HANS-DIETRICH SANDER / THESEN ÜBER DIE VORTEILE ZUNEHMENDER UNTERDRÜCKUNG

Wir sind in eine Zeit totaler Unsicherheit eingetreten. Wovor Winfried Martini schon auf der Schwelle der 60er Jahre warnte - "Das Ende aller Sicherheit", "Freiheit auf Abruf" -, hat sich, wenn auch anders, in gnadenloser Konsequenz ereignet. "Die Lust am Untergang" um einen dritten Buchtitel jener Jahre, diesmal von Friedrich Sieburg, anzuspielen, hatte diesen Prozeß, der längst keine Lust mehr macht, befördert, doch nicht ursächlich heraufgeführt. Die Auflösung deutscher Staatlichkeit ist keine Selbstauflösung. Sie vollzieht sich wie die Exekution eines verhängten Urteils, zu dessen Abwehr die herrschenden Klassen der Besiegten von den Siegern nicht eingesetzt wurden. Sie verdankt den Schein der Selbstermächtigung dem erzwungenen Verzicht auf die Staatsdialektik von Schutz und Gehorsam, der einen Impetus freisetzt, der alles von selbst ergreift. Die entscheidende Frage lautet: wo ist der archimedische Punkt, von dem aus der Prozeß des Niedergangs, der das finis Germaniae herbeiführen soll, seine Gegenbewegung hervortreibt?

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Seit einem Vierteljahrhundert lautet der Gemeinplatz der Hoffnungen auf eine grundumwälzende Veränderung der Verhältnisse: Es geht den meisten noch viel zu gut, erst wenn es ihnen schlecht geht, kann es anders werden. Dieser Gemeinplatz übersieht, daß eine Verelendung zwei Haltungen erzeugt, die eine lange Dauer der Zustände garantieren: die soziale Scham der Betroffenen und die asoziale Gleichgültigkeit der Verschonten, bzw. der Nutznießer. Eine Verelendung muß landauf, landab unerträglich werden, um Empörung zu wecken. Oder es muß sich ein Moment hinzugesellen, das die Remedur beschleunigt. Das ist der Fall, wenn der Ausbeuter zum Blutsauger wird, wenn die öffentliche Hand die Peitsche schwenkt, wenn also der Verelendung sich Unterdrückung addiert.

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Ansätze zur Unterdrückung hat es schon in den Jahren des Wirtschaftswunders gegeben: im KPD-Verbot der 50erJahre und in den Maßnahmen, die den Einzug der NPD 1969 in den Bundestag unterbanden. Die Ansätze bildeten sich mit der Einführung einer politischen Justiz zu einem Wesensmerkmal aus, das zunächst nicht auffiel. Beispiele sind die Verfahren gegen Michael Kühnen, die schon Gesinnungsprozesse waren, aber kaum jemanden aufregen, weil es um eine exzentrische Minderheit ging, deren Bekämpfung manchen als nicht unangemessen erschien. Seitdem haben sich Prozesse dieses Stils gehäuft; vor allem seit der unerwünschten Vereinigung. Mit dem Verbot der eher romantischen als politischen Wiking-Jugend rastete eine Eskalation ein, die zur Stunde bei der Beschlagnahme der Zeitschrift Sleipnir von Andreas Roehler und Peter Töpfer angelangt ist. Wie weit sie noch geht, weiß keiner. Die Bonner Gefängnisse fallen sich mit politischen Häftlingen

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Eine Demokratie, die das zuläßt, zerstört ihre eigenen Grundlagen. Sie hat die konstitutionelle Pflicht, den Austrag politischer Debatten und Konflikte nicht zu behindern. Sie rühmt sich dessen sogar in ruhigen Zeiten. Hält sie in ihrer Verfaßtheit Stürmen nicht stand, ist sie dem Ernstfall nicht gewachsen und verschwindet von der Tagesordnung der Geschichte. Tritt sie ab, kann ihrer mit Rührung gedacht werden. Anders, wenn sie sich in ihrer Unfähigkeit mit List und Tücke zu behaupten sucht. Sie reizt dann nur noch auf wie eine ordinäre Diktatur, die, frei nach Ernst Jünger, schon im Sturm auf die Barometer einschlägt. Die Bonner Republik ist in schlechtestem Begriff, das zu werden und das zu tun.

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Die Metamorphose Bonns wirkt um so aufreizender, als sie nicht aus einer Notwehr herauswächst. Es hat für die Zunahme der Unterdrückung nie einen realen Handlungsbedarf gegeben. Die kriminalisierten Subjekte und Objekte reichten mit ihren Kapazitäten nie für eine ernsthafte Systemgefährdung aus. Diese faktische Ohnmacht ist auch nie überschätzt worden. Es gibt für die rasante Verschärfung des sogenannten Kampfes gegen Rechts nur einen rationalen Grund: das operative Siegerinteresse, nach der Vereinigung das Aufkommen nationaler deutscher Gedanken niederzutreten, bzw. von deutschen Handlangern niedertreten zu lassen. Bonn ist mit dieser Sendung in einen Kampf gegen das eigene Volk eingetreten.

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Der erste Vorteil dieser zunehmenden Unterdrückung besteht im Schwinden trügerischer Hoffnungen auf eine Reformierbarkeit des maroden Systems durch gesunde Kräfte unter seinen Trägern. Mit ihnen gehen auch die imbezilen Erwartungen flöten, mit einer wachsenden verfassungstreuen Rechten nationale Interessen über eine Koalition durchzusetzen. Es verfliegt auch die infiltrierte Ansprechbarkeit für Juniorpartnerschaften mit irgendeinem Sieger. Endlich kann sich nach einem halben Jahrhundert Selbsttäuschungsraison der Unterworfenen die weniger provokative als selbstverständliche Erkenntnis durchsetzen, daß deutsche Interessen allein von deutschen Politikern wahrgenommen werden, die deutsche Interessen für primär halten und im Bündnisfall auf Gleichberechtigung pochen.

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Der zweite Vorteil der zunehmenden Unterdrückung bietet sich in der Wiederbelebung verschütteter Tugenden über die Zwänge der Selbsterhaltung an. Weil durch die Feigheit, mit der viele Deutsche es nach 1945 zu vielem brachten, nichts mehr zu gewinnen, aber alles zu verlieren ist, wird man, ob es einem paßt oder nicht, genötigt, wieder tapfer zu werden. - Im Gegensatz zur Schwatzhaftigkeit, die alles zerredete und zu vieles ausplauderte, erheischt die Schadensbegrenzung eine Rückkehr zur Maxime "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Hierzu gehört die Selbstbeschränkung der natürlichen Neugier. Man muß nicht alles wissen, was unter verschärften Bedingungen von statten geht. Kollegialität darf nicht zum Sicherheitsrisiko werden, heißt eine Regel intakter Geheimdienste. - Die vielfältigen Laster der Passivität, die sich im Wahlakt erschöpfend befriedigte, werden unter verstärktem Druck von persönlichem Handlungsbedürfnis ausgetrieben. - Die labilen Persönlichkeitsstrukturen finden wieder Halt in sich selbst durch Zwangsgewöhnung an Disziplin. - Den Deutschen, die im Laissez faire die traditionelle Fähigkeit zur Organisation vergaßen, bleibt nichts anderes übrig, als ihr eingefleischtes Talent wieder zu entdecken, wenn sie sich aus den Strudeln des Weltwirtschaftschaos herausmuskeln wollen. - Wer von Genußsucht zum Nihilisten entleert wurde, findet im Opfergang wieder neuen Lebenssinn. Es muß ja nicht gleich ein Martyrium sein. Aber Martyrien werden sich nicht immer vermeiden lassen.

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Der dritte Vorteil zunehmender Unterdrückung ist, daß sie Millionen vereinzelter Deutscher, die durch Individualismus nicht an Persönlichkeit gewannen, sondern auf den Massenmenschen herunterkamen, zur ausgeprügelten Gemeinschaft zurückprügelt. Man wird wieder Genugtung verspüren, im Einsatz für andere, im Dienst am Ganzen, Kraft und Kontur zurückzuerlangen. Die selbstzerstörerische Todsünde des Neides, bei der geistiger Neid der schlimmste Neid ist, wird der Kameradschaftsgeist zu ersetzen haben, an dem es auch im nationalen Lager immer mangelte. Die Achtung vor den Nächsten ist wieder zu erlernen, gleichgültig, ob er einem überlegen oder unterlegen ist. Ja, ich gehe so weit

zu fordern, daß die Deutschen, die Selbsthaß zerfraß, sich wieder lieben sollen.

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Ein vierter Vorteil zunehmender Unterdrückung ist das absehbare Ende der Großmäuligkeit, mit der bis dato versucht wurde, in Bonn mitzuspielen. Die aktualisierte Maxime "Die Zensur verfeinert den Stil" zwingt zu einer Artikulation, die über Differenzieren zu vertieften Einsichten verhilft. Die blanke Aussichtslosigkeit des blinden Aktionismus, die so manchen guten Ansatz kaputt machte und so manchen Widersätzlichen zum Aufgeben enttäuschte, läßt Zeit und Matz zur Aneignung eines Wissens, das als Handwerkszeug parat sein muß, wenn die Stunde kommt, Hand anzulegen. Das emotionale Potential muß strategisch werden, damit diese Stunde, wenn sie kommt, uns nicht zwischen den Fingern zerrinnt.

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Der fünfte Vorteil zunehmender Unterdrückung besteht in der Unterbindung der kurzfristigen Erfolge, die den Geist auf langfristige Perspektiven richtet, die, unenttäuschbar, Bestand und Gültigkeit über den eigenen Tod hinaus haben. Man wird dabei wieder auf deutsche Art standfest. Und man erfährt, daß die unselige Gleichung "Politik ist Kompromiß", die alles aus den Angeln hob, nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Man muß nicht alles erleben oder alles, wie zu seinem Unglück Hitler, selbst verwirklichen wollen.

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Die Summe der fünf Vorteile liegt in der Ausbildung und Festigung der subjektiven Kräfte. Die Unterdrückung verliert in dem Maße an Wirksamkeit, wie ihre Einschüchterungsqualität abnimmt. Indem die Deutschen aus den zerschlissenen und zerfetzten Kostümen des Bundesbürgers in selbstbewußter Leiblichkeit heraustreten, wird eine Bevölkerung unsicherer Kantonisten wieder zu einem verläßlichen Staatsvolk, das nötig ist, um die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts zu bestehen.

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Verstößt die Veröffentlichung dieser Thesen nicht gegen das soeben geforderte Schweigsamkeitsgebot? Könnte Bonn dann nicht die Vorteile stornieren, indem es die Unterdrückung zurücknimmt? Diese Gefahr gibt es nicht. Ein untergehendes System macht nur Fehler. Wenn es mit der Unterdrückung aufhört, ermuntert es ja die Fronde, die Zügel ganz legal zu ergreifen. Deshalb wird es fortfahren, vanbanque zu spielen, in der Hoffnung, die Fronde doch noch zu zermürben.


Quelle: Staatsbriefe 6(12) (1995), S. 1f.

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