HANS-DIETRICH SANDER / EINE PERFEKTE PAZIFIZIERUNG
Ein Mythos steht zur Disposition an. Es war der einzige Halt, an dem sich die Deutschen nach dem katastrophalen Zweiten Weltkrieg als Deutsche klammerten. Dieser Mythos war falsch. Er hatte nicht ausgereicht, daß die Deutschen sich an ihm wieder aufrichteten. Er war sogar die Voraussetzung für alle Niedergänge, die schubweise alles einrissen, bis sie einen Zustand erreichten, der noch verheerender ist als die Trümmer, die der Krieg in umfassendem Sinn hinterließ. Es gibt aus diesem Grunde keinen neuen Anfang, ehe nicht aus den deutschen Gehirnen der Bodensatz dieser Mythe entwichen ist.
Sie hieß in ihrem populären Topos das Wirtschaftswunder. Sie gewann ihre Kraft aus der unbestreitbaren Tatsache, daß die Kriegsgeneration, die bis zum Schluß tapfer gekämpft hatte, nach dem Zusammenbruch die Ärmel hochkrempelte, um die zerbombten Städte, die demontierten Industrien wieder hochzuziehen und dabei 15 Millionen Vertriebenen aus dem deutschen Osten eine neue Existenz zu bieten. Die Leistung soll hier nicht geschmälert werden. Aber es blieb dabei. Mehr entwickelte sich nicht daraus.
Die Defizite des Wiederaufbaus waren: er nahm unter der Siegerdecke keine eigene politische Gestalt an, versagte in der Auslese und Förderung eines Führungsnachwuchses, der sich zuallererst seinem Volk verpflichtet fühlte, und ebnete die vielfältige Kreativität der Deutschen und die unauslotbare Tiefe ihres Geistes zu purer Zweckverwirklichung ein. Die Einfallslosigkeit der neuen Architekturen verwandelte die zerstörten Städte mit ihrer Wiederherrichtung in gesichtslose Konglomerate von Allerweltscharakter. Ludwig Erhards Wirtschaftswunderstolz "Wir sind wieder wer" war unangemessen, ahnungslos, großmäulig.
Zum Auftakt dieses janusköpfigen Prozesses hatte Winston Churchill gegen die Deutschen gesagt: "Macht sie fett und impotent." Als das der Fall geworden war, schrieb der Oxforder Historiker A.J.P. Taylor: "In Kriegszeiten schien es, als sei die deutsche Frage nur dadurch zu lösen, daß die Deutschen aufhörten zu existieren, und das haben sie nun auch wirklich getan. Zwar sind sie immer noch da, aber atomisiert, jeder für sich dahinlebend, gut verdienend, fleißig und wohlgenährt. Aber sie bereiten niemand mehr Kopfzerbrechen, sich nicht und anderen nicht. Im Grunde wollen ja auch die Deutschen selbst nichts anderes als bei ihrem jetzigen Zustand bleiben, denn das Wirtschaftswunder behagt ihnen sehr. Man muß nur aufpassen, daß niemand kommt, der sie aus ihrem Schlaf aufrüttelt." (Als ich 1980 meinen "nationalen Imperativ" mit dem Satz begann: "Es ist wieder an der Zeit, den Furor Teutonicus zu erwecken", kannte ich diesen Seufzer der Genugtuung noch nicht.)
Hellmut Diwald hatte das 1990 in seinem letzten Werk vor seinem Tod "Deutschland einig Vaterland - Geschichte der Gegenwart", dem ich das Taylor-Zitat entnahm, als Ergebnis der Umerziehung bezeichnet, durch die "sich die Deutschen seit 1945 von Grund auf verändert, gründlicher verändert haben, als es die Präzeptoren erhofft hatten. Die Westdeutschen jedenfalls sind im Schnitt unsentimental, nationalem Kitsch abhold, unempfänglich für Pathos, besitzen wenig Gemeinschaftssinn und viel Geschäftssinn. In politicis fehlt das Selbstwertgefühl, die demokratische Zuverlässigkeit ist letztlich nur ein Indiz des Desinteresses. Daß unverändert eine beträchtliche Anfälligkeit für Autoritäres oder Faschistisches bestehen soll, ist ein Zweckbild ausländischer Interessen und inländischer Kritiker, die den mangelnden Scharfblick durch Vorurteile ersetzen."
Das Geheimnis der Umerziehung bestand in ihrer Verquickung mit der Wohlstandsschöpfung. Das war kein Zufall, sondern Taktik, wie sie Louis Nizer in seinem Buch "What to do with Germany?" explizierte, das jeder amerikanische Offizier bei der Eroberung Deutschlands im Tornister trug. Churchills Sottise "Macht sie fett und impotent" war nicht nur aus Lust und Laune entsprungen. Aber das war noch nicht alles.
Die Deutschen, arglos wie sie sind, suchten verzweifelt nach den Zäsuren und Perepetien, als sie sich nicht mehr verhehlen konnten, daß es nach dem triumphalen Wiederaufstieg steil nach unten ging. Das zunehmende, Debilitäten züchtende Interesse an Verschwörungstheorien hatte hierin seinen Ursprung. Und doch war nichts Geheimnisvolles in dieser Umkehr der Dinge. Es war nur die Initialzündung des Seelenraubes noch nicht bekannt.
Selbst Hellmut Diwald machte sich über die Ausgangslage Illusionen. Er schrieb in seinem letzten Werk über den Auftakt des Wirtschaftswunders: "Ludwig Erhard kümmerte sich um keine Kompetenzen. Er beseitigte am Stichtag der Währungsreform alle bestehenden Preisvorschriften und Anordnungen für die Bewirtschaftung, er machte Schluß mit der Zwangswirtschaft. Die Amerikaner glaubten ihren Augen und Ohren nicht zu trauen. Ein solches Maß an Unverfrorenheit hatten sie nicht erwartet nach Jahren der Demütigung und des Siegergebarens, dessen Wirkung sich Tag für Tag bestätigte, wenn Deutsche unter dem Gelächter der GI's nach Zigarettenkippen griffen. General Lucius D. Clay, Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa und Militärgouverneur für Westeuropa, wies Erhard in rüder, drohender Form zurecht. Erhard habe in alliierte Rechte eingegriffen. Ohne Erlaubnis der Militärregierung dürfe keine einzige Vorschrift über die Bewirtschaftung geändert werden. Ludwig Erhard blickte ihn kalt an: 'Ich habe die Vorschriften nicht geändert. Ich habe sie aufgehoben.'" Es ist Aufgabe künftiger Geschichtsforschung, herauszufinden, was daran Theater war. Die legendäre Szene war jedenfalls die passende Begleitmusik für die Initialzündung, die uns erst seit dem 11. Februar dieses Jahres in Umrissen bekannt ist. Sie gab Eingefädeltes als eine souveräne Entscheidung aus - eine angelsächsische Teufelei, auf die Deutsche immer wieder hereinfallen.
Am 11. 2.1998 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine eine unauffällig aufgemachte Rezension unter der Überschrift "Die Heilung der Verwirrten", die in der Beilage "Natur- und Geisteswissenschaften" den meisten Lesern entgangen ist. Sie berichtete über Uta Gerhardts Studie "American Sociology and German Re-education after World War II", (in: Stunde Null: The end and the beginning fifty years ago. Bd. 20, German Historical Institute, Washington 1997). Der Gegenstand dieser Studie ist die 1944 einberufene Konferenz an der Columbia University unter Schirmherrschaft des Außen- und Kriegsministeriums, auf der ein Expertenteam von Soziologen und Psychologen einen Dreistufenplan zur Demokratisierung Deutschlands erarbeitete. Die Konferenz leitete Talcott Parsons, ein berühmter US-Soziologe, dessen Expertise "Langfristiges Vorgeben beim Umgang mit Deutschland" eine, so die Rezension, "vollständige Wandlung des deutschen Nationalcharakters" beabsichtigte. Er sah die ideale Ausgangsbasis dafür in der kapitalistischen Wirtschaftsform. Machen wir sie zu waschechten Kapitalisten - ist der strategische Nenner dieses Unterwerfungsplans von römischen Ausmaßen.
Wenn ein Heerführer des Imperiums Romanum einen widersetzlichen Stamm oder ein aufsässiges Volk unterworfen hatte, meldete er ans Kapitol, der betreffende Landstrich sei pazifiziert. Das bedeutete maximal: die wehrfähigen Männer erschlagen, die jungen Frauen und Kinder auf dem Weg in die römische Sklaverei. Im März erfuhren die Deutschen von Michael Gorbatschow in Berlin, daß im Gegensatz zu Stalins geflügelter Devise "Die Hitler kommen und gehen. Das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt bestehen" 1943 Roosevelt erklärt hatte, Deutschland dürfe nicht mehr als Nation existieren (FAZ, 17.3.98). Der Parsons-Plan zum Umbau des deutschen Nationalcharakters durch den Kapitalismus, der in den Marshall-Plan einging, war die feine angelsächsische Art, Deutschland in römischem Sinne zu pazifizieren. Sie hatte ihren politischen Kern in dem Sachverhalt, daß die Angloamerikaner zwei Weltkriege gegen die deutsche Wirtschaftsmacht geführt hatten, die nicht auf Kapitalismus, sondern auf Volkswirtschaft beruhte.
So tat Erhard mit der Währungsreform, wie immer er dazu kam, genau das, was die Amerikaner wollten. Paul Kleinewefers beklagte in seinen Memoiren "Jahrgang 1905", daß nach 1945 leider Männer an die Spitze der Wirtschaftsverbände rückten, die im Dritten Reich als Wirtschaftsreaktionäre galten. Das war nicht der einzige Grund, warum diese Pazifizierung so perfekt durchgeführt werden konnte. Ein anderer, den Herbert Taege in den Vordergrund rückte, war der latente Sozialdarwinismus, der sich im Führungskorps des Dritten Reiches ausgebreitet hatte und vor allem in der Speer-Equipe gepflegt wurde. Amold Gehlen ging nach 1945 von der Philosophie zur Soziologie über - unter starkem Einfluß der Schriften Talcott Parsons. Glaubte er an keine deutsche Zukunft mehr, weil er dessen Expertise über das "langfristige Vorgeben im Umgang mit Deutschland" kannte und sah, wie fabelhaft es funktionierte?
Es funktionierte von Generation zu Generation (bis ins nationale Lager hinein) immer besser. Eskalierende Einbindungen sorgten von der Montanunion bis zum Euro dafür, daß die deutsche Wirtschaft nicht wieder aus dem Ruder in eine Volkswirtschaft laufen konnte. Ich betrachtete, von der DDR in die BRD übergewechselt, schon 1958 den selbstherrlichen, jede Kritik abweisenden Habitus der Wirtschaftler mit gemischten Gefühlen. Flankiert von der Sozialethik der Anpassung, trieb der Umbau unseres Volkscharakters durch den Kapitalismus eine Egozentrik hervor, wie es sie bei uns nie gegeben hatte. Diese Zerstörung der deutschen Volksgemeinschaft machte die Deutschen erst wehrlos gegen die immer wieder und wütender anbrandenden Wellen der Vergangenheitsbewältigung.
Die Ersetzung des Volksbegriffes durch den Gesellschaftsbegriff der Frankfurter Schule anlasten zu wollen, ist zu einseitig. Das blieb doch akademisch begrenzt. Viel stärker und breiter wirkte der faule Zauber, den Erhards Chefideologe Rüdiger Altmann mit dem Schlagwort "formierte Gesellschaft" entfesselte. Ein Pendant dazu war Joseph H. Kaisers "Repräsentation der organisierten Interessen". Und beide, Kaiser wie Altmann, waren Adepten von Carl Schmitt!
Das Wirtschaftswunder ist nun vorbei. Die von ausländischen Auflagen her mißglückte Vereinigung mit der DDR und die "langfristige" Umwandlung Deutschlands in ein Einwanderungsland - Fehlentwicklungen, denen die herrschenden Klassen nicht den geringsten Widerstand entgegensetzten - haben inzwischen eine explosive Lage geschaffen, bei der man sich fragen kann, ob es von den Amerikanern nicht unvorsichtig war, den Parsons-Plan, der nie publik wurde, für die zeitgeschichtliche Erforschung freizugeben.
Aus der hybriden Sicht Washingtons nicht. Sie hält Deutschland für alle Zeiten pazifiziert. Das "zahme Monster" nannte der amerikanische Deutschland-Korrespondenz David Binder unser Land im Spiegel 2/98. Und niemand regte sich auf. "Suckers" heißen Amerikaner die Deutschen gern in jüngster Zeit, und sie können junge Deutsche mit T-Shirt sehen, die mit diesem Wort bedruckt sind. Suckers, das sind dumme Schweine.
Wir sollten uns dessentwegen nicht betrüben. Auch die Karriere des Wortes Christen begann einmal als Schimpfwort.
Quelle: Staatsbriefe 9(4) (1998), S. 1f.