WOLFGANG STRAUSS / WER VERTEIDIGTE DAS ROTE LIBAU?
Im Schlußbild der jüngst an der Deutschen Oper Berlin aufgeführten "Dialoge der Karmeliterinnen" von Francis Poulenc legen die vom Wohlfahrtsausschuß zum Tode auf der Guillotine verurteilten Nonnen ihre Ordenstracht zusammen, hüllen sich in Wolldecken, treten langsam an
die Rampe, und während ihr Salve Regina ertönt, hört man das Fallbeil sausen und sieht die Frauen niedersinken, bis die letzte am Boden liegt. Seit den Jakobinern haben Hinrichtungsmechaniker alle Ideologien nicht unter Mangel an Objekten gelitten. Mit dem Geheimen Zusatzprotokoll des Molotow/Ribbentrop-Pakts begann im Baltikum das Genocidium, in Lettland zum Beispiel, wo in wenigen Monaten bolschewistischer Fremdherrschaft 1940-41 ca.35 000 Menschen erschossen oder nach Sibirien deportiert wurden. Das Trauma von der ethnischen Auslöschung aber ist älter als jener Schicksalsaugust 1939.
Das Antlitz der Geschichte ist von verpaßten Chancen wie von Leprabeulen übersät. Verspielt hat die Chance deutschjüdisch-baltischer Aussöhnung Ignatz Bubis, "Bambi"-Preisträger 1994, mit vielen unverantwortlichen Äußerungen an viele Adressen. So beschuldigte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden im November die Bonner Regierung wegen Lettland einer verdeckt antisemitischen Haltung - Bei der Eröffnung der "Novembertage 94" im Jüdischen Museum in Rendsburg sagte Bubis, die "lettischen Helfershelfer von damals" bezögen eine Rente aus Deutschland, während die Überlebenden des Ghettos von Riga bislang keinerlei Entschädigung erhalten hätten. Da es in der ersten Lettischen Republik keine Ghettos gab (aufgelöst wie im gesamten Baltikum nach der 05er-Revolution), bleibt die Frage nach den "Helfershelfern". Wer waren sie, wem dienten sie, und - gab es solche überhaupt?
Nehmen wir das Beispiel Libau zur Klärung dieser Fragen. Libau, das lettische Liepaja, meine Geburts- und Jugendstadt, Libau war in der Zwischenkriegsperiode kein völkischer Krähwinkel, sondern eine weltoffene Vielvölkerstadt, in dem auch das kleine Volk einen angestammten Platz einnahm.
Am Abend des 24. Juni 1941, zwei Tage nach Kriegsausbruch, steht die masurische 291. Infanteriedivision General Herzogs vor der Seefestung. Am 25. Juni versucht Oberst Lohmeyer mit seinem Infanterieregiment 505 und einem Marinestoßtrupp, die Stadt im Handstreich zu nehmen, in der sich schon die antikommunistischen Letten erheben. Grenadiere und Matrosen stürmen über die Landenge gegen die noch aus der Zarenzeit stammenden Forts. Aber sie kommen nicht durch. Ehe die beiden anderen Regimenter der Elchkopf-Division heran sind, tritt die Garnison von Libau zum Panzer-Gegenstoß an, bis vor die deutschen Artilleriestellungen. Die Rote Armee erobert die Küstenstraße. Lohmeyer gelingt es mit seinen Ostpreußen, am 27. Juni in den südlichen Abschnitt der Festungswerke einzudringen. Am 28. Juni erobern Infanteristen und Marinesoldaten, deren Kommandeure fallen, die Neustadt von Libau. Der Straßenkampf in der Altstadt rast achtundvierzig Stunden. MG-Nester in verbarrikadierten Häusern können nur mit Feldhaubitzen, vorgezogenen schweren Infanteriegeschützen niedergekämpft werden. Libau brennt.
Die opferbereite Verteidigung der Seefeste Libau hatte einen stählernen Kern, er bestand aus der Jugend des Libauer Judenviertels. Gut ausgebildet und ausgerüstet, glänzend organisiert und von fanatischer Tapferkeit, verteidigte dieses kommunistische Jungproletariat das letzte Bollwerk des roten Libau, das Armee-Kaufhaus im Zentrum der Altstadt. Aus den Kellern des glühenden Gebäudes feuerten sie bis zum letzten Patronengurt, die Mädchen und Männer der jüdischen Arbeiterjugend. Aus den Trümmern kriecht keiner mit erhobenen Händen. Die Verwundeten erschießen sich. Anders als die Oberschicht und die begüterte Mittelklasse
der Libauer Juden, anders als das jüdische Bildungsbürgertum, das sich rechtzeitig vor dem Schicksalsaugust neununddreißig abgesetzt hatte, geflohen nach England, Frankreich, Amerika, hatten sich die Armen - die "Unterprivilegierten" - für die Sache Marxens, Lenins, Stalins entschieden.
Hier, im aufgelassenen Judenviertel zwischen Stadttheater und Fischmarkt, war schon im September 1939 rot geflaggt worden. Die kommunistische Partei Libaus bestand im Anschlußmonat Juni 1940 nur zu zehn Prozent aus Letten; die Mehrheit stellten jüdische Jungproletarier, Schüler, Intellektuelle, verschworen nicht dem Talmud, dem "Nathan" sondern dem "Kapital", dem Internationalismus, der Ideologie der KPdSU. In der ersten Sowjetregierung Lettlands dominierten Russen und Juden. Auf das Konto dieser Okkupationsregierung kam der antilettische Progrom von 1940. Was Wunder, daß lettische Arbeiter, Fischer, Bauern, Bürger, Offiziere 1940, als der Ethnocid offizielle Politik der Annexionisten wurde, das Besatzungsregime mit NKWD, Lettenfeindschaft, Marxismus, mit "Judentum" identifizierten? Wie schwer wog da schon die Tatsache, daß jüdische Bildungsbürger - die fanatischsten Antikommunisten, die man sich denken konnte -sich dem "westlichen", das heißt hier deutschen Kulturkreis zugehörig fühlten?
Judenhaß, undifferenziert, irrational und grausam, erfüllte die erniedrigten Letten, die mit sowjetischen Gewehren das von jüdischer Arbeitermiliz verteidigte Armeekaufhaus stürmten. Niemand konnte den Soldaten Lohmeyers das Rasen erklären. Als wenig später Riga der Roten Armee entrissen wurde, zerstörten Letten sämtliche Synagogen, brachten ca. 400 Juden um. Lettische Partisanen und Angehörige des Selbstschutzes konnten noch vor dem Eintreffen der Deutschen ganze Stadtviertel von Riga befreien.
Mit der Heeresgruppe A war im Baltikum die Einsatzgruppe A aufgetaucht, eine andere Art von Tscheka. Zu den Sonderaufgaben dieser aus Sicherheitspolizei, Sicherheitsdienst (SD) und Gestapo gebildeten Menschenjagdkommandos zählte auch der Versuch, lettische Partisanen zu Judenpogromen zu provozieren, schreibt der Historiker Hans Werner Neulen ("An deutscher Seite" München 1985, S. 289). Das Dritte Reich war nicht reichsfähig. Die 1918/19 unter großen Opfern eroberte nationale Freiheit bekamen die Letten von Hitler, Himmler, Heydrich nicht zurück, und so gehörten auch sie, von Anfang an, zu den betrogenen, gedemütigten, drangsalierten Völkern im von Deutschland besetzten Teil Osteuropas zwischen 1941-45.
Die Entscheidung im Kampf um die nationale Selbstbehauptung der Baltikumsvölker, nach Jahrhunderten der Russifizierung und Staatslosigkeit, hatte der Erste Weltkrieg eröffnet. Unmittelbar nach Lenins Oktober-Putsch wurde die Loslösung von Rußland oberstes Ziel der Baltikumsvölker; den Plänen vom Frühjahr 1917, als autonome Republiken in eine "Russische Föderation" einzugehen, versetzte die bolschewistische Machtergreifung den Todesstoß. Am 28. Januar 1918 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der Esten, im Februar folgte Litauen, am 18. November proklamierten die Letten die staatliche Unabhängigkeit. Die Bolschewiki intervenierten terroristisch: "Täglich brachten die Hilferufe der Ukrainer. Balten und Finnen Greueltaten der Roten zur Kenntnis unserer Heerführer" (Reichskanzler Max von Baden in seinen "Erinnerungen" Stuttgart 1927).
Deutsche Truppen - Freiwillige der Deutschbalten und Freikorps aus dem Reich - retten das Baltikum. In Lettland kämpfte die Baltische Landeswehr, in Estland das Baltenregiment. Am 25. Februar 1918 zogen deutsche Verbände in Reval ein, sie wurden als Befreier begrüßt. Max von Baden: "Es waren nicht nur deutsche Adelige, sondern auch lettische und estnische Bauern, die während der ersten Leidenszeit Tag für Tag die deutschen Truppen zu Hilfe riefen und dann, als sie endlich kamen, mit einem Jubel begrüßten, der von allen, die ihn gehört haben, niemals vergessen werden wird." Zwei Jahrzehnte durften sich Esten, Letten und Litauer der Freiheit erfreuen. Zwei Jahrzehnte nur, doch in dieser kurzen Epoche bewiesen die schöpferischen Baltikumsvölker ihr Können und ihr Staatsbewußtsein, ihren Anspruch auf den eigenen Weg und ihre historische Legitimation. Sie wurden Weltexporteure.
Riga festigte seinen Ruf als "Paris des Ostens", eine reiche, vielkulturelle Stadt, geprägt bis zur Jahrhundertwende, als der erste Wirtschaftsboom kulminierte, von einem protestantisch-pietistischen deutschen Bürgertum, aus dem Fabrikanten, Kunstmäzene, Kaufleute, Hochschullehrer, Theologen hervorgingen. Vor der Aufbruchstimmung der Gründerjahre zeugen heute noch prachtvolle Jugendstilbauten. Als das Zarenimperium schon vom Verfall gezeichnet war, zählte Riga fast 300 000 Menschen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren es schon 520 000. Riga war damals Rußlands fünftgrößte Stadt - nach Sankt Petersburg, Moskau, Kiew und Warschau. Über sechs Prozent der Industrieproduktion des zaristischen Vielvölkerstaates kamen aus Riga, obwohl in Lettland damals nur eineinhalb Prozent Russen lebten.
Und als Lettlands Fenster zum Westen präsentierte sich Libau, eine Gründung des Schwertritterordens (1253), danach ein Stützpunkt der Hanse, belehnt mit dem Stadtrecht 1625. 1919 war Libau Sitz der provisorischen lettischen Regierung, als ehemalige Marinebasis der zaristischen Baltischen Kriegsflotte eine Hoffnung des revolutionären Lettentums, vor allem seines jungen Proletariats.
Bis zu jenem 23. August 1939. Dem lettischen Außenminister Munters sagte Stalin: "Peter der Große sorgte dafür, daß ein Zugang zur See gewonnen wurde. Wir sind jetzt ohne einen solchen Zugang. Wir wünschen die Benutzung von Häfen, die Benutzung von Zugangsbahnen und die Sicherheit ihrer Verteidigung." Am 23. September 1939 erklärte Molotow dem estnischen Außenminister Selter, Estland brauche auf keinerlei Hilfe zu hoffen, England sei weit, Deutschland im Westen gebunden, im Baltikum könne es nicht mitreden. Am 16. Juni 1940 wird Litauen besetzt, am 17. Juni Lettland und Estland. Die Staatspräsidenten Estlands und Lettlands, Konstantin Päts und Karl Ulmanis, verschleppt Stalins Geheimpolizei nach Sibirien. Hunderttausende von Esten, Litauen, Letten folgen in Viehwaggons.
Die zweite große Verfolgung bricht kurz vor "Barbarossa" über die Baltikumsvölker herein. NKWD-Truppen umstellen Dörfer und Kleinstädte und treiben die Familien zusammen. Nächtliche Razzien in den Großstädten. "Mit dürftigen Bündeln marschieren die Ausgetriebenen zu den Zügen, die sie nach Sibirien bringen", schildert Dieter Friede auf
grund von Zeugenaussagen. "In Lettland ist von den Tagen der Großen Deportation der 13. Juni 1941 am lebendigsten im Gedächtnis. An jenem Tage hielt ein Deportierten-Transport kurz vor der Bahnstation Zalite (Sahlit). Es sind nur 200 Meter bis zur Wasserstelle. Die Posten erlauben trotzdem nicht, daß die Letten sich Wasser holen. Aus Pfützen trinken sie. Dann, als die Waggons wieder verriegelt sind und der Zug anfährt, schießen die Posten auf die Waggons. Blut tropft durch die Planken, durch die Türen. Mit Blut schreiben die Gefangenen auf Tücher die Tragödie von Zalite. Ihre Blutzeitungen zirkulieren durch ganz Lettland." ("Das russische Perpetuum mobile", Würzburg 1959, S. 136).
Die Bartholomäusnächte treiben die Letten in die Arme der Deutschen. Ohne Illusionen. Der deutsche Offizier Ax berichtet über die Motivation der Letten in der 15. Waffen-Gren. Division der SS: "Die lettischen Angehörigen der Division haben folgende politische Einstellung: Sie sind in erster Linie Letten! Sie erstreben einen selbständigen lettischen Nationalstaat. Vor die Wahl zwischen Deutschland und Rußland gestellt, haben sie sich für Deutschland entschieden. Unter deutscher Herrschaft zu stehen, erscheint ihnen als das kleinere Übel. Der Haß gegen Rußland ist tief verwurzelt und hat durch den russischen Einmarsch in Lettland 1940 und die anschließende Besetzung bis 1941 neue Nahrung gefunden ..." (Neulen, S. 294). Und in lettischen Selbstaussagen: "Unser Kampf gegen den Bolschewismus war der einigende Faktor. Für uns Letten gab es keinen anderen Weg, für unsere Freiheit zu kämpfen, denn es gab keinen anderen, der uns Waffen und Munition für den Kampf geben konnte. (...) Den Deutschen gegenüber bestand ein gewisses Mißtrauen, der ,Drang nach Osten' etwa, aber für meine Generation war schon allein die Idee, man könne unsere Souveränität in Lettland in Frage stellen, unvorstellbar. Auf jeden Fall war Krieg und die UdSSR war der Feind Nr. 1. (...) Die lettischen Legionäre dachten es nicht nur, sie haben es auch laut gesungen: ,Zuerst werden wir die Roten schlagen, danach die Feldgrauen. "Statt Untergang in den sowjetischen Lagern und in der Verbannung wollten wir bei dem europäischen Kreis bleiben. Ein Ertrinkender greift auch nach einem Strohhalm." (Neulen, S. 292).
Die Gesamtstärke der im Zweiten Weltkrieg an deutscher Seite kämpfenden Letten betrug ca. 165 000 Mann, dies entsprach etwa dem sechsfachen Umfang der lettischen Vorkriegsarmee. Die ersten Freiwilligenbataillone, aufgestellt im Oktober 1941 in Riga, kamen an der Nordfront zum Einsatz. Freiwillige standen beim RAD und bei der Organisation Todt, kämpften in der Marine und bei der Luftwaffe. Die Nachtschlachtgruppe 12 der Luftwaffen-Legion Lettland verfügte über drei Staffeln und besaß Anfang Oktober 1944 noch achtzehn einsatzbereite Maschinen. Es gab eine Lettische Brigade am Wolchow und eine Lettische Legion, letztere als Sammelbegriff für alle im Rahmen der Waffen-SS mobilisierten lettischen Verbände. Neulen erwähnt die 19. Division (lettische Nr. 2), eine der kampfstärksten Einheiten der ausländischen Waffen-SS, die 14 mal im Wehrmachtsbericht hervorgehoben wurde und zehn von zwölf lettischen Ritterkreuzträgern stellte (S. 292). Aufgestellt, kurz ausgebildet, an die Front geworfen, zerschlagen und aufgerieben, neu aufgestellt, denn an Freiwilligen mangelte es nicht
Selbst als Lettland nur noch aus ein paar hundert Quadratkilometern des Libauer Brückenkopfes bestand, meldeten sich neue Freiwillige. Männer und Frauen, Jugendliche, halbe Kinder noch. Sie verbluteten am Nordflügel der Ostfront, verteidigten die Panther-Stellung, starben bei Opotschka, kämpften in Ostpreußen, in den fünf Kurlandkessel-Schlachten. "Die Letten sollten bis zum Kriegsende verbissen um ihr letztes Stück Heimat kämpfen" Symptomatisch war das erbitterte Ringen um den Stützpunkt Vanagi, der Ende Dezember 1944 siebzehn mal den Besitzer wechselte, bis der Ort endgültig in deutsch-lettischer Hand blieb." (Neulen, S. 294). Waffen-SS-Freiwillige der estnischen Nr. 1 verteidigten sechs Monate lang die Narwa-Front, ermöglichten die Flucht von Zehntausenden ihrer Landsleute.
Letten der 15. Waffen-Grenadier-Division der SS (lettische Nr. 1) gehörten zu den letzten Verteidigern Berlins. Das 15. Füsilier-Bataillon hatte sich im Reichsluftfahrtministerium festgesetzt und kämpfte Unter den Linden, Kampfstärke: 80 Mann, bis auf den letzten verwundet. "Die Letten schienen wenig Neigung zur Aufgabe verspürt zu haben, denn als deutsche Parlamentäre ihre Linien passieren wollten, wurden sie von den Letten daran gehindert." (Neulen, S. 295).
Menschen eines indoeuropäischen Volkes des "Ostens" verteidigten die Reichstrümmer eines gemlanozentrischen Xerxes, der noch im Oktober 1944 den lettischen Freiwilligen Pässe ausstellen ließ mit einem Gelben Stern: "Ungeklärte Staatsangehörigkeit (früher: Lettland)."
Im Dezember 1942 spottete SS-Gruppenführer Berger über "diese Letten", die sich über die Wehrmacht "Sondervorteile politischer Art" verschaffen wollten. Der Spott galt den Denkschriften lettischer Politiker, Intellektueller, Militärs, in denen die Wiederherstellung staatlicher Unabhängigkeit gefordert wurde. Zwei Jahre später war es der gleiche Spötter, der erste konkrete Schritte unternahm, für ausländische Freiwillige und Fremdarbeiter einen "Europapaß" herauszugeben. Zu spät. In ein Konzentrationslager gesteckt wurde noch fünf Monate vor Kriegsende der Wehrmachts-Sonderführer Gustav Celmins, ein Deutschenfreund par excellence, Chef der neuheidnisch-populistischen Donnerkreuzler (Perkonkrusts), 1934 verboten, verfolgt vom anglophilen Diktator Ulmanis.
Nach der Befreiung von Libau und Riga 1941 hatte das Lettenvolk die Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit, die Bildung einer Nationalregierung und die Mobilisierung einer Nationalarmee von mindestens 100 000 Mann erwartet. Die neue Besatzungsmacht ließ nur die Tätigkeit einer von Berlin abhängigen Landeseigenen Zivilverwaltung zu, die der ehemalige General Oskar Dankus leitete.
Die lettische Nationalbewegung sammelte sich hinter der rot-weiß-roten Fahne eines anderen Generals, Rudolfs Bangerskis, ehemaliger lettischer Verteidigungsminister und ab 1942 Generalinspekteur der Lettischen Legion. In Briefen und Memoranden an Hitler, Himmler, Rosenberg, Berger verlangte dieser lettische Clausewitz eine radikale Wende in der Besatzungspolitik, konkret: die Anerkennung Lettlands als Staat, vollkommen selbständig und unabhängig, Konstituierung einer souveränen "Provisorischen Regierung Lettlands" Hitler zögerte, ließ lediglich die Bildung eines Lettischen Nationalkomitees zu. das sich am 20. Februar 1944 in Potsdam konstitnierte. Die Übertragung der Staatsgewalt in Kurland auf das Komitee war geplant, kam jedoch angesichts des Zusammenbruchs der Kurlandfront nicht mehr zur Ausführung. Verspielt und verraten. Fünf Minuten nach zwölf.
Nach dem Kriege nimmt das NKWD im Baltikum neue Massensäuberungen vor. Erfüllt, übererfüllt wird der Tatbestand des Genocidiums. Stalin läßt im Mai 1947 ca. 300 000 Männer, Frauen und Kinder aus Litauen nach Sibirien verschleppen. In den vierziger und fünfziger Jahren verliert Estland 15 Prozent seiner autochthonen Bevölkerung. Im März 1949 werden 60000 Menschen aus Lettland nach Nowaja Semlja und Zentralasien deportiert. Von der lettischen Bevölkerung sind selbst nach vorsichtigen Angaben zwischen 15 und 20 Prozent entwurzelt, deportiert, vernichtet worden, ca. 200 000 Menschen. (Am 1. Januar 1940 hatte Lettland 1951000 Einwohner). Entortung und Entvölkung als Bilanz eines Völkermordes. In die leeren Räume strömte eine organisierte russische Zuwanderung. Bis zum Frühjahr 1955 waren bereits rund 700000 russische Soldaten, Funktionäre, Geheimpolizisten mit ihren Familien im Baltikum angesiedelt worden; die Überfremdungszahl erhöhte sich bis zum Beginn der Perestrojka-Ära auf das Fünffache von 1955.
"Die Verluste seit 1940 haben die drei Völker des Baltikums so sehr geschwächt, daß für ihre nationale Existenz gefürchtet werden muß." Der Zeithistoriker und Slavist Dieter Friede, ein ehemaliger Workuta-Häftling, schrieb diesen Satz 1959 (S. 138). Vorahnung des Vollzugs eines Todesurteils? Drei Jahrzehnte später vollzieht sich das Wunder an der Düna. Die singende Revolution der Esten, Letten, Litauer (und der übriggebliebenen wenigen Deutschen) kulminiert 1989 in einer sechshundert Kilometer langen Menschenkette durch alle drei Baltikumsländer. Kerzen und Herzen und Flaggen für die baltische Freiheit.
48 Stunden nach dem gescheiterten KGB-Putsch, August 1991, sind die Baltikumsvölker frei (wofür, um der geschichtlichen Wahrheit Ehre zu geben, auch Boris Jelzin kämpfte), hat der baltische Befreiungsnationalismus gesiegt. Daß Deutschland noch lebenden Freiwilligen einer heroisch tragischen Epoche (einigen, nicht allen!) eine ohnehin karge Rente zukommen läßt, ist eine moralische Selbstverständlichkeit. Für die Judenvernichtung im Baltikum gab es verschiedene Zuständigkeiten. Noch verwickelter sind ihre Ursachen. Bubis will und kann das nicht verstehen, lebt er doch außerhalb geschichtlicher Tatbestände.
"Sie können ruhig die alten deutschen Städtenamen benutzen", sprach im November Estlands Staatspräsident Lennart Meri zu einer deutschen Wirtschaftsdelegation. "Sprechen Sie ohne Zögern von Reval und Dorpat, von Wesenberg, Schwanenburg, Baltischport. Uns stört das überhaupt nicht." Neu-Schwanenburg, das lettische Wez Gulbene, eine verwitterte Schwertritterburg aus dem 13. Jahrhundert, an der Grenze zu Estland gelegen, wo meine aus Sankt Petersburg geflüchteten Vorfahren väterlicherseits neue Heimat fanden, 1918, im Herzen der Livländischen Schweiz. Dünaburg, das lettische Daugavpils, wo mein Vater, ein Nachkomme elsässischer Protestanten, 1920 als Korporal beim 1. Lettischen Kavallerieregiment diente. Riga, wo meine Vorfahren mütterlicherseits, heimatvertriebene Protestanten aus dem Salzburgischen, seit 200 Jahren ihrem Handwerk nachgingen.