HANS-DIETRICH SANDER / DER STAAT ALS BÜRGERKRIEGSPARTEI

"Keine Sentimentalitäten, wir befinden uns im Bürgerkrieg", mit dieser flotten wie scharfen "Sentenz, die aus dem Arsenal des Kartätschenprinzen zu stammen schien, fegte vor einem Vierteljahrhundert Jürgen Habermas akademische Einwände vom Tisch, als ein Lehrstuhl mit Armin Mohler besetzt werden sollte, den er für politisch untragbar hielt. In Fachbereichen, in denen er sich für zuständig hielt, wurden, on dits zufolge durch Jahrzehnte kein einziger Lehrstuhl ohne ein Votum von Habermas vergeben.

Man führt das oft auf das Jahr 1968 zurück, auf die Rede Herbert Marcuses von der repressiven Toleranz, die progressive Intoleranz gebar. Man vergißt dabei, daß die Repressalien, die nach dieser Zäsur anstiegen, nur Eskalationen gewesen sind. Den unerfreulichen Grundzustand hatte es in der BRD schon vorher gegeben, so sehr sie sich auch erhaben dünkte über Unterdrückungsmaßnahmen in der DDR.

"Ich promoviere Sie gern, aber mit einem Doktorhut von mir kommen Sie nicht weiter", sagte mir Hans-Joachim Schoeps, als ich 1968 bei ihm vorsprach. Und er fügte in resignativem Rückblick auf seine Lehrtätigkeit, die der Emiritierung entgegensah, hinzu: "Keiner meiner Schüler konnte Ordinarius an einer deutschen Universität werden." Was das bedeutete, ermaß ich erst später, als ich die Bibliographie der 53 bei ihm angefertigten Dissertationen las, die alle von exzellenter Thematik zeugten. Den meisten Namen bin ich bis heute nie begegnet. Einige brachten es auf Nebenstellen oder an Fachhochschulen zu einer Lehrtätigkeit. Auch Helmut Diwald kam in Erlangen nur zu einer außerplanmäßigen Geschichtsprofessur.

Mit den Schülern von Diwald verhielt es sich ähnlich, wenn nicht noch schlimmer. "Ich promoviere Sie gern", sagte er zu meiner Frau, als sie bei ihm vorsprach. "Aber Sie müssen wissen, daß meinen Prüflingen von meinen Kollegen die allergrößten Schwierigkeiten bereitet werden." So gesprochen und so geschehen - zu einem glücklichen Ende schließlich, auf das nichts folgte.

Henning Eichberg hat die Geisteshaltung, aus der ein solcher Ungeist hervorging, in einer Skizze seiner politischen Biographie in Wir selbst, 1/98, S. 42, auf den Nenner des "konfrontativen Habitus" gebracht, der die geringsten Konflikte bürgerkriegsartig zuspitzt. "Da wird", wie es in dem Panorama heißt, das er entwarf, "'Front' gemacht gegen welchen Feind auch immer - gegen die 'Reichsfeinde' gegen den Kommunismus, 'gegen Rechts' - noch bevor es (oder statt daß es) zum Gespräch kommt. Ob man mit dem 'Verfassungsschutz' die freiheitliche demokratische Grundordnung gegen ihre 'Feinde' verteidigt, ob man in der Jungen Freiheit die Achtundsechziger austreibt oder in Gremlizas Konkret gegen die 'völkische' PDS vom Leder zieht - man ist immer 'schneidig'."

Dem ist nur hinzuzufügen, daß die Bekämpfung welcher Feinde auch immer von der Diskriminierung über die Ausgrenzung bis zu gerichtlicher Verfolgung geht mit dem Ziel, den "Feind" möglichst hinter Gitter zu stecken, und daß der kritische Nachweis dieser Praktiken zu neuen Feinderklärungen führt, indem er umgemünzt wird in eine Diffamierung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung - wie der Bundesverfassungsschutzbericht von 1997 die Beiträge der Staatsbriefe zum "Rechtsverfall" frech qualifizierte.

Das alles hatte seinen Ausgang in der administrativen Form der Vergangenheitsbewältigung nach 1945, die nicht in einem kognitiven, sondern in einem konfrontativen Habitus vollzogen wurde und, nachdem der amerikanischen Hochkommissar McCloy zu Adenauer sagte, sie dürfe nicht beim Dritten Reich stehenbleiben, sie müsse mindestens bis Bismarck zurückgehen, einen Bereich nach dem anderen, beileibe nicht nur in der Geschichtsschreibung, ergriff.

Die geistige Atmosphäre der Bonner Republik ist seit ihren Anfängen bürgerkriegsgeladen gewesen. Wenn sie sich zu beruhigen schien, sorgten, oftmals von ausländischen Geheimdiensten inszenierte, Zwischenfälle dafür, daß sie wieder angeheizt wurde, und zwar in stets gesteigerter Intensität.

Das konservative Element hatte lange eine gewisse Narrenfreiheit. Auch das rechtsradikale, das säuberlich vom rechtsextremistischen Element unterschieden wurde. Alsbald galt auch das rechtsradikale Element als rechtsextremistisch. Schließlich wurde darunter auch das konservative subsumiert, bis alles als neonazistisch verschrien wurde.

Die politischen Verhältnisse schienen lange von Bürgerkriegsimpulsen frei zu sein. Sie waren es aber nur scheinbar. Mit dem Verbot der KPD und dem Berufsverbot für Kommunisten zerstoben die ersten Illusionen. Es wäre ausgesprochen töricht gewesen, wenn Bonn immer die deutsche Einheit im Auge gehabt hätte, denn über eine KPD im Bundestag wäre es zweifellos möglich gewesen, die innerdeutschen Spannungen zur DDR zu mildem oder abzubauen. Stattdessen bildete Rainer Barzel das, McCarthy nachgedachte Komitee "Rettet die Freiheit", das besonnene Politiker, die es noch gab, nicht zum Zuge kommen ließen. Das Bedenkliche dieser Entwicklung bestand darin, daß von der antikommunistischen Intention her der Bonner Staat zur Bürgerkriegspartei wurde.

Er wurde es nicht nur von dieser Intention her, sondern in bestimmtem Sinne auch institutionell: durch seine Form als Parteienstaat.

Die Parteien begannen ihre Karriere einst in der konstitutionellen Monarchie als Korrektive. In einer Republik, deren Staatsoberhaupt von Entscheidungen und Verantwortlichkeiten entbunden ist, ergreifen sie allein oder im Verbund die Macht im Staat, die sie totalitär gegen jede Kraft wenden, von der sie fürchten, daß sie sie ihnen streitig machen könnte. Ich erinnere mich noch genau an die Fernsehdiskussion, als es den Grünen gelang, in den Bundestag zu kommen. Strauß und Kohl gingen am runden Tisch gegen sie vor, daß man den Eindruck haben konnte, sie hätten sie am liebsten erwürgt. Ich begriff erst in diesem Moment, daß die Bürgerkriegserklärung und Bürgerkriegsführung durch die RAF nur die Entgegnung auf eine verdeckte Bürgerkriegslage war, in der es sogar möglich gewesen ist, einen Jüdischen Remigraten wie Hans-Joachim Schoeps wegen seiner Ehrenrettung Preußens, die dem antipreussischen Bonner Staat nicht paßte, auszugrenzen.

Der Staat als Bürgerkriegspartei aber steht auf verlorenem Posten. Es wird ihm wie den absoluten Monarchien ergehen, die im Zeitalter der religiösen Bürgerkriege konfessionelle Partei ergriffen. Der Staat der Neuzeit stieg auf durch seine konfessionelle Neutralität. Er ist gezeichnet, wenn er in den ideologischen Bürgerkriegsparteien des 20. Jahrhunderts zur Partei wird.

Diese Konstellation gibt es in Deutschland nicht erst seit 1945. Die Auflagen und Zielsetzungen der Besatzungsmächte hätten sich nicht so verheerend auswirken können, wenn es nicht schon eine ]3ürgerl~zriegsdisposition gegeben hätte. Deutschland erlebte seit dem Ende des Kaiserreichs verschiedene Varianten des Bürgerkriegs: aufgehoben war er seit dieser Zeit nie -in der Zeitspanne durchaus vergleichbar mit Rußland. Die Weimarer Republik ist in einem Wechselspiel bürgerkriegsähnlicher Situationen untergegangen. Der Staat des Dritten Reiches wurde schnell zur Bürgerkriegspartei. Die DDR war es von ihren Anfängen an in ausgeprägter Form, die BRD zunächst präsumtiv. Die innerdeutschen Spannungen radikalisierten die Affinitäten. So konnte Martin Walser die Deutschen mit Fug und Recht ein Religionskriegsvolk nennen?

Bonn hätte es in der Hand gehabt, diese unerträglichen Zustände im Zuge der Vereinigung mit der zusammengebrochenen DDR zu beenden. Die Voraussetzungen dafür aber wären die Inanspruchnahme der Souveränität und die Durchsetzung des inneren Friedens gewesen. Und das sollte und wollte Bonn nicht. Es erfüllte statt dessen die Zustimmungsbedingungen der Besatzungsmächte, daß die ungewünschte Vereinigung wenigstens nicht zu einem neuen deutschen Nationalstaat führen dürfe -radikaler, als jene es wollten und aus eigenen Interessen wünschen dürften.

So wurde die Einheit von einem Staat vollzogen, der seine Rolle als Bürgerkriegspartei in verstärktem Maße spielte. Zu dem Zweck, der in der Unterdrückung und Verfolgung aller nationaler Bestrebungen seit 1990 immer klarer hervortrat, das eigene Volk abzuschaffen. Mit der absoluten Perversität, daß die Parteien beanspruchen, dafür auch noch von diesem Volk gewählt zu werden.

Wer da meint, ich überzöge, stelle die Drohungen der CDU/CSU im anstehenden Bundestagswahlkampf gegen die PDS in diesen Zusammenhang. Wenn Kohls Sprecher Hauser den Mitteldeutschen verheißt, sie würden die Zuwendungen aus dem Westen Deutschlands verlieren, wenn sie die PDS wählten, wenn Walgel die PDS eine kriminelle Vereinigung nennt, wenn Stoiber erklärte, die Extremisten bis aufs Messer zu bekämpfen -was sind das anders als rüde Bürgerkriegserklärungen?

In diese Lage fuhr eine Annonce des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Gerhard Schröder am 23. Mai in der FAZ wie der Blitz, der ein reinigendes Gewitter eröffnet. Ich zitiere ihren vollen Wortlaut:

Zuerst das Land, dann die Parteien. Deutschland braucht Zusammenhalt und Gemeinsinn. Ich will, daß unser Volk zusammenfindet und die Politik die Kraft hat, die großen Probleme rasch und entschlossen im Konsens anzupacken, allen vor an die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Dazu müssen wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft neu begründen. Wir brauchen einen Politikstil, der das Klima im Land nicht vergiftet. Auch in den kommenden Monaten muß gelten: Der Amtseid des Bundeskanzlers fordert den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Das verbietet, Menschen gegeneinander aufzuhetzen und ihre Motive absichtsvoll herabzusetzen. Ich werde mich daran halten. Über die Sache darf gestritten werden. Es geht um die besseren Konzepte. Aber es muß fair zugehen, und die Interessen des Landes müssen im Vordergrund stehen. Es darf kein Politikstil einreißen, bei dem aus Angst um Machtverlust das parteitaktische Interesse vor die Interessen des Landes und des Gemeinwohls gesetzt wird. Der Grundkonsens zwischen tüchtigen Unternehmern, qualifizierten Arbeitnehmern und den großen, gesellschaftlichen Gruppen hat unserem Land Wohlstand und eine stabile Demokratie gebracht. Den Weg will ich weitergehen. Ich werde alles tun, um eine Initiative Gemeinsinn und Zusammenhalt auf den Weg zu bringen. Wie es früher die Konzertierte Aktion geschafft hat, will ich nach der Bundestagswahl wieder Unternehmer, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik zu gemeinsamen Problemlösungen zusammenführen. Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Modernität und soziale Gerechtigkeit auch in Deutschland zu verbinden. Wir müssen die geistigen Blockaden in Deutschland aufbrechen, damit es endlich aufwärts geht! Nur so geht es.

Noch nie hat ein deutscher Politiker seit 1945 eine solche Sprache geführt. Sie wirkte wie ein Schock. Es gab keinerlei Reaktion. Meine Freunde reagierten gespalten. Die einen sagten, dies sei eine Summa aus 8 Jahrgängen Staatsbriefie zur Wiedereinführung der deutschen Freiheit, die anderen fürchten, es handele sich um eine neue "blühende Landschaft". Gleichwie: Gerhard Schröder wird an diesem Text gemessen, gefeiert oder verworfen werden.


Quelle: Staatsbriefe 9(5) (1998), S. 1f.


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