den Absichten des staatlich lizensierten Liberalextremismus nutzt. Ganz davon abgesehen, daß die entsprechenden Begründungen im Klartext oft genug eine knallharte Verhöhnung des viel zitierten "mündigen Bürgers" und seiner immer drückenderen Sorgen darstellen.Was anderes als zynischen Spott soll man etwa in jener haarsträubenden "Ermunterung" der sozialdemokratischen Landes-Gesundheits(!)minister an ihre schleswig-holsteinischen Genossen sehen, nach der amtlich genehmigter Haschverkauf "als zusätzlicher Beitrag zu einer wirksamen Prävention" zu werten sei? Und damit der entschiedene Kampf aller Demokraten gegen die wuchernde Rauschgiftsucht auch richtig in Schwung kommt, wurde das Mindestalter für den freien Haschischbezug aus den Apotheken des Nordlandes gleich auf 16 Jahre (!) herabgesetzt. Das wird um die Rauschmittelfreiheit ihrer Söhne und Töchter besorgte Eltern erst so richtig beruhigen, wenn Schulkinder den Stoff künftig nicht mehr beim schmutzigen Dealer irgendwo auf der Straße, sondern in der klinisch reinen Atmosphäre einer nach strengen Vorschriften geführten deutschen Apotheke erstehen können.
Nein, nicht aus Unfähigkeit wurde das Rathaus von Schilda ohne Fenster gebaut, sondern aus eiskaltem Kalkül: niemand soll den Verfall und die Fäulnis im Inneren sehen können. Woher kommt es dann, daß sich auf einmal doch so etwas wie Nonkonformismus zu regen beginnt? Langsam zwar, zaghaft und noch sehr vereinzelt, dafür aber mit umso nachhaltigerer Wirkung in der Öffentlichkeit.
Einer von denen, die anscheinend in bestimmten Fragen im nonkonformistischen Widerspruch zur Politik Rheinbonns denken und dies auch noch mit solider, fundierter Fachkenntnis untermauern können, ist der Präsident der Bundesbank, Hans Tietmeyer. Schon seit längerem fiel der hochkarätige Finanzexperte durch seine, sagen wir etwas eigenwillige Haltung gegenüber dem europäischen Windbeutelprojekt Währungsunion auf
Tietmeyers öffentliche Äußerungen dazu waren stets sichtbar vom pflichtbewußten Willen zur sachlichen Zusammenarbeit mit der Bundesregierung geprägt, niemals aber war aus seinem Mund das in bonnkonformen Politzirkeln übliche laut jubilierende "Ja zum Euro" zu vernehmen. Unbeirrt von lauernden Journalistenfragen, wie er es denn wirklich mit dem von Geschichtskanzler Kohl zur conditio sine qua non deutscher Fortexistenz(berechtigung?) aufgeblasenen Maastrichtpakt halte, pochte der Bundesbankpräsident stets auf die Stabilitätskriterien, die es unbedingt einzuhalten gelte, weil sonst keine europäische Gemeinschaftswährung entstehen könne.
Richtig unbeliebt, in Brüssel wie in Bonn, machte sich Tietmeyer aber erst vor kurzem, als er es nach Presseberichten rundweg ablehnte, für die Euromünzer Werbung zu machen. Da es um die Akzeptanz der neuen Währung in den Völkern Europas immer noch nicht zum besten bestellt ist, startete die Brüsseler Kommission einen sündteuren Reklamefeldzug, um die widerborstigen Unionsbürger für den Währungscoup psychologisch sturmreif zu kartätschen (unter guten Liberalextremisten heißt das natürlich "Aufklärungskampagne").
Man kann nur darüber spekulieren, warum der Bundesbankpräsident seinen guten Namen dafür nicht hergeben wollte; auf jeden Fall soll er eine bereits früher gegebene Zusage, die Anzeigenkampagne der BRD-Regierung zur Einführung des Euros zu unterstützen, schriftlich zurückgezogen haben.
Eurobrüssel kochte, zeigte sich öffentlich tief beleidigt und verärgert, während das Bundeskanzleramt mühsam schwieg. Es blieb ihm schließlich auch nichts anderes übrig, denn noch ist der zentrale nationale Währungshüter vor dem Gesetz eine unabhängige Institution, der auch ein ewiger Kanzler nicht hereinreden darf. Zu Recht, denn es gibt Wichtigeres als Regierungsparolen, wenn es um die Abschaffung der D-Mark geht. Fachleute wie Tietmeyer mit ihrem direkten Draht zur Politik wissen von den einschlägigen Machenschaften mehr als das gemeine Volk, was ihre Handlungen vielleicht nicht gerade durchschaubarer macht, auf der anderen Seite aber doch mancher Entscheidung eine gewisse Barometerfunktion im Hinblick auf künftige Entwicklungen verleiht.
Und die sehen, auch ohne internes Herrschaftswissen, düster genug aus. Während sogar schon ausländische Stimmen wie etwa die römische Tageszeitung La Repubblica bei ihren italienischen Lesern um Verständnis für den Widerstand der arbeitenden Deutschen gegen die Währungsunion werben (". . . sie sind aufgefordert, ihre starke, stabile, garantierte Währung gegen etwas zu tauschen, das sie nicht mehr ganz kontrollieren können und mit dem sie sich die monetäre und ökonomische Gebrechlichkeit der anderen einverleiben müssen ..."), zieht in Brüsseler Gewässern das Euro-Narrenschiff weiterhin unbeirrt seinem nicht mehr rational erklärbaren Kurs hinterher.
Um hier das Steuer herumzureißen, reicht ein Bundesbankpräsident mit seiner politisch inkorrekten Werbeverweigerung allein nicht aus. Es müßten Millionen Stimmen sein, aus dem ganzen Volk in allen seinen Schichten, die sich unüberhörbar lautstark gegen den Euro-Wahnsinn erheben. Solange, bis er nicht mehr durchsetzbar ist.
Das Erwachen eines neuen, systemkritischen Nonkonformismus in des Rheinbundes verblühter Krähwinkel-Idylle beschränkt sich beileibe nicht nur auf einen kleinen Kreis hochkarätiger Führungspersönlichkeiten; ganz im Gegenteil, hier verändert sich eher noch am wenigsten. Die größte Unruhe gärt innerhalb der Nichtwählerbewegung, jener hauptsächlich von existenzbedrohten Normalarbeitnehmern getragenen und noch (!) schweigenden Massen-Protestpartei. Ganz plötzlich sind in dem üblichen wirren Wust aus gedruckten, gesendeten und mit bunten Bildsequenzen unterlegten Nachrichtenfetzen der liberalextremistischen Lizenzmedien Töne zu vernehmen, die noch gestern im scheinbar so dauerhaft angelegten, wohlgeordneten BRD- Gefüge undenkbar waren.
Aufschreien gleich, mischen sich erstaunliche Wortmeldungen unter die übliche propagandistische Dauerberieselung der abwiegelnden Schlagworte wie "Sparpaket", "Umbau", "Verschlankung" oder "Globalisierung". Gefaßt in einer durchweg harten, aber befreiend wirkenden Sprache, die weder der Feder des Berichterstatters noch dem Textcomputer des bearbeitenden Studioredakteurs entstammt. Es sind unverfälschte Stimmen aus einem Volk, in dem von einem Tag auf den anderen brave Arbeitsmänner wieder öffentlich über tiefgreifende, umwälzende Veränderungen des gesamten Systems zu sinnieren beginnen, Frauen vom Fließband Gerechtigkeit für sich und ihre Familien fordern und Arbeitslose ihre aus elender Hoffnungslosigkeit geborene Wut kaum noch zügeln können.
"Wenn das mit den ausländischen Billiglöhnern hier auf unseren Baustellen nicht bald aufhört, gibt es Krieg!", ist beispielsweise solch ein Satz, in breitestem Berlinerisch ohne Scheu in die Kamera gesprochen. Sind das nurWorte ? Ist das nur verbalradikales Imponiergehabe einiger armer Tröpfe, die von der hochwissenschaftlichen Systemdemoskopie so gern als "Modernisierungsverlierer" abgestempelt werden ? Verzweifeltes Maulheldentum einer bedauernswerten Schicht von Lern- und Lebensunfähigen, die sich in der schönen neuen (einen) Welt des globalen Wettbewerbs mit Niedrigstlöhnen und sozialer Verantwortungslosigkeit nicht zurechtfinden ?
So würden es jedenfalls die Fädenzieher und Nutznießer Rheinbonns gerne sehen; sie tun auch alles, damit die sogenannte "öffentliche Meinung" in diesem Sinne beeinflußt wird. Für den kritischen, nicht von der Staatsmacht korrumpierten Beobachter jedoch, der sich weigert, seinen Verstand bei den Hütern der westlichen Wertegemeinschaft abzugeben, haftet den ungeduldigen, gleichermaßen fordernden wie vernichtend urteilenden Aussprüchen aus dem Volk bereits eine Ahnung von dem an, was dem liberal-kapitalistischen Gesellschaftskonzept eines vielleicht nicht mehr ganz so fernen Tages blühen könnte.
Alle entscheidenden Kursänderungen der Menschheitsgeschichte begannen mit Anklagen und Forderungen. Wenn jetzt überall in der BRD verbales Aufbegehren um sich greift, ist der Willen zu einem wirklichen Neuanfang keine der Lächerlichkeit anheimzugebende Schnapsidee irgendwelcher Spinner mehr. Das schreckt ein in seinen '68er Wurzeln ideologisch vergreistes Staatsverständnis bis ins Mark. Eine etablierte Klasse, deren politische Handlungsfähigkeit seit langem restlos beim Teufel ist und die als klägliches, lächerliches Surrogat dafür schon das Halten einer Rede oder das Veranstalten einer Demonstration (natürlich nur, sofern diese Dinge innerhalb des zugelassenen Meinungsbogens bleiben!) als politische Großtat ("Zeichen setzen!") feiert, schmerzt jedes öffentlich gesprochene nichtkonforme Wort doppelt!
Daran ändert auch nichts, daß die Macht am Rhein die Mehrheit ihrer Bundesbürger nach wie vor fest im Griff zu haben glaubt. Illusionslose, systemkritische Worte der neuen, der frischen und mutigen Art sind inzwischen aber an manchem Ort öffentlich gesprochen worden und beginnen jetzt in aufnahmebereiten Köpfen zu wirken. Sogar in Werkshallen, Verwaltungsbüros oder Amtsstuben, wo sich das geordnete Arbeitnehmerleben mehrheitlich immer noch im festgefügten Dreieck zwischen regelmäßiger Gehaltsüberweisung, Ratenzahlungen für Auto oder Eigenheim und komfortablem Jahresurlaub abspielt, wachsen die Zweifel, daß es so ad infinitum in gesicherten Bahnen weitergehen kann.
Wo der Gewerkschaftsstaat Behäbigkeiten zementiert hat, dauern Erkenntnisprozesse zwar immer etwas länger. Aber heute können auch systemgläubige Arbeitsplatzbesitzer einfach nicht mehr darüber hinwegsehen, daß von Monat zu Monat mehr Kollegen ganz plötzlich aus dem tarifvertraglich privilegierten Kreis hinauskatapuliert werden. Da kommen Ängste auf, die sich nicht mehr unterdrücken lassen.
Angst motiviert, und so droht das Murren im Volk bald schon zum Flächenbrand umzuschlagen. Doch bevor der Funke wirklich zünden kann, springen, wie immer in den fünf Jahrzehnten BRD-Geschichte, die Gewerkschaften als Teil des Machtkartells und gleichzeitig dessen zuverlässigster Nothelfer ein. Der in solchen Fällen üblichen Massenmobilisierung folgen Scheinaktivitäten, die nicht nur den Mitgliedern, sondern auch dem übrigen Volk Willen und Fähigkeit zum sozialen Protest vorgaukeln sollen. Das letzte große Schimärenspiel unter der Regie der Einheitsgewerkschaft fand letzten Sommer im Bonner Hofgarten statt. Rund 300 000 Teilnehmer sollen zu der DGB-Großkundgebung gekommen sein, um nach eingefahrener BRD-Tradition "Zeichen zu setzen", diesmal gegen das unsoziale Sparpaket der Kohl-Regierung. Doch wenn hier einige der in klimatisierten Luxusbussen angereisten Demonstranten tatsächlich an Aufbegehren gedacht haben sollten, ihre Wut im Bauch wurde unter der tropisch anmutenden Sonne des strahlen den Junitages von der routinierten Kundgebungsregie ganz schnell in fröhliche Festivalstimmung kanalisiert. Protest verwandelt sich in Sambarhythmen, bunte Luftballons steigen in den Himmel, gestandene Männer tragen lächerliche rote Amikappen mit DGB-Emblem und futtern Bratwürste.
Der bislang angeblich "größte Kampftag unter Führung der Einheitsgewerkschaft" wirkte über weite Strecken eher wie ein gigantischer Kindergeburtstag. Der US-Nachrichtensender CNN sprach - mit Blick auf hingebungsvoll konsumierte Genußmittel? - von"Woodstock-Atmosphäre". Das deutsche Fernsehen, verklärten Rückblicken jeglicher Art sonst eher abhold, lobte im altbekannten Klassenkampfjargon, es sei "trotz aller Kampfbereitschaft friedlich geblieben".
Was aber sollte man anderes von einer Veranstaltung erwarten, bei der sich Spitzenverdiener im Gewerkschaftsführerrang auf eine Freiluftbühne stellen und nach allen Regeln der Fernsehdramaturgie ihre Empörung über wachsende Armut und Arbeitslosigkeit zelebrieren? Wurde auf die völlige ökonomische wie politische Bewegungslosigkeit hingewiesen, in die sich das herrschende System seit nunmehr über fünfzig Jahren konsequent und zielgerichtet selbst hineinmanövriert hat; dermaßen tief, daß heute ein billiger Ausweg daraus nicht mehr möglich ist? Wurde den im Hofgarten tanzenden Arbeitern und Angestellten ohne Beschönigung gesagt, daß es die im marktwirtschaftlichen Makrokosmos immer heißer laufende globale Gleichmacherei ist, deren sozialdestruktive Energien bereits den scheinbar noch stabilen Mikrokosmos der bundesdeutschen Arbeitnehmerkleinfamilien erreicht und dort erste überaus schmerzhafte Brandspuren hinterlassen haben ? Wurde eine wirklich "radikale", also direkt an die Wurzeln dieses Übels gehende Wen- de gefordert; stark und begeisternd genug, um die auf jedem ihrer bisherigen Exerzierfelder kläglich gescheiterten internationalistischen Zwillingsbrüder Marxkommunismus und Liberalkapitalismus ohne Wenn und Aber, einfach durch den Willen des ganzen Volkes endgültig in den Abtritt der Geschichte zu kicken? Und,vorallem anderen: konnten die unter samtblauen Bonner Himmel versammelten Deut- schen endlich, das erstemal in fünf Jahrzehnten BRD, hören, daß angesichts aller internationalistischen Desaster, die sich um uns herum abspielen, die nächste deutsche Wende eine nationale sein muß - oder sie wird nicht sein ?
Verzichten wir auf die Antwort. Bleiben wir Realisten (was angesichts des politischen Niedergangs um uns herum mehr denn je eine zwingende Notwendigkeit ist!) und akzeptieren, daß von einer in die Strukturen des Systems eingebundenen Organisation wirklich sachgerechte Lösungen der deutschen Problematik nie und nimmer erwartet werden dürfen. Selbst dann nicht, wenn sie von sich behauptet, die Interessen des werktätigen Volkes zu vertreten. Denn eine DGB-Organisation, die auch nur den Hauch einer Diskussion über nonkonformistische Themen in ihren Reihen - oder außerhalb! - zulassen würde,wäre im Bonn-Staat sofort ihre Demokratenlizenz los.
Es gibt nichts Unwichtigeres für den Aufbau einer neuen sozialen Kraft im Lande als verbonzte Einheitsgewerkschaften. Die massenhaften Austrittswellen zeigen mehr als deutlich, daß auch immer mehr deutsche Werktätige dies erkennen. Mögen also die Funktionäre ruhig weiter ihr Geschäft mit den Arbeitsplatzbesitzenden betreiben, sollen sie weiter von Arbeitszeitverkürzung, unbeschränkter Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dem weltexklusiven rheinrepublikanischen Menschenrecht auf die jährliche Flächentariferhöhung faseln. Die mächtigen Globalisierer in den internationalen Konzernen werden ihr amüsiertes Grinsen zu unterdrücken wissen, wenn sie den Erfindern des "Bündnis für Arbeit" das nächste Mal im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen die Hände schütteln.
Eine neue soziale Kraft, die unser Land so bitter nötig hat, erstarkt auf einem ganz anderen Felde. Sie wächst mit der Zahl der Hoffnungslosen und um ihre Existenz Betrogenen, die immer zahlreicher aus dem eingedickten BRD-Tran aufwachen und ihre Forderungen, Hoffnungen und Sehnsüchte in dieser so unrheinisch harten, unmißverständlichen Sprache formulieren.
Am Anfang war immer das Wort. Vor allem, wenn es in offenem Zorn gesprochen wird. Und dort, wo Arbeitsexistenzen massenhaft "freigesetzt" werden, tauchen sogar, wie auf einer Demonstration deutscher Bauarbeiter gegen die Beschäftigung ausländischer Billiglöhner beobachtet, zwischen viel rotem Gewerkschaftstuch wieder einzelne Fahnen in schwarz-rot-gold auf
Wo das war? In Berlin.