WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (4)

In der nichtrevisionistischen Kriegsgeschichtsschreibung im postkommunistischen Rußland wurden bis vor kurzem auf dem weiten Feld der ideologischen Trümmerlandschaft fünf heilige Kühe nicht angetastet.

1.) Stalins Säuberung des Offizierkorps 1937/38 dezimierte die Rote Armee um mindestens 40 000 Kader. Im Oberkommando wurden die elf stellvertretenden Verteidigungskommissare hingerichtet, 75 von 80 Mitgliedern des Obersten Kriegsrates erlitten das gleiche Schicksal. Der Befehlshaber der Kriegsmarine, der Generalinspekteur der Luftwaffe, der Panzerstreitkräfte, der Luftlandetruppen und der Artillerie starben im Feuer der Exekutionskommandos 13 von 15 Armeeführern, 57 von 85 Korpskommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren, 220 von 406 Brigadekommandeuren verschwanden in den Hinrichtungskellern Jeschows. Von den fünf Marschällen blieben nur zwei übrig. Umgebracht wurden 90 Prozent der Generale und 80 Prozent der Obersten, was etwa der Hälfte des sowjetischen Offizierkorps entsprach.

Drei Jahre später, als Hitler gegen Stalin antrat, hatte sich die Rote Armee von diesem Enthauptungsschlag, der ihr die erfahrensten Militärführer raubte, noch nicht erholt, zumal im Stalinschen Blutbad auch sämtliche "Helden des Bürgerkrieges" untergebracht waren.

2.) Bei Ausbruch des Krieges war die von Marschall Michail Tuchatschewskij (1893-1937) geschaffene Panzerstreitmacht den Deutschen quantitativ wie qualitativ überlegen. 1936 forderte er 50 000 Panzer, und er bekam sie.

3.) Stalin setzte von Anfang an auf eine Massenarmee, nicht auf eine Berufs- oder Elitearmee. In diesem Punkt bewies Stalin als Kriegstheoretiker seine Überlegenheit gegenüber Hitler. 1939 zählte die Rote Armee 5,3 Millionen Mann, am 22. Juni 1941 angewachsen auf 5,5 Millionen.

4.) Trotz seiner Fehler vor dem Kriege zeigte sich Stalin im Verlaufe des Krieges als militärisches Genie.

5.) Am Sieg über Deutschland hatten die Politkommissare einen großen Anteil, die Zusammenarbeit zwischen militärischer und politischer Führung auf Frontebene garantierte Verteidigung und Vormarsch der Sowjetarmee. Ohne den Einsatz der Politkader wären die Erfolge der Truppe undenkbar gewesen.

An der Gültigkeit dieser fixen Ideen setzt der Publizist und Zeitgeschichtler Jurij Muchin seine Hebel in der Moskauer Zeitschrift Duell an. Seine tabustürzende Serie in den Nummern 11, 12, 13 vom Jahre 1997 trägt den Titel: "Po sledam Tuchatschewskowo". Deutsch: Auf den Spuren Tuchatschewskijs. Duell ist ein typisches neurussisches Intellektuellenblatt, das sich vornehmlich literarischen und historischen Problemen widmet. Finanziell unabhängig, zählt Duell, herausgegeben vom Schriftsteller Wladimir Smirnow, zu den Intelligenzijatribünen der "Nationalpatrioten".

Eine ideologische Nähe besteht zum Abgeordneten Sergej Baburin, Vizepräsident der Duma und Vorsitzender des Duma-Ausschusses "Anti-Nato". Der Neo-Slawophile Baburin, einer der schärfsten Liberalismuskritiker in Rußland, Vertreter der "russischen Idee" und des "dritten Weges", sprach im September auf einer internationalen Konferenz des Deutsch-Russischen Forums in Bonn. Im Unterschied zu den meisten russischen Zeitschriften agiert Duell auch im Internet.

Für ein Periodikum, das sich bislang vom Lager der Revisionisten distanziert hat, bedeuten Muchins Feststellungen eine Sensation. In Nr. 13,Juli 1997 entblättert Muchin eine Reihe von Tabus bezüglich des sowjetisch-deutschen Krieges, konkret:

1.) Der große militärische Gegenspieler Tuchatschewskijs und später Stalins und seiner Stawka war nicht Hitler, sondern Heinz Guderian. Muchin zitiert erstmals aus Analysen und Gutachten des deutschen Panzerkriegsstrategen.

2.) Das Blutbad in der leninistisch-trotzkistischen Roten Armee 1937/38 schwächte nicht den Widerstand nach 1941, im Gegenteil, die Liquidierung der internationalistischen Bürgerkriegsgeneräle verlieh dem Volkswiderstand der Russen vollkommen neue Impulse und ermöglichte erst die Mobilisierung zu einem "vaterländischen Krieg". (Diese These vertritt auch der unseren Lesern bekannte HistorikerAnatolij Iwanow,Verfasser des "Logik desAlptraums", russisch 1993, deutsch 1995 im Berliner Verlag der Freunde.)

3.) Tuchatschewskij und seine Generäle bauten eine Panzerwaffe auf, die sich den deutschen Panzerdivisionen als unterlegen erwies, mit einer veralteten taktischen und strategischen Konzeption: mehrtürmige Ungetüme nach französischem Vorbild vom Ende des 1. Weltkrieges, leichte Kavallerie-Kampfwagen nach britischem Vorbild der frühen dreißiger Jahre.

4.) Guderian schuf Panzerkorps mit Schützen- und Artillerieregimentem, die sowjetische Militärdoktrin kannte nur "reine" Panzereinheiten. Als der Krieg ausbrach, war die sowjetische Panzerwaffe in jeder Hinsicht unmodern – Panzer ohne Funk, Artillerie, Selbstfahrlafetten, ohne Schützenpanzerwagen, ohne Werkstattkompanien.

5.) Die Durchsetzung der Roten Armee mit Politkommissaren erwies sich nicht als politpsychologische Voraussetzung militärischer Erfolge, vielmehr als Ursache von Kommandochaos, Defätismus, Rückzug, Flucht, von verlorenen Schlachten.

6.) Das moderne Taktikprinzip der Wehrmacht, Kampfaufträge durch ein Maximum von Freiheit und Initiative der Truppenführer zu erfüllen, demonstrierte bis zuletzt die Überlegenheit über einen barbarischen Kadavergehorsam.

Gehen wir auf spezifische Aspekte der Muchin-Argumente näher ein.

Es sei geschichtswidrig, schreibt er, in Tuchatschewskij einen "großen Panzerstrategen" zu sehen, ihn als Erfinder des Blitzkrieges, ja sogar als "Lehrer" der deutschen Panzerführer zu bezeichnen. Das Gegenteil sei wahr; Tuchatschewskij sei ein Schüler Guderians gewesen, aber ein schlechter, der die Prinzipien des modernen Panzerkrieges überhaupt nicht begriffen habe – mit verhängnisvollen Auswirkungen in der ersten Phase des Krieges, 1941. Muchin beruft sich auf Guderian selbst und zitiert ausführlich aus Guderians Werk "Achtung-Panzer!" (Stuttgart 1936).

Guderian begann sein Buch damit, daß er die Ursachen für die Fehlschläge der alliierten Tankoperationen 1916-1918 analysierte. Er führte ihre Grundfehler auf: Franzosen und Briten griffen nie in ausreichender Tiefe an und wurden nie durch starke mobile Infanterie unterstützt, sie brachen zwar in die deutsche Front ein, durchbrachen sie aber nie. Das volle Potential wurde geopfert, indem man die Tanks mit so langsamen Einheiten wie marschierender Infanterie und pferdebespannter Artillerie zusammenballte. Ihre neue Waffe setzten die Alliierten in kleinen Päckchen statt konzentriert ein. Eine Wende sah Guderian in vollmechanisierten Panzerdivisionen, deren Komponenten – motorisierte Artillerie, Pak, Flak sowie Schützen und Pioniere – eng zusammenarbeiteten und sich alle mit dergleichen Geschwindigkeit fortbewegen konnten. Die unhandliche pferdebespannte Artillerie sollte durch Geschütze auf Selbstfahrlafetten ersetzt werden. Dicht hinter den Durchbruchspanzern (mit hoher Geschwindigkeit, genügend Panzerung und starker Kanonenbewaffnung) sollte die vollmotorisierte Infanterie mit der Aufgabe folgen, die Erfolge der Panzer auszubeuten, "aufzuräumen", dem Feind das umkämpfte Gelände zu entreißen und zu besetzen.

Muchin: "Daß auch im Panzerkampf nur jenes Gebiet als erobert gilt, auf das der Schütze seinen Fuß gesetzt hat, dieses Axiom hatte der ‘große Stratege’ Tuchatschewskij niemals begriffen, und man darf annehmen, daß er ein Feind dieses Axioms war."

Wenn es dem Angreifer, so Guderian, einmal gelungen war, in die Verteidigungszone des Gegners einzubrechen, "kann man sich zur Säuberung der Infanteriekampfzone mit verhältnismäßig schwachen Panzereinheiten begnügen, die Infanterie kann alsdann die Erfolge der Panzer ausnützen". Dieser Lehrsatz Guderians, von Muchin erstmals ins Russische übersetzt, erscheint wegen seiner Bedeutung mehrmals in der Duell-Serie.

Nach Guderian mußte eine Durchbruchs- oder Kesselschlacht durch Panzeroffensiven folgende Forderungen erfüllen: Überraschung, geeignetes Gelände, Masseneinsatz in der größtmöglichen Breite und Tiefe, Zusammenwirken mit der motorisierten Infanterie, wobei Guderian schon 1936 an die Konstruktion von Schützenpanzerwagen dachte, etwas völlig Neues in der Kriegsführung nach dem 1. Weltkrieg.

Trotz des alarmierenden Titels "Achtung - Panzer!" wurde Guderians Theorie von den französischen, britischen und sowjetischen Führern ignoriert. Das Buch wurde nie ins Englische, Französische oder Russische übersetzt, es scheint nie von jemandem studiert worden zu sein, der in den jeweiligen Generalstäben eine Schlüsselposition einnahm. Mit einer Ausnahme: Marschall Tuchatschewskij. Doch dieser zog aus dem Produkt einer visionären militärischen Intuition die falschen Schlüsse. Das hat eine interessante Vorgeschichte.

In Ausführung des Rappalo-Vertrages waren Offiziere der Roten Armee zum Generalstab der Reichswehr abkommandiert worden. Einer von ihnen war Tuchatschewskij. 1923 gehörte er der "Sondergruppe" an, welche die Führung der deutschen Roten Garde übernehmen sollte, für den Fall, daß die kommunistische Revolution in Berlin siegen könnte. Danach ist Tuchatschewskij noch fünfmal in die Reichshauptstadt zurückgekehrt; einmal, um einen Lehrgang in der Reichswehr mitzumachen und um den großen Manövern beizuwohnen. Diese Aufenthalte hatten Tuchatschewskij die Möglichkeit gegeben, an Ort und Stelle den Aufstieg des Nationalsozialismus kennenzulernen. Er hatte die Auffassung deutscher Militärs über den Einsatz von Panzern gehört. Mit der in Deutschland gewonnenen Erkenntnis, daß gepanzerte Kräfte in großen selbständigen Einheiten zusammengefaßt werden mußten, um sie wie einen Keil in die feindliche Front hineinzustoßen, kehrte er nach Moskau zurück. Ab 1934 forcierte er die Motorisierung der Roten Armee. Die Zahl der Panzerbataillone stieg von 20 auf 200, zur Gründung mechanisierter Korps wurden diese Bataillone in Brigaden zusammengefaßt. 1934 wurden zehn Brigaden aufgestellt, die ersten Panzerdivisionen standen 1937 bereit, als die Mannschaftszahl der Roten Armee insgesamt drei Millionen überschritten hatte.

Die Zahl war überwältigend, aber stimmte auch seine Panzerkriegsdoktrin? Nach dem Urteil Muchins beruhte Tuchatschewskijs Panzertheorie, die bis zum Sommer 1941 Gültigkeit besaß, auf einem ineffektiven, kontraproduktiven Angriffsprinzip: schnelle leichtbewaffnete, schwimmfähige Kleintanks und schwerbewaffnete langsame Dinosaurier mit vier und mehrTürmen ohne Infanterie. Auf je zwei mechanisierte Brigaden mit je 500 Tanks kam eine einzige Schützenbrigade, die von ungepanzerten Kolchos-Lastkraftwagen ("Russkij Ford") transportiert wurden. Für seine Mech-Brigaden hatte Tuchatschewskij keine Artillerieunterstützung vorgesehen. Seine Mehrturm-Ungeheuer (T-35 und SMK), nach dem französischen Vorbild vom Ende des Ersten Weltkrieges konstruiert, mit einer Besatzung bis zu zehn Mann, liefen im Schrittempo und hatten eine schwache Panzerung, während die schnellen und kleinen und mittleren Kampfwagen (BT, T26 ,T27) schon bei Beginn des Polenkrieges total veraltet waren.

Im Unterschied zu Tuchatschewskij zeigte sich der Fortschritt der Panzerwaffe Guderians in der Kombination von neuartigen Panzerdivisionen, die neben einem reinen Panzerregiment zwei motorisierte Schützenregimenter und ein motorisiertes Artillerieregiment aufwiesen. Was Tuchatschewskij nicht vorgesehen und daher auch nicht eingeführt hatte: Sprechfunk von Panzer zu Panzer, eine Werkstattkompanie pro Panzerbataillon, Schützenpanzerwagen mit MG, Kanone, Granatwerfer, russisch "bronetransporterij". Abgesehen von allen ideologischen, politischen, psychologischen Prämissen war die technologische, militärische Unterlegenheit der sowjetischen Panzerstreitkräfte 1941 ein Faktum und eine der Hauptursachen für die Niederlagen der Roten Armee zwischen Minsk und Stalingrad. Den Krieg gegen Hitler hätte Stalin 1941/42 auch aus diesen Gründen verlieren können.

Jurij Muchin hebt zu einer Hymne auf den deutschen Schützenpanzerwagen an, den gepanzerten Mannschaftstransportwagen SdKfz 251 in all seinen Abarten, von dem bis 1944 ca. 20 000 Stück gebaut wurden. Ein Halbkettenfahrzeug, das zusammen mit den Panzern die Angriffsspitze bildet, aus der Sicht der Russen eine Wunderwaffe. Daß die Infanterie in einem geschützten Fahrzeug an die vorderste Kampflinie herangeführt wird, um dort zu Fuß zu kämpfen, war für jene Zeit revolutionierend und hat nach 1943 die Amerikaner angespornt, einen ähnlichen Schützenpanzerwagen zu entwickeln, den M 3.

Nicht so auf sowjetischer Seite, wo man bis Kriegsende nicht in der Lage gewesen ist, ein gepanzertes Schützenbegleitfahrzeug zu konstruieren. Statt dessen bediente man sich der erbeuteten SdKfz 251 – man übermalte das schwarze Kreuz mit einem roten Stern. Erst nach dem Krieg begann man auf sowjetischer Seite mit der Produktion von Schützenpanzerwagen.

Voller Bewunderung ist Muchin für die deutschen Artillerie-Selbstfahrlafetten (Haubitze, Langrohr, Flak, Pak), für die allen Sowjetpanzern überlegenen Typen "Panther" und "Tiger", wobei er sich auf die Memoiren Marschall Rokossowskijs beruft; dieser schildert die Tragödie russischer Infanteristen, die gezwungen waren, die schweren Maschinengewehre und Granatwerfer auf ihren Schultern in 50-km-Märschen nach vorne zu schaffen, in den Untergang. Die Erschöpften waren nicht in der Lage, ihre Waffen gegen den Feind zu richten.

Was der 1937 erschossene Marschall seinem Liquidator Stalin hinterließ, war eine Panzerwaffe ohne moderne Panzerung, ohne Panzerfunk, ohne Panzerwerkstatt einheiten. Während die Deutschen in der Lage waren, 75 Prozent ihrer abgeschossenen "Tiger" und "Panther" in kürzester Zeit wieder einsatzfähig zu machen, mußten die Russen ihre beschädigten Kampfwagen fluchtartig verlassen. Muchin erwähnt die Tragödie der 41. Panzerdivision. Bis zu den Augustkämpfen im Baltikum verlor die mit überschweren "Klementij Woroschilow" ausgerüstete Division 56 ihrer 63 Einheiten. Muchin: "Es waren nicht nur die Deutschen, die uns zerschlugen, der Hauptschuldige dieser Niederlage hieß Tuchatschewskij, der angebliche Genius der sowjetischen Tankstrategie."

Gnadenlos verurteilt Muchin auch die Politkommissare. Als Beweis zitiert er das bis heute geheime Gutachten Guderians vom 7. November 1941. Das Resultat zusammengefaßt: Die oberste Militärführung versuchte vom ersten Tage des Krieges an, deutsche Strategieprinzipien anzuwenden, wurde jedoch von der obersten politischen Führung daran gehindert. Die mittlere Kommandobasis der Roten Armee, von durchaus tapferen Persönlichkeiten getragen, war nicht in der Lage, ihren militärischen Willen gegen den Primitivismus der politischen Führung durchzusetzen. Widersprüchlich die untere Kommandoführung: einerseits Panikstimmung bis hin zur Kapitulation, andererseits Kampf bis zum letzten, wobei die Politkommissare zum allgemeinen Chaos erheblich beitrugen. Kommandeure der Fronttruppenteile erwiesen sich als nicht flexibel, waren ihren Aufgaben nicht gewachsen, fürchteten die Politkommissare, deren Einfluß grenzenlos war. Bedingungslose Verteidigung ohne Schonung von Menschenleben verlangten allein die Politkommissare. Guderian wörtlich: "Die russische Kommandostruktur ist der deutschen weit unterlegen." Muchin untermauert die Aussage Guderians mit der OKW-Analyse vom 1. Dezember 1941.

Das klassische Beispiel für eine von Politruks (das sowjetische Kürzel für Politkommissare) und Geheimpolizei herbeigeführte militärische Katastrophe war der Fall von Smolensk am 17. Juli 1941, genau 33 Jahre nach der Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg. Stalins Stawka wollte Smolensk um jeden Preis halten, als Garanten dafür galten Politruk-Kasernen und NKWD-Sondereinheiten. Smolensk 1941 war so etwas wie Stalingrad: bolschewistisches Symbol und strategisch lebenswichtige Position. Smolensk war der Schlüssel zu den Toren des Kreml. In dieser Festung am oberen Dnjeprer focht Napoeon am 17.August 1812 den Sieg für seinen Marsch auf Moskau. Hier schlug drei Monate später, am 17. November 1812, Kutusow die Grande Armee. So gaben Marschall Timoschenko und General Jeremenko, letzterer der Oberbefehlshaber der sowjetischen Westfront, dem Kampfkommandanten der Stadt den Befehl zur "totalen Verteidigung".

Straßen und Plätze wurden verbarrikadiert, schwere Bunker gebaut. Jedes Haus, jeder Keller, jede Fabrik war ein Widerstandsnest. Fabrikarbeiter, Angestellte, Studenten, Frauen, sogar Schüler waren bewaffnet worden, darauf vereidigt, ihre Häuserblocks zu halten oder zu sterben. Das militärische Verteidigungskorsett bildeten Panzer und Schützen des 34. Korps. Und trotzdem fiel Smolensk. Fiel schnell. Innerhalb von 48 Stunden. Erstürmt von einer einzige deutschen Division gegen zehnfache Übermacht. Die Thüringer, Sachsen, Hessen der 29. Panzergrenadierdivision (damals noch 29. I. D. mot., die legendäre Falken-Division) nahmen im Sturm die schweren Batterien auf den historischen Höhen von Konjuchowo. Im Kampf mit der blanken Waffe genommen die Industrieviertel in der Nordstadt. Mit Pistole, Handgranate, Bajonett eroberten die Thüringer der Regimenter 15 und 71 Haus um Haus, Keller um Keller.

Warum fielen die Arbeiterviertel von Smolensk innerhalb von 48 Stunden, warum wurde Smolensk nicht das erste Stalingrad? Weil die russisch-proletarischen Miliztruppen den Durchhaltebefehlen der Politruks und NKWD-Funktionäre gehorchen mußten. Aber sie wollten nicht gehorchen; lieber die deutschen Eroberer als Stalins Genickschußbrigaden.

Für Stalin und seinen Gulagismus wollte im Juli 1941 kein Russe mehr sterben. – Am 25. Tag des sowjet-deutschen Krieges war mit dem Fall von Smolensk das erste operative Ziel des "Unternehmens Barbarossa" geschafft. Guderians und Hoths schnelle Truppen der Heeresgruppe Mitte hatten 700 Kilometer hinter sich; bis Moskau waren es nur 350 Kilometer. Daß dies nicht ohne die Russen zu schaffen war, ahnten Guderian, Hoth und Hoepner. Hitler wollte davon nichts wissen.

Für Jurj Muchin ist Hitler der Fortschrittlichere – militärstrategisch betrachtet: "Für Hitler war nicht ein Massenheer à la Stalin das Werkzeug, sondern eine zahlenmäßig kleine, schlagkräftige, gut trainierte und geschulte, vorzüglich motivierte Streitmacht. So zerschlug er Polen ohne allgemeine Mobilmachung, praktisch mit einer Friedensarmee, und nach dem Sieg über Frankreich konnte er sich sogar eine partielle Demobilisierung erlauben… Die eigentliche Überlegenheit der Deutschen aber bestand darin, daß sie seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre Offiziere zu einem selbständigen Handeln erzogen hatten, mit dem Willen zur Eigeninitiative in gegebener Kampfsituation, handelnd nach dem jeweiligen Auftrag. Wir dagegen irren wie Blinde in der Frage, was dazu führte, daß wir uns der Institution der Politkommissare unterworfen haben… Was wir als Stärke ansahen, nämlich den Primat einer politischen Befehlsgebung, wurde von deutschen Generälen völlig zu Recht als Schwäche der Roten Armee betrachtet."

Die Behauptung Chruschtschows, die Niederlagen der Jahre 1941 und 1942 wäre Stalins Massakern im Offfzierskorps 1937 anzulasten, nennt Muchin einen Mythos, der von der Tatsache ablenken solle, daß die entscheidenden militärtechnischen und kriegsstrategischen Fehler von Tuchatschewskij und seinen "Mitverschwörern" begangen worden sind.

Davon war bei Chruschtschow auf dem XX. Parteitag nicht die Rede. Er ging auf die verhängnisvolle Rolle der Politkommissare und der Panzerkonzeption à la Tuchatschewskij überhaupt nicht ein. Chruschtschows Legende: "Während dieser Zeit wurden die Offiziere, die in Spanien und im Fernen Osten Kriegserfahrungen gesammelt hatten, fast völlig ausgelöscht. Diese Politik einer weitgehenden Verfolgung gegen die militärischen Führungsgrade hatte gleichzeitig das Ergebnis, die Disziplin zu lockern, weil man jahrelang die Offiziere aller Grade und selbst die Soldaten in der Partei und in den Zellen der jungen Kommunisten gelehrt hatte, ihre Vorgesetzten als versteckte Feinde zu entladen. Es ist natürlich, daß diese Tatsache einen negativen Einfluß auf die militärische Disziplin während der ersten Kriegsperiode ausübte." Eine Unwahrheit, denn die frustrierten Rotarmisten des Jahres 1941 mißtrauten nicht nur ihren Offizieren und Politkommissaren, sondern dem Stalin-Regime generell, einschließlich Chruschtschow. Ihre "Disziplinlosigkeit" richtete sich gegen den Kommunismus. Anders ist die Tatsache von fast 3,5 Millionen Gefangenen und Überläufern allein im Jahre 1941 nicht zu erklären. Im übrigen bezweifelt Muchin keineswegs die soldatisch-moralischen Werte der Wehrmacht. Er rühmt das Stehvermögen, die Führungskunst, die Tapferkeit und Todesverachtung des deutschen Landsers. Eigentlich hätte die Wehrmacht den Krieg gewinnen müssen… wenn nicht mit Stalingrad ein neuer russischer Kampfgeist geboren worden wäre, der nationalrussische Imperativ eines Vaterländischen Krieges."

* * *

Die Offensive des russischen Revisionismus rollt weiter. Unter dem Titel "Geheime Mission des Prinzen Takeda" enthüllte die Moskauer Literaturnaja Gaseta in ihrer Ausgabe vom 30. August 1997 ein Geheimnis aus dem Krieg im Fernen Osten. Demnach sollen die Japaner Ende August 1945 entschlossen gewesen sein, den Blindgänger einer amerikanischen Atombombe der Sowjetunion auszuliefern.

Eine Schlüsselrolle spielte der sowjetische Abwehroffizierf Pjotr Titarenko, Dolmetscher und Verbindungsoffizier im Stab von Generaloberst Kowaljow, der im Auftrag von Marschall Malinowskij die Entwaffnung der japanischen Kwantungarmee überwachen sollte. Diese Armee hatte kurz zuvor kapituliert. Am 27. August erschien bei den Sowjets ganz überraschend ein Oberst des japanischen Oberkommandos, von dem Titarenko erfuhr, die Amerikaner hätten drei Atombomben auf Japan geworfen, eine auf Hiroschima und zwei auf Nagasaki, wobei eine davon nicht detoniert sei. Titarenko hakte sofort nach: wo denn der Blindgänger geblieben sei. Er befinde sich in japanischer Hand, erklärte der Oberst, aber "wir würden die Bombe mit großem Vergnügen Ihnen übergeben."

Als Begründung für das Angebot soll derJapaner folgendes angegeben haben, wörtlich in der Literaturnaja Gaseta: "Unsere Inseln werden jetzt von den Amerikanern okkupiert. Wenn die USA das Atombomben-Monopol behalten sollten, wären wir verloren. Man würde uns auf die Knie zwingen und Japan in eine Kolonie verwandeln. Davon könnten wir uns nie mehr erholen. Aber wenn auch Sie die Bombe besitzen, so werden wir in einer nicht fernen Zukunft wieder jenen Platz unter den Großmächten einnehmen, der uns zusteht. Wir haben einen direkten Draht nach Tokio, Sie können sofort eine Bestätigung meines Angebotes bekommen. Jetzt, sofort!" Nur noch wenige Stunden stünden für die Übergabe der Bombe zur Verfügung, meinte drängend der japanische Oberst, der noch einmal hervorhob, daß die nationalen Interessen Japans und der Sowjetunion in diesem Punkt völlig übereinstimmen würden –Verhinderung eines US-Monopols auf die schreckliche neue Waffe.

GRU-Offfzier Titarenko berichtete sofort vom japanischen Angebot, doch schaltete sich nun Generalleutnant Fedenko ein, der sowjetische Beauftragte nur die Fernostaufklärung. Dieser war bei dem Gespräch anwesend. Titarenko blieb von weiteren Gesprächen ausgeschlossen, Fedenko hatte einen eigenen Dolmetscher.

In den fünfziger Jahren schrieb Titarenko einen Brief an das Zentralkomitee, in dem er betonte, die von ihm geschilderten Vorgänge könnten dazu beitragen, die sich anbahnende militärische Zusammenarbeit zwischen Japan und Amerika zu stören. Titarenko ist inzwischen verstorben, eine Kopie seines Briefes an das ZK zeigte seine Witwe der Literaturnaja Gaseta.

Der Autor des sensationellen Zeitungsartikels, Igor Morosow, bezweifelte zunächst die vom Zeitzeugen Titarenko geschilderten Einzelheiten und wandte sich an Georgij Plotnikow, einen militärhistorischen Experten Für den Fernen Osten, Verfasserdes Werkes "Geschichte des 2. Weltkrieges 1939-45". Zur Überraschung des skeptischen Morosow bestätigte das Akademiemitglied Plotnikow, daß er Dokumente zu diesem Fall eingesehen habe. 1969 habe er im Archiv des Außenministeriums ein Telegramm des Sowjetbotschafters in Tokio entdeckt, gerichtet Ende August an den stellvertretenden Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Der Inhalt: "In Fortgang des mit der japanischen Seite erzielten Übereinkommens übermitteln wir eine nicht explodierte Atombombe sowie Material hierzu (gemeint ist wohl die Meldung darüber, WS), zur Verfügung der Sowjetregierung."

1973 fand Plotnikow ein Dokument, das die ominöse "dritte Atombombe" zu bestätigen schien. Die russische Übersetzung des japanischen Originals lautet: "Radiogramm Nr. 1074 vom 27.8. 1945. An den stellv. Chef/GenStab vom Chef/Stb Kwantungarmee. Die nicht detonierte Atombombe, die aus Nagasaki nach Tokio gebracht wurde, bitte ich umgehend der Sowjetbotschaft zur Verwahrung zu übergeben. Ich warte auf Antwort."

In der Literaturnaja Gaseta 34/97 präsentiert Morosow eine Reihe von zum Teil sich widersprechenden Aussagen. So meinte der japanische Ex-Major Kankura, bei dem "Angebot" habe es sich wahrscheinlich um eine "Privataktion" des Majors Asaeda gehandelt. Dieser wiederum erzählte japanischen Journalisten, daß er es tatsächlich gewesen sei, der den Sowjets die nichtexplodierte US-Bombe angeboten habe. Nach der Erfüllung seines Geheimauftrages sei er zum Flugplatz Haneda nahe Tokio geflogen, wo er die verpackte Atombombe gesehen habe. In seinem Resumee wirft Igor Morosow die Frage auf, welche Motive die Japaner gehabt hätten, Moskau ein derartig sensationelles Angebot zu machen. Möglicherweise sei es der Wunsch gewesen, die Sowjetunion und die USA zu Feinden zu machen.

Für den renommierten österreichischen Kriegshistoriker Brigadier a. D. Walther Groß, Übersetzer des hier besprochenen Morosow-Artikels, stellen sich ganz andere, auch aktuelle politische Fragen, nämlich: "Woher wußten die Japaner, daß zwei Atombomben auf Nagasaki gefallen sind? Hat man das beobachtet? Konnte man das überhaupt? Sind die beiden Bomben gleichzeitig, von zwei Flugzeugen aus, geworfen worden oder in einem zeitlichen Abstand? War in letzterem Falle die Bombe Nr. 1 blindgegangen und die nachfolgende Nr.2 sollte sie (mit) zur Detonation bringen? Oder war die Nr. 2 der Blindgänger? Sollten das die Amerikaner nicht bemerkt haben? Konnten die Japaner in diesem Falle, in dem unvorstellbaren Chaos der vollständig zerstörten Stadt, überhaupt eine solche Bombe finden? War das Betreten des kontaminierten Territoriums überhaupt möglich? Kann es mit rein historischen Interessen erklärt werden, wenn nun, nach einer so langen Zeit, eine renommierte russische Zeitung dieses brisante Material bringt, oder ist hier ein weiterer Versuch zu beobachten, mit gezielten Indiskretionen den schon 1945 im ‘Staatsinteresse’ liegenden Keil zwischen die USA und Japan ein Stückchen weiter zu treiben?"

* * *

Ein zunehmender Abwärtstrieb deutscher Kriegshistoriker gibt der internationalen Revisionistenzunft makabre Rätsel auf. Neue und neueste Forschungsergebnisse, insbesondere aus Rußland, nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis. Per ordre de Mufti kolportiert man olle Kamellen, wie in einer ganzseitigen Abenteuerstory in der Hamburger ZEIT vom 12. September 1997,wo Carl Dirks und Karl-Heinz Janßen ihre aberwitzige These verteidigen, Generalstabschef Halder habe im Sommer 1940 hinter dem Rücken Hitlers ("ohne Wissen Hitlers") einen "Blitzkrieg gegen Rußland" vorbereitet. Ohne Wissen des allwissenden Führers, ohne Wissen der Himmler, Heydrich, Canaris, ohne Wissen von OKW, SD, Gestapo, Abwehr – das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ist das denkbar? Natürlich nicht.

Franz Halder, der perfekte Verschwörer, der große Gegenspieler Stalins, der heimliche Dirigent der Wehrmacht, der Drahtzieher des Dritten Reiches? "In seine ganz geheimen Pläne weiht Halder nur ein paar Mitarbeiter ein", liest man in der ZEIT. Daß auch die Linksliberalen ihren Verschwörungstheorien huldigen, weiß man nicht erst seit Kniola. Der trickreiche agent provocateur, gerade in Sachen Zeitgeschichte, hat in der gräflichen Gazette schon immer ein warmes Spaltenplätzchen gefunden. Daß DIE ZEIT als langweilig gilt und in den vergangenen Jahren 40 000 Käufer verlor, erfährt man aus der Süddeutschen Zeitung vom 27. September 1997. Doch zurück zum Krimi von Dirks/Janßen.

"Plan Otto" tauft der Bayer Halder sein Geheimunternehmen, von dem der Oberste Befehlshaber nichts ahnt. "‘Plan Otto’ ist so angelegt, daß die Wehrmacht bereits im Spätsommer 1940 mit 80 Divisionen wie der Blitz über die Russen herfallen könnte – sozusagen aus dem Stand." Derweil Hitler ankündigt, er wolle das Heer demobilisieren und alle Jahrgänge über Dreißig nach Hause schicken… Und Hitler weiß immer noch nicht, daß sein Generalstabschef im Osten Deutschlands die 18. Armee mit sieben Armeekorps "aufmarschieren" läßt. Was Halder "ohne Wissen Hitlers" im Juli 1940 im Osten zusammengezogen haben soll, seien, schreibt Janßen, 600 000 Mann gewesen, als "Grenzsicherung" getarnt, denn: "Unstreitig hat Halder den Fall ‘Otto’ meisterhaft zu tarnen gewußt."

Auf der Bühne erscheint plötzlich Hitler als Dummkopf, getäuscht und hereingelegt von einem genialen General namens Halder. Die ZEIT-Detektive selbst kommen aus dem Staunen nicht heraus: "So weit also gingen im Sommer 1940 die Dispositionen des Heeres, ohne daß der oberste Befehlshaber und seine Führungsgehilfen Keitel und Jodl das geringste ahnten!" Fürwahr, Karl May hätte nicht größere Spannung erzeugen können. Für ZEIT steht fest: der Ostfeldzug begann nicht am 22. Juni 1941, sondern bereits am… 19.Juni 1940, als Halder seinen "Otto"-Plan ausgebrütet haben soll.

Bekanntlich unterschrieb Hitler erst am 18. Dezember 1940 die "Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa", also nach dem Molotow-Besuch in Berlin, als Stalins Expansionsforderungen auf dem Tisch lagen und keine Zweifel mehr an den imperialistischen Plänen der Sowjetunion bestanden. Auch der russische Historiker Anatolij Iwanow vertritt die Meinung, daß die Weichen zum sowjetisch-deutschen Krieg im November 1940 gestellt wurden, als Molotow in Berlin freie Hand für Finnland und den Balkan forderte, was von Hitler nicht hingenommen werden konnte. Laut Iwanow hat sich Stalin seit dem 15. Mai 1941 auf einen "Präventivschlag" gegen Deutschland vorbereitet, siehe Staatsbriefe 9-10/1996, S. 28.

Als angebliche Quelle nennt ZEIT einen in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (Juli 1997) abgedruckten Vortrag Halders aus dem Frühjahr 1939 (!), den Halder-Biograph Christian Hartmann und ein russischer Zeitgeschichtler namens Slutsch in einem Moskauer Sonderarchiv rein "zufällig" (sic!) gefunden haben wollen. Daß in ex-sowjetischen Archiven auch Falsifikationen und Desonformazija lagern, weiß man seit langem, und der genannte "Slutsch" ist nur russische Revisionisten ein Unbekannter.

In Halders Vortrag tauchen die damals obligatorischen Angriffe gegen den Bolschewismus auf. Seine wahren Motive für den "Plan Otto" – sollte er überhaupt existiert haben – werden im ZEIT-Artikel ganz nebenbei erwähnt. Da ist einmal von der Notwendigkeit einer "Grenzsicherung gegen Rußland" und "Litauen" die Rede, sodann von "Schreckensmeldungen aus dem Osten" (gemeint: die Invasion des Balitkums, ein kriegerischer Akt, der sich zu einem Genozidfeldzug gegen Esten, Letten, Litauer ausweitete, die Annexion rumänischer Gebiete wie Bessarabien und die Nordbukowina). Was Janßen als "Schreckensmeldung" verniedlicht, entsprach in der Praxis einem imperialistischen Vernichtungskrieg gegen die Baltikumsvölker und die Bessarabienräume, von den inzwischen einkassierten Karelo-Finnen, Polen Westukrainern ganz zu schweigen. Darüber soll Halder nicht erschrocken gewesen sein? Ein drittes Motiv des deutschen Generalstabschefs hätte laut Janßen darin bestanden, die sowjetischen Vorbereitungen zu einem Angriffskrieg gegen das Reich durch einen deutschen Gegenangriff rechtzeitig zu zerschlagen, womit man wieder bei der Präventivkriegsthese angelangt wäre, die jedoch im ZEIT-Artikel nicht ein einziges Mal auftaucht.

Janßen negiert total die akribisch erforschte Vorgeschichte zu dieser These: Stalins Geheimrede am 19. August 1939 und Stalins Offensivplanungen für das Frühjahr 1940 (Staatsbriefe 8/1996 und 9-10/1996). Abermals erhebt sich die Frage: wußte Halder von all dem nichts? Ist es vorstellbar, daß Stalins Eroberungspolitik dem deutschen Generalstabschef verborgen geblieben ist? Im Sommer 1940 hätten auf sowjetischer Seite, liest man in der ZEIT, nur zwölf schwache, unaufgefüllte Schützendivisionen und neun Kavalleriebrigaden gestanden ("von denen keine Bedrohung ausging"). Das ist eine Lüge, oder milde ausgedrückt, eine Verfälschung der Fakten. Das ist allerdings die Generallinie stalinistischer Historiographie, auf die Dirks und Janßen hereingefallen sind.

Der Spruch, die Geschichte werde immer von den Siegern geschrieben, gilt seit dem Aufbruch eines europaweiten Geschichtsrevisionismus nicht mehr. Im Sommer 1940 belief sich das angeblich nicht bedrohliche Potential der Stalinschen Kriegsmaschinerie im Westen der Sowjetunion auf mindestens 2 Millionen Mann, von der 8. Armee im Baltikum bis zur Massierung in der Westukraine mit der 5. ,6. ,26. , 12. und 9. Sowjetarmee. In der russischen Militärterminologie spricht man von "Platzdarm". Die Dislokation der sowjetischen Streitmacht zur damaligen Zeit beschrieb exakt Viktor Suworow in seinem Erstling "Der Eisbrecher", 1989.

Die Strategierede vom 19. August 1939 enthüllte einen aggressiven Charakter der sowjetischen Europapolitik. So sprach Stalin von den positiven Aspekten eines europäischen Erschöpfungskrieges, in den die UdSSR in einem für sie günstigen Moment eingreifen wollte. Als Initialzündung diente Stalin der Nichtangriffspakt, der Hitlers Krieg gegen Polen auslöste und die Kriegserklärung Frankreichs und Englands zur Folge hatte. Für den Fall einer raschen Niederlage Deutschlands rechnete Stalin mit einer "Sowjetisierung" einschließlich der Etablierung einer "kommunistischen Regierung", gefährdet allerdings durch eine Intervention der siegreichen kapitalistischen Mächte, die ein kommunistisches Deutschland niemals dulden würden. Für den Fall einer raschen Niederlage Frankreichs prophezeite Stalin auch für dieses Land eine "Sowjetisierung". (Zitiert aus der französischsprachigen Fassung der Rede, entdeckt von Tamara Buschujewa im ehemals geheimen Beutefonds des Sonderarchivs der UdSSR, F 7, op 1, d.1223, erstmals in Russisch veröffentlicht in Nowij Mir 12/1994).

Kurze Zeit nur nach dem Einmarsch der Roten Armee in Galizien und Wolhynien (17. September 1939) begann Stalin mit den Vorbereitungen zum Überfall auf Deutschland. Als erste Maßnahme wurde die Aufstellung von prokommunistischen polnischen Einheiten angeordnet. Das Reservoir war ja groß, ca. 250 000 polnische Armeeangehörige befanden sich in sowjetischer Gefangenschaft. Auf das Gros der polnischen Offiziere wollte Stalin allerdings verzichten. Hier liegt der Schlüssel zum Katyn-Verbrechen.

Dieses ziemlich unbekannte Kapitel rekonstruierte Boris Sokolow in dem russischen Sammelband "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" Verlag der Assoziation der Erforscher der russischen Gesellschaft im 20.Jahrhundert (AIRO XX), Moskau 1995. Stalins Politik in der polnischen Frage würde beweisen, so Sokolow, daß Stalin zum Krieg entschlossen war. "Man hat Grund zur Annahme, daß schon zu einer früheren Zeit Pläne zum Überfall auf Polen und Deutschland existiert haben." (S. 25) Der promovierte Philosoph und Historiker, hauptamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur bei der Akademie für Slawische Kultur, heute einer der führenden Revisionisten Rußlands, gelangt zu der Feststellung: "Suworows Hypothese vom geplanten Überfall auf Deutschland am 6. Juli 1941 besitzt heute den Status wissenschaftlicher Wahrheit." Und an anderer Stelle: "Hitlers 22. Juni hatte er nicht erwartet, glaubte er doch an die deutsche Desinformation über eine Landung der Wehrmacht auf der britischen Insel im Sommer 1941, wodurch sich, aus der Sicht Stalins, günstige Bedingungen für einen sowjetischen Einfall in Polen und Deutschland ergeben würden."

Zurück zu den Polen und zur Absicht Stalins, schon im Sommer 1940 offensiv zu werden. Den Beschluß zur Erschießung der ca. 15 000 polnischen Offiziere faßte das Politbüro am 5. März 1940, vollzogen im April und Mai. "Warum ausgerechnet im Frühjahr 1940", hinterfragt Sokolow. "Hitler liebte die Polen genauso wenig wie Stalin, trotzdem wurden deutscherseits während des ganzen Krieges gefangene polnische Offiziere nicht erschossen. Stalins Handeln erhält nur dann einen logischen Sinn, wenn man seine Annahme berücksichtigt, die von einer deutschen Westoffensive im Sommer 1940 ausging. Während die Deutschen an der Maginotlinie kämpften, wollte er gegen Polen und Deutschland losschlagen, Berlin erobern, das Reich zerschmettern." (S. 25) Dazu hätte Stalin eine polnische Armee gebraucht, nur: die in den Lagern zusammengepferchten Offiziere der alten Pilsudski-Armee mit ihrer fanatisch antikommunistischen Einstellung waren ein Klotz am Bein, also mußte man das Bein abschlagen, rechtzeitig vor Hitlers Westfeldzug. "Die Erschießung der Offiziere mußte spätestens im Frühjahr 1940 stattfinden – nach Beginn der antideutschen Offensive wäre es zu spät gewesen."

Für Stalins Offensivplanung war die Ausgangslage äußerst günstig. Juni 1940 befanden sich in Polen und Ostdeutschland ca. 15 Infanteriedivisionen, die meisten nicht vollständig und, so seine Annahme, von geringer Kampfähigkeit. "Stalin dagegen verfügte über eine Millionenarmee, die eben erst den Krieg gegen Finnland beendet hatte, außerdem über zig Divisionen in Weißrußland und der Ukraine", liest man bei Sokolow. "Im April und Mai wurde vom Generalstab ein strategischer Aufmarschplan für einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Warschau und Ostpreußen ausgearbeitet, wobei man davon ausging, daß die Deutschen für ihre Abwehrmaßnahmen zehn bis fünfzehn Tage benötigen würden. Im sowjetischen Generalstab rechnete man damit, daß Hitler für den Westfeldzug sämtliche Reserven einsetzen würde, ohne eine Entscheidung herbeiführen zu können. Stalin konnte also Mitte oder Ende Juni zu einem vernichtenden Schlag ausholen und jene nur symbolischen Verteidigungskräfte ausschalten, die Hitler im Osten zurückgelassen hatte, in ihrem Kampfwert mit den finnischen Divisionen nicht zu vergleichen, dazu noch ohne starke Befestigungsgürtel. Nicht zufällig befehligten Anfang Mai kriegserprobte Sowjetgeneräle die Truppen in der Ukraine und Weißrußland, Georgij Schukow und Dmitri Pawlow, während Marschall Timoschenko, der im Finnland-Krieg die Sowjetarmeen kommandiert hatte, Verteidigungskommissar wurde." (S. 26)

Alle diese Pläne hätte Hitler über den Haufen geworfen, als er am 10. Mai seine Offensive im Westen startete, schreibt Sokolow. "Innerhalb weniger Tage trieb er die Franzosen auseinander und vertrieb die Briten vom Kontinent. Aus war’s mit Stalins Plan, in Polen und Deutschland einzufallen; statt dessen begnügten sich seine Divisionen mit der Besetzung des Baltikums, Bessarabiens und der Nordbukowina. ‘Wer konnte schon voraussehen, daß die Deutschen nur etwas mehr als zwei Wochen benötigen würden, um das Gros der französischen Streitkräfte zu vernichten’, sollen, nach Aussage des Augenzeugen L. Sandalow, die sowjetischen Militärexperten damals erklärt haben. Und man beschloß, daraus Lehren zu ziehen und einen neuen Offensivplan sorgfältiger in Angriff zu nehmen."

Als Fehler hätte sich erwiesen, nicht auch rumänische, tschechoslowakische, ungarische Einheiten parallel zur polnischen Division aufzustellen –"und sogar eine deutsche Division, wollte man doch auch Deutschland ‘befreien’." Es verging ein knappes Jahr, bis Stalin mit einem neuen Plan zum Überfall auf Deutschland herausrückte; die politische Ouvertüre bildete seine Rede vom 5. Mai 1941. Stalin sprach vor Absolventen der Kriegsakademien. Nach der Ansprache forderte ein Panzergeneral die Anwesenden auf, das Glas auf die "friedliche Außenpolitik Stalins" zu erheben. Stalin berichtigte ihn. Notwendig sei gegenwärtig, von der Verteidigungsdoktrin zu einer, so wörtlich, "Kriegspolitik der offensiven Handlungen" überzugehen und die Rotarmisten durch Propaganda und Agitation in einem "Angriffsgeist" zu erziehen. Damit waren die Weichen gestellt.

Am 13. Mai erging ein Befehl des Volkskommissariats für Verteidigung, vier Armeen mit insgesamt 28 Divisionen aus dem Osten an die Westgrenze zu verlegen, wo schon ca. drei Millionen Rotarmisten, 1800 Kampfpanzer, 35 000 Geschütze und mehr als 1500 Flugzeuge zusammengezogen waren. Ende Mai erhielten die Kommandeure der rund 180 Divisionen die Weisung, Kriegsbefehlsstände einzurichten. Gesperrt wurden die Grenzprovinzen für Gebietsfremde. In seinem Buch "DerTagM" (Stuttgart 1995) nennt Viktor Suworow den 6. Juli 1941 als Stalins Mobilmachungstag. (Staatsbriefe 5/1995, S. 7)

Ein entscheidendes Ereignis in der Vorgeschichte des sowjetisch-deutschen Krieges wird im ZEIT-Artikel nicht erwähnt. Am 13. Juli 1940 hatte der britische Botschafter Cripps im Auftrag Churchills den Diktator aufgesucht, um eine "gemeinsame Linie des Selbstschutzes gegen Deutschland" zu finden. Stalin reagierte ablehnend, und er ließ das Angebot von Cripps über Außenminister Molotow dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg übermitteln. Auf diesem Wege erfuhr Hitler von Churchills Versuch, Stalin als Kriegspartner zu gewinnen. Hitler am 31. Juli 1940 auf dem Berghof: "Rußland ist der Faktor, auf den England am meisten setzt. Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt." Mehrmals wird Hitlers große Lagebesprechung am 31. Juli 1940 auf dem Obersalzberg im ZEIT-Artikel hervorgehoben. Hitler habe den "frühesten" Angriffstermin auf den Mai 1941 festgesetzt. "Frühestens" diese Terminierung wäre für einen deutschen Angriff fast zu spät gewesen, liefen doch die offensiven Vorbereitungen der Roten Armee für einen Erstschlag, also Angriffskrieg, im Frühjahr 1941 auf vollen Touren.

Der strategische Aufmarschplan, gebilligt von Stalin am 15. Mai 1941 bei einer Konferenz mit Generalstabschef Schukow und Verteidigungskommissar Timoschenko, sah einen Blitzkrieg vor. Ausbruch der Panzerdivisionen und Mechanisierten Korps aus dem Brester und Lemberger Balkon, mit Vernichtungsschlägen aus der Luft. Der Auftrag bestand in der Eroberung Ostpreußens, Polens, Schlesiens, des Protektorats, letztlich in der Abschnürung Deutschland vom Balkan und damit vom rumänischen Öl. Lublin, Warschau, Kattowitz, Krakau, Breslau, Prag galten als Angriffsziele. Ein zweiter Angriffskeil zielte auf Rumänien mit der Einnahme von Bukarest. Erfüllung des Nahauftrages, die Masse des deutschen Heeres vorwärts Weichsel, Narew, Oder zu zerschlagen, bildete die Voraussetzung für den Hauptauftrag, Deutschland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Das in Polen und Ostdeutschland stehende Hauptkontingent der Wehrmacht sollte in kühnen Operationen unter weitem Vorantreiben von Panzereinheiten eingekesselt und vernichtet werden. Von 303 an der Westfront zusammengezogenen Divisionen waren 172 für die erste Angriffswelle bestimmt. Eingeplant für die Totalmobilisierung war ein Monat, der Zeitraum 15. Juni - 15. Juli. Der Historiker Michail Meljtjuchow: "Davon ausgehend, erscheint es glaubhaft, daß die Kriegshandlungen gegen Deutschland im Juli beginnen mußten." ("Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" Moskau 1995, S. 106)

Die ZEIT-Autoren ignorieren die hier zitierten Quellen, es fehlt jeglicher Hinweis auf die russischen Historiker Sokolow, Neweschin, Suworow, Bordjugow, Meljtjuchow, Iwanow, Buschujewa und ihre deutschen Kollegen (Hoffmann, Nolte, Maser, Post, Topitsch u. a.). Daß Staatsbriefe als erste in Deutschland die sensationellen russischen Veröffentlichungen in Sachen Kriegsursachenforschung übersetzt, publiziert und in den öffentlichen Diskurs eingebracht haben, findet in der linksliberalen ZEIT keine Erwähnung.

Die Unterschlagung der Wahrheit ist ein gleich schweres moralisches Verbrechen wie ihre Verfälschung. Daß stalinistische bzw. orthodox-sowjetische Geschichtsdeutungen ausgerechnet in der Gazette eines Ex-Bundeskanzlers und einer ostpreußischen Gräfin erscheinen dürfen, mutet wie ein makabrer Witz aus der pc-Kiste an. Die Sowjetunion implodierte nach 74 Jahren, die Bonner Republik schlittert ins fünfte Jahrzehnt ihrer Existenz, doch wie lange noch muß Historia hierzulande auf den Strich gehen?

Abschließend noch ein Wort zum Antibolschewiken Halder. Wollte er den Osten verkolonialisieren, die Slawen versklaven, die Völker erniedrigen oder ausrotten? Keineswegs. Selbst Dirks und Janßen wagen das nicht zu behaupten. Ausnahmsweise kann ihnen Glauben geschenkt werden. Laut ZEIT war es das politische Ziel Halders und der deutschen Heeresführung, ein "weißes Rußland" entstehen zu lassen, den Letten, Esten, Litauern die Eigenstaatlichkeit wiederzugeben, der ukrainischen Nation die Unabhängigkeit zu erkämpfen. Im neulinken Jargon nennt man so etwas "Dekolonialisierung"; nur die linksliberale alte Tante aus Hamburg bedeutet das "Separatismus", wörtlich: "Die Sowjetunion sollte zerlegt werden." Welch ein Verbrechen! Jubeln können über die unzeitgemäße ZEIT nur jene reaktionären Kräfte im Rußland von 1997 – Neopanslawisten und Kommunisten, SU-Nostalgiker aller Couleur –, die immer noch dem untergegangenen Vielvölkergefängnis UdSSR nachtrauern.

Im Nachhinein erweist sich Franz Halder als Visionär. Das Wendejahr 1991 brachte den Völkern des Ostens die nationale Freiheit, allerdings ohne Bonner Hilfe. Und DIE ZEIT, um ein Wort ihres Mitherausgebers Helmut Schmidt zu zitieren, hat den Völkeraufbruch, die welthistorische Achsenverschiebung einfach verschlafen. Halders Konzept "weißes Rußland" oder Hitlers rassenfeindliche Kolonialpolitik, "Otto" oder "Barbarossa", das wäre, jenseits aller rückwärtsgewandten Science-fiction-Ideologien, einer Untersuchung wert – aber bitte nicht in der ZEIT.

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Da die bannhörige Historikerkaste den russischen Revisionismus ausblendet, entgeht ihr der Paradigmenwechsel im russischen Geschichtsbewußtsein. Das sind: die Einordnung der ethnischen Herkunft der Zarenmörder, die Einordnung des größten historisch überlieferten Verbrechens, die Einordnung der kriminellen Vereinigung der Bolschewiki die Einordnung der Banalität des Bösen im GULag-Staat, die Einordnung des antikapitalistischen Experiments in der frühen Sowjetunion.

Die UdSSR war nicht nur ein Staat im völkerrechtlichen Sinn, sie war auch lange Zeit das Mekka der internationalen kommunistischen Bewegung und der Gralshüter einer universalistischen Heilsideologie. Sie galt überdies als "Sieger über den Faschismus", als sozialistische Vollendung des ostchristlichen Dritten Rom und als Vorzeigeobjekt einer nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung. Kommunisten im nachkommunistischen Rußland haben es schwer, mit der Einsicht zurecht zu kommen, daß ihr bisheriges politisches Leben, ihr Einsatz für das kommunistische Ideal, umsonst gewesen war. Um die persönliche Identität zu retten, treten sie ein für die Bewahrung der politischen Identität eines Vielvölkerimperiums, Für die Restauration einer multinationalen Union auf nichtkapitalistischer Grundlage.

Aber es sind beileibe nicht nur Nostalgiekommunisten, die dem Antiliberalismus und Ethnopluralismus des untergegangenen Roten Dritten Rom positive Seiten abgewinnen; ein Beispiel dieser revisionistischen Querdenkerrichtung ist ein Essay des nationalrussischen Historikers M. W. Malinin, publiziert in Duell (13/1997) unter dem Titel "Vom Mythos des totalitären Staates". Nebenbei bemerkt: Malinin ist Vorsitzender der in Amerika lebenden ehemaligen Politgefangenen der UdSSR. Umso erstaunlicher sein Urteil.

Am 11. Januar 1995 forderte eine interfraktionelle Gruppe von Duma-Abgeordneten ein Hearing zu einem regierungsamtlichen Gesetzentwurf, in dem Lenins Oktoberrevolution zu einem "illegalen Akt" erklärt werden sollte. Illegalen Charakter trügen auch alle seit 1917 erlassenen Gesetze, hieß es im Entwurf. In ihrem Antrag stützten sich die Parlamentarier auf das vom Obersten Sowjet Rußlands angenommene Gesetz vom 18. Oktober 1991, betitelt "Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen". Die Begründung gipfelte in der Feststellung, der kommunistische Staat sei seit 1917 ein "totalitäres, volksfeindliches" System gewesen. Gegen das Negativklischee "totalitär" polemisiert nun Malinin, er kommt zu einem erstaunlichen Resultat. Malinins Argumente:

1. Eine legale Revolution gibt es nicht. Ihre Gesetze sind, aus der Sicht des gestürzten alten Regimes, logischerweise "illegal". Es ist das Wesen jeder Revolution, sich über die bestehenden Gesetze zu erheben.

2. Der Begriff "Totalitarismus" stammt aus dem Westen, geboren in parteienparlamentarischen Gesellschaften.

3. Die Idee der Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und des Aufbaus einer klassenlosen Volksgemeinschaft beherrschte zumindest die Anfangsphase der Sozialrevolution nach 1918. Diese Idee stand im Widerspruch zum kapitalistischen und liberalistischen Gesellschaftsmodell.

4. Der Rote Terror während des Bürgerkrieges und die Vernichtungsorgien in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren sind eine schreckliche Tatsache, die weder geleugnet noch verniedlicht werden darf. Nichtsdestoweniger war der Stalinsche Staat ein antikapitalistischer.

5. Noch vor der Perestroika zeigte sich, daß sich die Parteiideologie des Jahres 1917 erschöpft hatte, sie stand der Erneuerung einer wahrhaft sozialistischen Volksgemeinschaft im Wege. Die Partei war existentiell unfähig, die Fesseln des orthodoxen Marxismus-Leninismus abzustreifen. Man sprach zwar von einer "Volksdemokratie", klammerte sich aber in der Praxis an die abgelebte Doktrin der "Diktatur des Proletariats".

6. Während der Perestroika versuchte die Parteibürokratie ihre Macht zu erhalten, indem sie Zugeständnisse an den Privatkapitalismus machte. Die "Privatisierung" begann bereits unter Gorbatschow. Das Land bewegte sich auf die Verhältnisse vor 1917 zurück.

7. Nach dem August 1991 fand eine Restauration des nackten Kapitalismus statt, es entstand eine mafiotische Klasse manchesterkapitalistischer Ausbeuter, die im Zuge der "Privatisierung" das Volkseigentum raubte, zerschlug, verschleuderte. Der kapitalistischen Restauration im Rußland von heute fehlt jegliche soziale Basis in der Bevölkerungsmehrheit, und insofern kann man tatsächlich von einem totalitären, volksfeindlichen Regime sprechen. Die Antwort darauf wird, früher oder später, eine neue Revolution sein.

An dieser Geschichtsanalyse mag vieles anfechtbar, sogar widerlegbar sein. Malinins Kapitalismuskritik indes wird von der "linken" wie "rechten" Opposition geteilt.

Auch Alexander Solschenizyn verurteilt die Nachahmung des "kapitalistischen Weges", prangert den "Angriff des Dollars" und den Internationalen Währungsfonds an. "Wir schaffen jetzt eine grausame, raubtierartige, verbrecherische Gesellschaft, die noch übler ist als die Vorbilder, die wir uns vom Westen zu kopieren bemühen", schrieb er in seinem Essay "Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts", erschienen 1994 in Nowij mir, Heft 7. Radikaler Antiliberalismus ist ein allgemein russisches Phänomen.

In einem zentralen Punkt seiner Vergangenheitsbewältigung irrt jedoch Malinin: daß die monarchische Staatsform vor 1917 volksfremd und volksfeindlich gewesen sei. Dem widerspricht die spontane Sehnsucht nach Wiedereinführung des Zarentums, im Armutsvolk ebenso wie in der Intelligenzija, auch im Offizierskorps und in den allermeisten Rechtsbewegungen. Ein neues Nationalbewußtsein entwickelt sich in der Bejahung des Kaisertums. Dem Ruf nach der Wiederherstellung der historischen Kontinuität Rußlands schließen sich sogar Kreise der vielgelästerten Neureichen an. In der Oppositionskultur sind Stimmen zu vernehmen die eine autokratische, ja absolutistische Monarchie von Gottesgnadentum ("Samoderschawije" – "Selbstherrschaft"), befürworten, eine konstitutionelle Monarchie in der Abhängigkeit des Parteienparlaments jedoch schärfstens ablehnen. "Wir wollen, daß Rußland ein Land ist, dessen Führung man sich nicht schämen muß", sagt Adelsmarschall Wadim Lopuchin, Vizepräsident der Russischen Adelsgesellschaft. "Wir wollen eine starke Monarchie, damit die Vertrauenkrise endlich ein Ende findet." Lopuchins Adelsanhang unterstützt den Thronanspruch des sechzehnjährigen Georgij Romanow, dessen Mutter Großfürstin Maria Wladimirowna abwechselnd in Spanien und Sankt Petersburg lebt.

* * *

Ein Kultobjekt der Monarchieverehrer ist das Filmdrama "Sühneopfer" von Anatolij Iwanow (mit dem gleichnamigen Historiker nicht identisch), gedreht im Revolutionsjahr 1991. Der letzte Zar, Nikolaj II., wurde zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 in Jekaterinburg erschossen. Mit bisher nicht veröffentlichtem Dokumentarmaterial hat Iwanow die Vorgänge um die Exekution der Romanows rekonstruiert. Historische Aufnahmen werden in "Sühneopfer" mit Spielszenen in Schwarz-weiß und Farbe so verknüpft, daß sie authentisch wirken. Der Film kommt bis auf die letzten Szenen ohne Dialoge aus, ein Sprecher führt durch das Geschehen. Die Bilder sollen für sich sprechen: Ikonen, Kirchengesänge und Lichterprozessionen, Revolver, Bajonette und Gräber symbolisieren die Trauer eines gemarterten Volkes.

Die Kanonisierung des Zarenpaares – Nikolaj und Alexandra – will Patriarch Alexij II. im Namen der Russisch-Orthodoxen Kirche in Bälde zelebrieren. Bemerkenswert, daß die Heiligsprechung dieser "Nationalmärtyrer" auf millionenfachen Druck des gläubigen Volkes eingeleitet wurde. Lange hatte sich der Patriarch dagegen gesträubt.

Im Zusammenhang mit dem 850jährigen Jubiläum Moskaus im heurigen September bekamen die Russen erstmals Gelegenheit, die näheren Umstände der Ermordung der Zarenfamilie anhand von Dokumenten zu erfahren. Im Moskauer Museum für Privatsammlungen sah man das Archiv des weißgardistischen Offiziers, Kriminologen und Historikers Nikolaj Sokolow, der die ersten Untersuchungen am Ort des Verbrechens durchgeführt hatte. Konfrontiert wurden die Besucher mit Aufzeichnungen von Zeugenberichten, den Kinderzeichnungen und Tagebucheintragungen des Thronfolgers Alexej, den Kleidungsfetzen der Zarentöchter Olga, Tatjana, Maria, Anastasia. Die Sokolow-Sammlung, heute in das staatliche Ros-Archiv eingegliedert, enthält außerdem Fotografien von Überresten der Zarenfamilie, Skizzen, ein Stück Tapete aus dem Massakerkeller der Ipatjew-Villa (Ipatjew, ein jüdischer Millionär in Jekaterinburg).

Sokolow war es gelungen, in der relativ kurzen Zeit, da sich Jekaterinburg in weißer Hand befand (die Stadt wurde am 14. Juli 1919 wieder von der Roten Armee besetzt), die Namen der Henker, ihrer direkten Auftragsgeber und der Schreibtischtäter im Kreml zu eruieren. Demnach befehligte ein Jankel Jurowski das Erschießungskommando, mit seinem Revolver feuerte er auf die Opfer. Den Befehl dazu erhielt Jurowski von den Spitzen des bolschewistischen Ural-Komitees (Partei und Tscheka), Alexander Waisbart und Schaja Goloschtschekin. Diese wiederum handelten im Einverständnis bzw. im Auftrag der in Moskau sitzenden Parteiführer Jakov Swerdlow alias Jankel Solomon Auerbach, Leo Trotzki recte Bronstein, Grigorij Sinowjew recte Radomilski, Maxim Litwinow recte Wallach, Lew Kamenjew recte Rosenfeld, Moisei Uritzki – und Uljanow-Lenin, dessen Herkunft der britische Times-Korrespondent Robert Wilton 1920 so beschrieb: "Lenin bimself was of mostly Russian and Kalmuck ancestry, but he was also one-quarter Jewish. His maternal grandfather, Israel Blank, was a Ukrainian Jew who was later baptized into the Russian Orthodox Church." Diese Version wurde 71 Jahre später von der Moskauer Illustrierten Ogonjok bestätigt, ferner von: Jewish Chronicle, London, 16. Juli 1991, New York Times vom 5. August 1992, Jerusalem Post vom 26. Januar 1991. Daß die Hauptverantwortlichen an der Ermordung der Romanows nicht Angehörige des russischen Volkes waren, bildete bei der Eröffnung der Sokolow-Ausstellung, September 1997, für das Publikum eine Überraschung.

Eine Schlüsselfigur im Abenteuer Sokolow-Archiv – die Odyssee fFührte 1920 von Sibirien nach Deutschland, Liechtenstein, England und dann zurück nach Rußland – ist der Brite Robert Wilton, der 17 Jahre als Korrespondent der Times in Rußland verbrachte, vor 1914, während des Weltkrieges und später im Bürgerkrieg. Berühmt wurde Wilton durch sein Buch "The Last Days of the Romanovs", 1920 in London erschienen, in den zwanziger Jahren in sämtliche Weltsprachen übersetzt. Der Brite lernte Sokolow persönlich kennen und verhalf ihm später zur Flucht, seine Reportage über Hintergründe und Verlauf der Romanow-Ermordung stützt sich im wesentlichen auf Recherchen des "special investigator" N. A. Sokolow.

Bevor der aus Pensa gebürtige Nikolaj Alexandrowitsch Sokolow im Sommer 1919 von Admiral und Reichsverweser Alexander Koltschak (1874-1920) mit der Aufklärung der "zarskoje djelo" (offizielle Bezeichnung im Juristenrussisch) beauftragt wurde, hatte er sich bereits einen Namen als Verbrechensforscher gemacht. Wilton schildert ihn als einen talentierten, unbestechlichen, mutigen Wissenschaftler. Der Untersuchungsrichter recherchierte in Jekaterinburg, Omsk, Perm, in Dörfern, Wäldern und Sümpfen der Bürgerkriegszone, ermittelte die Personen des Hinrichtungskommandos, die Namen der Mitglieder des Ural-ZiK (Zentrales Exekutivkomitee) und der Tschreswytschaika (Inquisition). Sokolow sprach mit Augenzeugen, Roten und Weißen. Sein Hauptaugenmerk richtete er natürlich auf die Ipatjew-Villa (Wilton: "death-house"), wo er Revolverkugeln, Bajonette, blutverschmierte Tapetenfetzen sicherstellte, ferner Kleidungsstücke, Fragmente von Gebetbüchern und Tagebüchern. Stumme Zeugen einer Tragödie.

Sensationeller noch waren Inschriften im Mordhaus, in den Wohnräumen im ersten Stock und im Keller, wo die Hinrichtung stattgefunden hatte. Im Schlafraum des Zarenpaares und des Thronfolgers, neben dem Zimmer der Töchter, entdeckte Sokolow ein Glückszeichen von der Hand Alexandras, so unauffällig angebracht an der Wand, daß es von dem Hauskommandanten Gaida, einem Tschechen, nicht gesehen worden war. Über einem rätselhaften "1730 April" (vermutlich Tag oder Stunde der Ankunft in Jekaterinburg) befand sich die mit Tinte gezeichnete Abbildung einer linksgeflügelten Swastika. Das mystische Heilssymbol bedeutet im indischen Buddhismus wie auch in der altslawischen Heidenkultur Aufstieg, Geburt, Glück. Robert Wilton interpretiert die Swastika: "The Empress Alexandra’s Good-Luck Sign." Geheimnisvoll eine Tapeteninschrift im Sterbekeller: aufgetragen von geübter Hand mit schwarzer Tinte vier Buchstaben oder Silbenfiguren, deren Bedeutung Sokolow und Wilton nicht enträtseln konnten.

In der Moskauer Sokolow-Ausstellung sieht man eine zerfledderte Tapete aus dem Hinrichtungskeller, auf die jemand in deutscher Sprache mit Bleistift die Worte geschrieben hat: "Belsatzar ward in selbiger Nacht / Von seinen Knechten umgebracht." Der Unbekannte hat die Zeilen der Heine-Ballade etwas verfälscht; er hat das "aber" nach "ward" ausgelassen, hat statt "Belsazar" – wie bei Heine – "Belsatzar" geschrieben (bei Luther heißt es "Belsazer").

Eine schwerwiegende inhaltliche Fälschung ergibt sich bei einem Vergleich mit dem entsprechenden Text im Alten Testament, wo es bei Daniel Kapitel 5,Vers 30 heißt: "Aber in derselben Nacht ward der Chaldäer König Belsazer getötet" (Lutherbibel). Die Chaldäer waren ein semitischer Stamm, sie sprachen Aramäisch. Daraus schlußfolgert Sokolow, daß es sich beim Bleistiftschreiber um einen Gebildeten gehandelt haben mußte, der deutschen Sprache mächtig, vertraut mit der Poesie Heines. Exekutionschef Jurowski schied als Bildungsloser aus, die meisten Mordschützen – Russen, Letten, Tschechen – kamen ebenfalls nicht in Frage, als Analphabeten kannten sie weder Heine noch Deutsch. Es handelt sich demnach um einen Kommunisten "of some culture" (Wilton), der mit dem Heine-Zitat zum Ausdruck bringen wollte, daß der russische Zar nicht von Fremden, sondern von seinem eigenen Volk getötet worden sei. Tatsächlich befanden sich beim Massaker zwei jüdische Kommissare der Jekaterinburger Tschreswytschaika im Hause. Robert Wilton deutet die Belsazar-Zeilen im Sterbekeller der Romanows als Hinweis auf einen Ritualmord: "The writer was quoting a Jew whose poem expatiates on the overthrow of a Gentile sovereign who had offended Israel."

Belsazar (griechisch, übersetzt aus dem Aramäischen im Sinne von "Schütze sein Leben") war laut Altem Testament König von Babylon, beleidigte bei einer Sauforgie "mit seinen Weibern und mit seinen Kebsweibern" den Judengott und den geschändeten Tempel von Jerusalem, worauf eine unsichtbare Hand an die Palastwand schrieb: Meneh meneh tekel U-pharsin. Ein Hinweis auf den baldigen Untergang? Belsazar befahl dem Propheten Daniel, die Schrift zu entziffern, wie es geschrieben steht bei Daniel Kapitel 5,Vers 25 bis 29: "Das ist aber die Schrift, allda verzeichnet: Mene, Mene, Tekel, U-pharsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königreich gezählt und vollendet. Tekel, das ist, man hat dich in einer Wage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben."

Historisch trug sich das anders zu. Belsazar verwaltete von 551 bis 543 v. Chr. für seinen Vater Nabonid das Babylonische Reich, unterlag 539 dem Perserkönig Kyros in einer Schlacht am Tigris und wurde von seinen eigenen Höflingen ermordet.

Im Buch Daniel taucht erstmals der Begriff "Feuerofen" auf. Holokaust unter Nebukadnezar II. Der Chaldäerkönig zerstörte 587 v. Chr. Jerusalem. Es begann die Babylonische Gefangenschaft der Juden. Daniel wurde "Weiser" am babylonischen Hof. Der erste Rasputin. Der König zu Babel, befallen vom Wahn des Persönlichkeitskultes (paar tausend Jahre vor Stalin), ließ sich ein goldenes Bild machen und verlangte von den Juden dessen Anbetung. "Wer aber nicht niederfiele und anbetete, sollte in einen glühenden Of en geworfen werden." (Dan 3.11.). Und Nebukadnezar befahl, den "Ofen siebenmal heißer zu machen". Und siehe da, die Oberen der Juden, an Händen und Füßen gebunden, hinabgestürzt in den glühenden Ofen, verdarben nicht in des "Feuers Flammen", unversehrt kamen sie heraus, worauf sich Nebukadnezar furchtbar entsetzte und sprach: "Gelobet sei der Gott Sadrachs, Mesachs und Abed-Negos." Und er gab ihnen "große Gewalt in der Landschaft Babel".

So in der Sprache Luthers bei Daniel im 3. Kapitel. Der "glühende Ofen" als gottgewollte Prüfung, Sendung, Errettung in einem. Aber das nur nebenbei. Heine wird bei der Niederschrift seiner Belsazar-Ballade 1822 daran ebenso wenig gedacht haben wie der anonyme Zarenmörder im Ipatjew-Haus in der Nacht zum 17. Juli 1918. In dieser Nacht begann endgültig die Babylonisch-Bolschewistische Gefangenschaft der Russen, nicht einmal die Asche in den Feueröfen des GULag ist erhalten.

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Im 851. Jahr Moskaus präsentiert nicht nur die Sokolow-Archiv-Ausstellung eine revisionistische Schau russischer Imperial-, Kirchen- und Volksgeschichte. Wiedereröffnet wurde das Historische Museum gegenüber der Basilius-Kathedrale, begründet vor 125 Jahren anläßlich der Krönung Alexanders III. Geschmückt sind die Deckengemälde im 48-Säle-Bau mit der Genealogie der russischen Großfürsten und Kaiser. Der altneue Palast am Roten Platz ist ein Monument der postkommunistischen Nationalideologie auf dem Fundament eines jahrhundertealten monarchischen, zarentreuen Geschichtsverständnisses (in westlich-liberalen Feuilletons abwertend als "Restauration" kommentiert). Im Mittelpunkt der Besucherbewunderung stehen die Abteilungen "Reliquien der russischen Staatlichkeit" und "Heilige des Moskauer Rußlands". Aus dem Schlamm der kapitalistischen Korruption erhebt sich ein Spiegelbild des Dritten Rom, wie es bis 1917 bestanden hat. Ein verklärtes, mystifiziertes Bild, ein tragisches Bild, endet doch der Rundgang im Staatlichen Historischen Nationalmuseum mit der Apokalypse von 1917/18, dem Feuerofen Romanow.

Daß gerade dieses Kapitel als ein "Ritualmorde" erscheinen will, unterstreicht die revisionistische Grundtendenz. Zahlreich die Sonderausstellungen im Jubiläumsjahr Moskaus, gewidmet Peter I. und Katharina II. Nationalreligiöse Werke russischer Künstler aus Gegenwart und Vergangenheit dominieren eine Dauerausstellung in der Kunstakademie; riesige Ölgemälde und großformatige Porträtzeichnungen vom Nazarener und vom Gott der Heerscharen, neben Bibelszenen und Ikonen, geschaffen von Iwan Kramskoj (1837-1887), einem Bewunderer und Mäzen Repins, und vom populärsten zeitgenössischen Maler, Ilja Glasunow, einer lebenden Ikone des Monarcho-Russentums. Glasunows Gemälde sollen das Innere der wiederaufgebauten Christerlöserkathedrale schmücken – in den Augen der FAZ-Feuilletonistin Kerstin Holm eine Provokation von "nationalem, offiziösem, religiösem Kitsch".

Im Historischen Museum haben kommunistische Geschichte, frühbolschewistische Avantgarde (Chagall) und Stalins Sozrealismus (Gorkij) natürlich keinen Platz. Der Gulagismus soll irgendwann im ehemaligen Lenin-Museum, paar hundert Meter vom Roten Platz entfernt, reflektiert werden; nur eine vage Planung, denn Gelder dafür gibt es staatlicherseits nicht (abgesehen von der Parteikasse Sjuganows) Auch diese Episode dokumentiert die revisionistische Wende im Geschichtsbewußtsein der Russen. Zurück zu Krone und Ikone, aber kein Zurück zu jener Epoche, in der Krone und Ikone zunichte gemacht wurden.

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Eine klassische Sozialrevolution war der August einundneunzig ja nicht. Während in den nichtrussischen Ländern eines multinationalen Kolosses auf tönernen Füßen die Nationalrevolution der Nationalbewegungen ihrem endgültigen Triumph entgegenströmten, vollendete sich in Rußland eine nationalfundamentalistische Kulturrevolution, die noch vor der Glasnost-Ära begonnen hatte. Am Anfang stand nicht ein Parteiprogramm; vaterländisch oder religiös inspirierte, monarchistisch oder ökologisch orientierte Intellektuelle schufen eine nationale Gefühlskultur, ein vollkommen neues ethnozentrisches Gemeinschaftspathos der Russen nach sieben Jahrzehnten einer permanenten russenfeindlichen Bastonade.

Das war die kulturelle Wende vor der politischen Wende und die früheste Erscheinungsform des Geschichtsrevisionismus. Schriftsteller und Poeten, Künstler, Wissenschaftler, Literaturkritiker, Publizisten, Theater- und Filmregisseure hatten daran teil. 1971 erschien Solschenizyns Erstfassung von "August vierzehn", Solschenizyns "Offener Brief an die Sozwietführung" kam 1974 heraus, Mitte der Siebziger entstand der "Archipel GULag" (damals streifte Sartre den Kommunismus als traumatisches Erlebnis ab). 1991 vollendete er mit "April siebzehn" den letzten Band seines Roman-Zyklus "Das Rote Rad", aus heutiger Sicht das größte epische Werk russischer Sprache im 20. Jahrhundert. Valentin Rasputins "Abschied von Matjora", der erste bäuerlich-mystische Roman der neuzeitlichen russischen Literatur, kam 1976 heraus. Igor Schafarewitsch, schon in der Dissidenz Solschenizyns engster weltanschaulicher Verbündeter, sorgte mit seinem Essay "Russophobie", veröffentlicht in der Juni-Nummer 1989 des Literaturmagazins Nasch Sowremennik (Unser Zeitgenosse), für eine totale Wende in der Bolschewismusforschung – die "jüdische Frage" gelangte wieder in die öffentliche Diskussion.

In dieser Aufzählung darf ein authentischer Volksschriftsteller aus bäuerlich-proletarischem Milieu nicht vergessen werden, Wladimir Maximow (1930-1995). In seinem 1985 entstandenen historischen Roman "Wsgljad wo besdnu" (dt. "Der weiße Admiral", München 1986) schildert Maximow den Einzug Koltschaks in Jekaterinburg. "Es hatte den Admiral hierhergezogen seit dem Tag, an dem er die Nachricht vom Tode des Monarchen erhalten hatte. Deshalb gab er den Befehl, ihn vom Bahnhof aus direkt zu Ipatjews Haus zu fahren, wo man ihm über die näheren Umstände dieses für Rußland so verhängnisvollen Mordes ausführlich Bericht erstatten sollte. Im Hof, dem Admiral entgegen, lief eine kleine Gruppe Leute, aus der sich, näherkommend, sofort ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Schnurrbart, Schaffellmütze und Uniformmantel ohne Schulterklappen absetzte: ‘eien Sie gegrüßt, Euer Exzellenz – wenn ich mich vorstellen darf: Sokolow, Untersuchungsrichter.’ Er musterte den Admiral aus kurzsichtigen Augen von oben bis unten, als wolle er sich überzeugen, ob er sich auch nicht in der Person geirrt hatte. ‘Gestatten Sie, daß ich Ihnen auch meine Mitarbeiter vorstelle …’(…) Die Dunkelheit im Innern unterstrich noch die abschreckende Vernachlässigung des Gebäudes. Alles hier trug die Spuren der Willkür: der verunreinigte Boden, die mit Flüchen und Zoten vollgekritzelten Wände, die beschädigten, in wüstem Durcheinander herumstehenden Möbel. Mit dumpf pochendem Herzen stieg der Admiral in die Kellerräume hinab, spürte, wie bei jedem Schritt die Kraft aus seinen Beinen wich: O mein Gott, dachte er, warum haben sie nicht wenigstens die Kinder, die Frauen verschont! (…) Die Petroleumlampe, die jemand hinter dem Admiral hochhielt, erleuchtete den kleinen, eher sogar winzigen Raum, und er sah die von Kugeleinschlägen gezeichnete Wand… Sie alle in einen so kleinen Raum zu pferchen! Gebannt starrte er auf den zerlöcherten Putz und die schwarzen Flecke auf dem Boden. Sie haben sie regelrecht abgeschlachtet! Er fühlte, daß ihm der Atem wegblieb, drehte sich um und stürzte zum Ausgang. Oben, in dem in aller Eile aufgeräumten Speisezimmer, hatte man auf dem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch die vereinzelten Überreste der kaiserlichen Familie ausgebreitet. Ordentlich sortiert und numeriert lag dort vor dem Admiral, was vom Hause Romanow, von einer ganzen Dynastie, von der dreihundertjährigen Geschichte Rußlands übriggeblieben war: Asche, Staub, ein kleiner Haufen Knochen." (S. 205 ff.)

Dies war der erste russische Roman, in dem der Zarenmord ein Kapitel füllte. Doch die Apokalypse begann schon früher. Maximow über das Jahr 1917: "In Helsingfors war Admiral Nepenin bestialisch ermordet worden, waren Offiziere auf offener Straße der Lynchjustiz zum Opfer gefallen, in Kronstadt wurde ohne Gerichtsverhandlung die Blüte des Kommandeursbestands niedergemetzelt. Den Oberkommandierenden und Generalgouverneur der Stadt, Admiral Viren, hatte man vor den Augen der auf dem Ankerplatz versammelten Menge mit dem Bajonett durchbohrt." (S. 129) Analog dem Bogrow-Kapitel in Solschenizyns "August vierzehn" wagt auch Maximow die Nennung der Ritualmörder. Ein Abraham Sluzki, Chef der Omsker GPU "Zechbruder" des Moisei Frinowski, von dem er eine Zyankalikapsel entgegennimmt; derselbe Frinowski stirbt in der Großen Säuberung. "‘Es gibt trotz alledem einen Gott!’ wird vor der Hinrichtung ihr gemeinsamer Kumpel Genrich Jagoda ausrufen. Er hat es erfaßt, der Hundesohn, wenn auch erst kurz vor dem Tod!" (S. 169) Frinowski war stellvertretender Chef des NKWD, Sluzki und Schpigelglas wüteten im Spanischen Bürgerkrieg im Auftrag Stalins als Liquidatoren der Anarchisten und Sozialisten, ehe sie selbst in der Lubjanka den Genickschuß empfingen.

Als Maximows im Exil geschriebener Koltschak-Roman auch in Rußland verbreitet und studiert wurde, entstand in der dahinsiechenden Sowjetunion das allererste Filmkunstwerk des Geschichtsrevisionismus. In die Filmtheater eines noch nominell kommunistischen Landes kam dann im Frühjahr 1991 Anatolij Iwanows Dokumentardrama "Sühneopfer. Die letzten Tage derRomanows" (hergestellt in einem sowjetischen Filmstudio!), die Hymne auf Autokratie und Monarchie, Lobpreisung der Zarenfamilie, ja deren Vergötterung, eine filmästhetische Anbetung des Kaisertums – metaphysische Überhöhung des monarchischen Ideals. Mehr noch: der junge Regisseur brach radikal mit allen bis dahin gültigen Tabus, dieser Cineast proklamierte die Losung von der "blutigen bolschewistischen Lüge", bezogen nicht nur auf die Ermordung der Zarenfamilie, sondern auf die ganze Geschichte des kommunistischen Regimes in Rußland.

Mehrmals wiederholt der Kommentator im 105minütigen Streifen, teils schwarzweiß, teils farbig gedreht, das Iwanowsche Jahrhundertwort von der "blutigen bolschewistischen Lüge". (Zu einem Zeitpunkt, da Gorbatschow noch regierte und die Partei der Bolschewiki die Alleinherrschaft besaß).

In seiner politischen Radikalität und in der ästhetischen Ausformung des Themas ist "Suhneopier" antibolschewistischer als sämtliche Ufa-Filme der Hitler-Epoche ("GPU", "Panzerkreuzer Sewastopol", "Das letzte Dorf"). Eine Aufführung des Films erlebte ich im Juni 1992 in einem Studiokino gleich hinter dem Arbat, wo eine schmuddelige, aber immerhin Wärme ausstrahlende Boheme nicht nur brotlose Straßenmaler und hungrige Studenten anlockte; auch Bettlerinnen entdeckte ich, Rekruten und Proleten. Ich erlebte die bewegendste Trauerfeier für Menschen, die vor 74 Jahren gestorben waren. Was die Macht der Gefühle bedeutet, die Kraft des Unbewußten, wozu spontane Aufwallung der Emotionen führen kann, ich weiß es seitdem. Das anhaltende Gebanntsein ertrugen nicht alle Zuschauer, einige verließen den Saal, um bald wieder hereinzukommen. Viele weinten, die Wangen von Tränen überflutet. Andere waren nahe am Ausflippen. Deutsche Ökosophen pflegen heute von der "Neuen Sensibilität" zu sprechen; daß der Film eines zarentreuen jungen Intellektuellen, aufgewachsen in der Sowjetunion, diese zu wecken, zu vermitteln vermag, ahnen sie wohl nicht.

Jedenfalls begann die Achsenverschiebung in Rußland mit einer Wiederentdeckung des Monarchischen, menschlich verkörpert in Nikolaj, Alexandra, ihren Kindern. "Welch schöne Gesichter", läßt Iwanow sagen, wenn die Porträts der Romanows im Film gezeigt werden. Wo Heroismus ist, triumphiert auch das Schöne. Revisionismus als Achsenverlagerung, eine irrationale Sehnsucht nach der Monarchie als eine postkommunistische, aber auch postliberalistische Triebkraft der Geschichte – die russische Reaktion auf "Sühneopfer" läßt diesen Schluß zu. Hegel sagte treffend: Ist das Reich der Vorstellungen erst einmal revolutioniert, so hält die alte Wirklichkeit nicht mehr lange stand.

Nikolaj II. (1868-1918) und Alexandra (1972-1918) werden im Film von populären Schauspielern dargestellt, stumm, nur die Gesichter und Gesten sprechen. Den Zaren läßt der Filmemacher als einen moralisch integren, tiefgläubigen, familienliebenden, mutigen, belesenen, sanften Autokraten erscheinen, geistig ein Weltbürger, von seiner von Gott auferlegten Mission als Sühneopfer durchdrungen. Alexandra Fjodorowna, geborene Alice von Hessen, Tochter des Großherzogs Ludwig IV., im Film glorifiziert als eine Schönheit und als leidenschaftlich Liebende, die aus Verehrung für Gatten, Volk und Reich zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierte, deren Liebe und Hingabe von der damals liberalen russischen Öffentlichkeit nicht erwidert wurden. Am 23. Februar 1917 schreibt sie ihrem ins Große Hauptquartier abgereisten Mann: "Ach, mein Liebster, wie traurig ist es ohne Dich – wie einsam, wie dürste ich nach Deiner Liebe, nach Deinen Küssen, mein kostbarer Schatz, ununterbrochen denke ich an Dich… Ich überschütte Dich mit Küssen. Immer die Deine." Diesen und andere Liebesbriefe von Alex an Nicky vernimmt man in "Sühneopfer". Solschenizyn widmete dieser außergewöhnlichen Frau mehrere Kapitel in "November sechzehn" und "März siebzehn", aus denen grenzenlose Bewunderung spricht.

Anatolij Iwanow rühmt den Rettungsversuch der "tapferen Weißgardistengeneräle" Judenitsch, Koltschak, Krasnow, Wrangel, Alexejew, Kornilow, und charakterisiert den Advokaten Kerenskij als einen von Zarenhaß zerfressenen "Freimaurer". (In einem Film, wie schon erwähnt, der zur KPdSU-Zeit gedreht wurde.) Iwanow variiert ein Dostojewskij-Wort: "Die Schönheit wird die Welt erlösen." Für ihn verkörpert der Bolschewismus nicht nur das absolut Böse, er ist gleichzeitig das luziferisch Häßliche, ein sardonisch grinsender Lenin ist umgeben von Aschkenasimaugen (Szene aus einer alten Wochenschau), in Großaufnahme schwarzweiß erscheint, wie auf einem miserablen Polizeifoto, der Kopf des Exekutionskommissars Jankel Jurowski, wobei Iwanow dessen Vatersnamen akzentuiert: "Chaimowitsch".

Eine andere Filmszene. Kurz vor dem Massaker verteilt Jurowski Revolver und Patronen. Zwei aus dem Erschießungskommando, Russen, verweigern den Befehl, auf den Knaben, den Bluter Alexej, und die vier Zarentöchter zu schießen. Ein junger Tschekist weigert sich nicht, ein Kind und die Frauen zu töten, der, so im O-Ton des Filmerzählers "Ungar Imre Nagy", der "Jude Nagy", nach Iwanow derjenige, der "Belsatzar" an der Wand hinterläßt; in Großaufnahme zeigt ihn der Regisseur vor der blutbefleckten Tapete, den Bleistift in der Hand, und diese Hand schreibt Heines Vers in deutscher Sprache.

Ob Iwanow damit das Geheimnis der Schrift im Todeskeller gelüftet hat, oder ob diese Szene provokativer Phantasie entspringt, der Zuschauer erfährt es nicht, doch wird eines überdeutlich, nämlich eine judenkritische Tendenz in diesen Filmsequenzen. Judenkritik, aber nicht Judenfeindschaft, denn Iwanow kommentiert nicht Nikolajs Judenemanzipation, der die Rubinstein, Ginsburg, Stürmer, Simonowitsch, Manus, Sliosberg, Brodski, Schallt, Gurewitsch, Mandel, Warschauer, Friedemann, Eisenstein, Grusenberg, Winawer, Kalmanowitsch Aufstieg und Einfluß in der Schlußepoche der Romanow-Dynastie zu verdanken haben. Iwanow ist kein Antisemit, hätte er doch sonst jene vorgeführt, deren Zarenhaß mehr als nur eine Banalität des Bösen gewesen ist, den Bürgerkriegseinpeitscher, Bauernverfolger, Kosakenausrotter Jankel Solomon Auerbach ("Swerdlow"), den GPU-Organisator Genrich Jehuda ("Jagoda"), den KZ-Erbauer Naftali Frenkel ("aus dem Häftling müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen, danach brauchen wir ihn nicht mehr"), den Ukraineschlächter Lasar Kaganowitsch. Nichts darüber in Iwanows "Sühneopfer", geschaffen zu einer Zeit, da die Namen der neuliberalen Finanzoligarchen Beresowski, Gusinski, Smolenski, Tschubais, Nemzow noch unbekannt waren. Nur an einem läßt Iwanow keinen Zweifel: Daß in hundert Jahren noch den Kommunisten der Zarenmord angelastet werden wird.

Historiographie durch Quellenforschung, Auswertung der wissenschaftlichen Literatur, das ist die eine Seite; das Aufzeigen der Geschichte anhand von Spielszenen und dokumentarischen Filmstreifen die andere, und sie greift tiefer, emotional und humanmoralisch.

Dieser Methode bedient sich Anatolij Iwanow, indem er die Liquidierung von Mitgliedern des Hochadels und der Romanow-Familie zeigt, Frühjahr und Sommer 1918. Eigentlich entziehen sich diese Bilder der Beschreibung. Gefesselte, mit Augenbinden geblendete Opfer treibt die Tscheka in die Waldsümpfe des Ural, Frauen und Männer werden in tiefe Gruben gestürzt, anschließend durch Gewehrschüsse getötet, dann übergossen mit Giftsäuren, dann angezündet. Explosionen. Daniels Feuerofenopfer; diesmal gab es keinen Wiederaufstieg. Das alles minutenlang in Iwanows "Sühneopfer".

Louis Aragon, dessen 100. Geburtstag heuer in fast sämtlichen westdeutschen Feuilletons ekstatisch gefeiert wurde, schrieb hymnische Gedichte auf den Triumph der Henker "Das Geknatter der Erschießungen fügt Rußland / eine neue Heiterkeit bei…" Nachdem er mit Elsa Triolet, der Schwägerin Majakowskijs und seiner Lebensgefährtin, fortan, die UdSSR bereist hatte, wurde Aragon Redakteur der L’Humanité und 1937 Chefredakteur des stalinistischen Le Soir. Für die Aragon, Rolland, Barbusse waren Lenin und Stalin die "größten Philosophen aller Zeiten". Als Picasso 1953, nach dem Tode des Diktators, für die Zeitschrift Les Lettresfrançaises eine Zeichnung lieferte, in der Stalin als zerlumpter Räuber erscheint, äußerte Elsa Triolet: "Ihr seid alle Verrückte. Picasso hat es geschafft, an das Bild des Gottes zu rühren." Aragon entschuldigte sich öffentlich. "Viele hingen dem Traum von der ‘süßen Revolution’ nach, während sie in Wirklichkeit nach frischem Blut und menschlichen Kadavern roch", kommentiert der junge russische Literaturkritiker Jewgennij Schklowskij das Wirken des tragisch gescheiterten Isaak Babel, der, Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Odessa, bis zu seinem Gulagtod am 21. Januar 1940 an die Süße der Blutigen geglaubt hatte.

"Blutige bolschewistische Lüge…" Iwanows Donnerwort richtet sich auch gegen die Verbündeten der Bolschewiki während des Zweiten Weltkrieges, gegen die Freunde der Zarenmörder unter den Westalliierten, es verurteilt alle staatlichen Nachkriegsgründungen im Zeichen des Jalta-Diktats, und insofern ist es auch ein Menetekel im Regierungspalast der BRDDR. Nein, Kohl ist kein rheinischer Belsazar, Lafontaine kein saarpfälzischer Chaldäer, Herzog kein Nebukadnezar. Die Geschichte schlägt die Stürzenden mit Blindheit, darum sehen sie nicht ihr Menetekel, zumal ein Prophet Daniel weit und breit nicht in Sicht ist, Weizsäcker und Baring sind es jedenfalls nicht. Wer gegen den Revisionismus streitet, ist geschichtsblind.

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Die von "Sühneopfier" mit ausgelöste präzaristische nationale Gemütsaufwallung beschleunigte ein neues Wir-Gefühl. In ihrem jüngsten Brief schreibt Tatjana Goritschewa, in den Siebzigern Gründerin der dissidenten Marianischen Frauenbewegung in Leningrad: "Eine kräftige geistige Speise habe ich im Kloster Divejewo bekommen, wo sich die Gebeine des größten russischen Heiligen des 19. Jahrhunderts, Seraphim von Sarow, befinden. Der hl. Seraphim ist stärker als die ganze Welt. Die Fülle der Charismen offenbart sich an diesem Ort mit einer übermenschlichen Kraft. Viel an Heiligen und Prophezeiungen, das tiefe, unendliche Gebet, die Freude, die Askese – man lebt dort schon wie im Gottesreich. Tausende Menschen kommen nach Divejewo jeden Tag, viele bleiben dort und leben als Bettler, weil sie sich das andere Leben nicht mehr vorstellen können." Die russische Religionsphilosophin und auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin schließt: "Hunderte von neuen Klöstern wurden wunderbar geöffnet. Sie sind in den Wäldern verborgen. Es wundert mich immer wieder, wie schnell das Heilige Rußland aufgebaut wird. Die Priester sind die höchste Autorität im Lande. Sie können (und machen) alles. Das Volk liebt sie über alle Maßen."

Die Priester und das Volk, sie dürfen für die Wiedergeburt des Zarentums beten, sie können die Restitution der Monarchie sogar fordern, in Unterschriftenaktionen und Wallfahrten, verwirklichen läßt sich ihr Traum aber nur durch politische Macht. Die herrschende Macht würde es nur dann tun, wenn sie einen Vorteil davon hätte.

Aus der Moskauer Wochenschrift Russkij Westnik erfuhr die Öffentlichkeit, daß Jelzin einen Ukas vorbereitet, in dem der Kirillow-Linie der Romanows der offizielle Status eines "Russischen Kaiserhauses" verliehen werden soll, sobald die Kanonisierung des 1918 ermordeten Zarenpaares stattgefunden hat.

Die Kirche ist also der entscheidende Faktor. Bekanntlich steht an der Spitze der "Kirillowitschi" die Großfürstin Maria Wladimirowna, die, was Machtbewußtsein anbelangt, einiges von der zweiten, der deutschen Katharina geerbt zu haben scheint. Der Sohn dieser ehrgeizigen, charismatischen Frau, der designierte Thronfolger Georgij, hervorgegangen aus der inzwischen aufgelösten Ehe mit einem Enkel des letzten deutschen Kaisers, absolviert derzeit eine Marine-Offiziersakademie in St. Petersburg.

Abgesehen davon, daß gewisse Monarchistenkreise aus dem panslawistischen Lager gegen die Inthronisierung eines "Georg von Hohenzollern" heftigst polemisieren (Russkij Westnik Nr. 18-19 1997), läuft der Plan Jelzins wohl darauf hinaus, für den künftigen Zaren einer rein dekorativen, das heißt konstitutionellen Monarchie einen kollektiven Regenten zu etablieren, in der Gestalt der herrschenden Finanzoligarchie, die gegen einen machtlosen Monarchen nichts einzuwenden hätte, siehe Großbritannien, Spanien, Holland, Schweden, Belgien, Dänemark. Eine Lieblingspuppe der Bankiers aus der neuen kapitalistischen Nomenklatura.

Das widerspräche allerdings dem Willen der antiliberalistischen Kräfte in Rußland; sie wünschen das Selbstherrschertum zurück, russisch "Samoderschawije", ein Volkskaisertum autokratischen und zugleich sozialen Charakters. Die Liebe zu einem solchen Monarchen ist und bleibt irrational, wie jede Liebe, und die Zukunft wird zeigen, ob die kalte Rationalität einer von Parteien geschaffenen Konstitution das Irrationale einer machtvollen Gemeinschaftssehnsucht zu besiegen vermag.


Quelle: Staatsbriefe 8(11-12) (1997), S. 20-33

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