Hans-Dietrich Sander


Thesen zur Entstehung und Wirkung von Verschwörungstheorien

  1. Die menschliche Geschichte ist ein tiefgründiger Prozeß. Über ihre Wendepunkte, die Elemente ihrer Beschleunigungen und Befestigungen werden die Historiker nie zu völliger Übereinstimmung gelangen. Das trifft vornehmlich für den Bereich des Politischen zu, der nur einen Teil der Geschichte umfaßt.

  2. Schon im "Faust" trat im Gespräch zwischen Mephisto und dem Schüler das Bedürfnis zu Tage, alles von einem Punkt aus zu kurieren. Es war die Zeit, in der Philosophie und Religion vor Ideologie und Weltanschauung abzudanken begannen. Diesem Dunstkreis entsproß die Verschwörungstheorie.

  3. Es schmeichelte dem philisterhaften Verstand, die Ursachen allen Übels nicht bei sich selbst, sondern in Machenschaften zu suchen, die von einer Handvoll Übelwollender ausgeheckt werden. Man kann dies auch säkularisierte Satanologie nennen.

  4. Ein fruchtbares Feld für das Gedeihen von Verschwörungstheorien ist eine Lage, die ausweglos erscheint, in der die Menschen mit ihrer Ohnmacht nicht fertig werden. Der Strohhalm, nach dem sie greifen, kann nicht abstrus genug sein. Die Erkenntnis am Ende, daß er sie nicht rettet, wird dann als Bestätigung empfunden.

  5. Die Menschen fallen um so eher auf Verschwörungstheorien herein, je weniger sie wissen. Der politische Aberglaube kann deshalb im Bildungssturz der Massendemokratie die Form eines Massenwahns annehmen, in dem sich die Verdummten als Wissende auffiihren.

  6. Ein gleiches Stimulans für begierige Aufnahme von Verschwörungstheorien ist die Unfähigkeit, eine schwierige Situation zu meistern. Es schließt die Besinnung auf eigene Kraft und Findigkeit aus: beim Einzelnen, bei einer Familie, einer Gemeinde und einem Gemeinwesen.

  7. Wer von einerVerschwörungstheorie besessen ist, verkümmert in seiner Erkenntnisbereitschaft wie in seinem Handlungsdrang. Er ist wie gelähmt. Alles um ihn herum ist von Gegenkräften besetzt. Er verhält sich wie eine Gans, wenn es donnert.

  8. Der Besessene sieht keinen Anlaß mehr, die Dinge zu überprüfen. Er fühlt sich von Selbstkritik dispensiert. Da er meint, es ließe sich gar nichts mehr ausrichten, erscheinen ihm auch eigene Fehler belanglos zu sein.

  9. Die von Verschwörungstheorien Besessenen sind unbelehrbar. Sie steigern sich in eine Rechthaberei hinein, die von jedem Unrecht verstärkt wird.

  10. Eine politische Gemeinschaft, die solchen Wahnvorstellungen verfällt, scheidet aus der Geschichte als Subjekt der Politik aus. Sie kann, wenn überhaupt, nur kurzfristig zum Zuge kommen und hinterläßt nach ihrem unvermeidlichen Verschwinden Trümmer.


Es erscheint geboten, den Beschreibungen der Verheerungen, die von den Verschwörungstheorien im heutigen Rußland angerichtet wurden, diese kurzen, bündigen Thesen hinterherzuschicken. An Verschwörungstheorien kann ein Volk zugrundegehen oder zugrundegerichtet werden. Man kann sie auch von außerhalb einspeisen. In welchem Maße das in Rußland nach 1989 und in Deutschland nach 1945 geschehen ist, muß mangels spezieller Studien noch dahinstehen. Die heftigen Reaktionen auf Winfried Knörzers Glosse "Verschwörungen urbi et orbi" in Heft 9-10 der Staatsbriefe waren ein weitererAnlaß für die Niederschrift dieserThesen. Um Mißverständnisse auszuschließen: die Thesen über die Entstehung und Wirkung von Verschwörungstheorien sind kein Angebot zur Diskussion. Die Verschwörungstheorie offenbart ihren zerstörerischen Charakter allein schon darin, daß sie jedes Gespräch kaputt macht, in das sie eindringt. Einsendungen zum Thema sind aus diesem Grund vergeblich. Eine Debatte findet nicht statt.


Quelle: Staatsbriefe 7(12) (1996), S. 24.

(Fassung Thule : http://www.thulenet.com/texte/pubstbr/text0011.htm)

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