WOLFGANG STRAUSS / PRÄVENTIVSCHLAG ODER ANGRIFFSKRIEG?
Es gibt geschichtliche Ereignisse, die über eine lange Zeit Fluten leidenschaftlichster Zustimmung wie Ablehnung auslösen. Dazu gehört auch ein kaum mehr zu überschauender Komplex von Erklärungsversuchen zum deutsch-sowjetischen Krieg.
Kriege zählen nicht nur zur Selbstjustiz der Völker, sondern offenbar auch ihrer Historiker. War der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nun der Beginn eines Präventivschlages oder der eines Angriffskrieges? Viktor Suworows "Der Eisbrecher" von 1989, Anatolij Iwanows "Logik des Alptraums" (1993) und Werner Masers "Der Wortbruch" von 1994 markieren den vorläufigen historiographischen Höhepunkt. Ein Ende ist nicht abzusehen. Das postkommunistische Rußland hat seine Akten über diese Epoche keineswegs uneingeschränkt zugänglich gemacht. In Moskauer Archivkellern lagert Sprengstoff mit Zeitzündern. Einem nichtakademischen Historiker wie mir bleibt nichts anderes, als den Facettenreichtum von Widersprüchen, Gegensätzen, Ambivalenzen, Doppelbodigem zu beschreiben. Das eigentlich Unerklärbare folgt in zehn Episoden.
* * *
1. Mitte Mai 1941 empfohlen die beiden höchsten Sowjetmilitärs ihrem Diktator einen Präventivschlag gegen Deutschland. Die Hauptkräfte des deutschen Heeres, konzentriert an der sowjetischen Westgrenze, sollen östlich der Weichsel bei Lublin eingekesselt und vernichtet werden. Der Hauptschlag führt in Richtung Krakau-Kattowitz. Zum Einsatz kommen ca. 300 Sowjetdivisionen, verteilt auf vier Heeresgruppen ("Fronten"). Gefordert wird im Memorandum die geheime Mobilmachung, die Heranführung von Armeen aus Westsibirien und dem Fernen Osten sowie die Ankurbelung einer totalen Kriegswirtschaft. Der Entwurf dieser Denkschrift vom 15. Mai 1941 stammt von Verteidigungsminister Semjon Timoschenko und Generalstabschef Georgij Schukow, doch fehlt auf dem Dokument ihre eigenhändige Unterschrift, allerdings tragt es die Paraphe von Stalin ("J. St."). Dessen Reaktion ist nicht bekannt. Gebilligt, abgelehnt, verschoben? Der Operationsplan (in Masers Buch faksimiliert) erläutert das Wie des Angriffsaufmarsches, nicht das Wann des Losschlagens. Zwei Tage davor, am 13. Mai, erging ein vor Stalin sicher nicht geheimgehaltener Befehl des Volkskommissariats für Verteidigung, vier Armeen mit insgesamt 28 Divisionen aus dem Osten an die Westgrenze zu verlegen, wo schon ca. drei Millionen Rotarmisten, 1800 Kampfpanzer, 35 000 Geschütze und mehr als 1500 Flugzeuge zusammengezogen waren. Ende Mai erhalten die Kommandeure der rund 180 Divisionen die Weisung, Kriegsbefehlsstände einzurichten. Gesperrt werden die Grenzprovinzen für Gebietsfremde. In seinem neuesten Buch "Der Tag M" nennt Viktor Suworow den 6. Juli 1941 als Stalins Mobilmachungstag.
"Wer als Angehöriger der deutschen Wehrmacht im Juni 1941 die russische Grenze überschritten hatte, erlebte beim Vormarsch täglich russische Truppenansammlungen in nicht mehr überschaubarer Anzahl, massenhaft Fahrzeuge, vom Panzer, Lastkraftwagen bis zu den Panjefuhrwerken, in den Wäldern riesige Vorräte an gestapelter Munition und Brennstoff", erinnert sich Kriegsteilnehmer Helmut Sigel aus Fulda. "Ein Land, das seine Grenzen verteidigen will, baut Grenzbefestigungen und keine Feldflugplätze, auf denen Flugzeuge in großer Zahl zum Angriff bereit gestellt werden. Gefangene russische Offiziere gaben bei ihrer Vernehmung als Ziel ihres bevorstehenden Angriffs Berlin und den Durchmarsch bis zum Atlantik an." (DIE WELT vom 7. März 1995)
2. Theodor Plievier, in die Sowjetunion emigrierter deutscher kommunistischer Schriftsteller, berichtet von einem sowjetischen Generalstabsoberst, der zwölf Tage vor "Barbarossa" aus seinem Wehrkreis Ural in die Westgebiete beordert wurde, um dort die Offensive seiner Truppe vorzubereiten. "Weißt du, was deine Mission bedeutet?" fragte ihn General Klimowskij, der in den Westgebieten kommandierte, aber noch keinerlei Instruktionen von oben hatte. "Ja", antwortete der Oberst, "Wojna" (Krieg).
Ein Jahr zuvor, am 13. Juli 1940, hatte der britische Botschafter Cripps im Auftrag Churchills den Diktator aufgesucht, um seine gemeinsame Linie des "Selbstschutzes gegen Deutschland" zu finden. Stalin reagierte ablehnend: "Ich verfolge die Politik Deutschlands und kenne einige führende deutsche Staatsmänner gut. Ich bin nicht der Meinung, daß die deutschen militärischen Erfolge die Sowjetunion und ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bedrohen." Stalin ließ seine Antwort über Außenminister Molotow auch dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg übermitteln. Auf diesem Wege erfuhr Hitler von Churchills Versuch, Stalin als Kriegspartner zu gewinnen. Hitler am 31. Juli 1940 auf dem Berghof: "Rußland ist der Faktor, auf den England am meisten setzt. Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt." Wußte von diesem Entschluß auch Stalin?
Plievier bejaht es. Seine Kernthese lautet: Stalin wurde von dem deutschen Angriff nicht überrascht. Er mußte mit einem solchen Angriff rechnen und hatte sogar konkrete Beweise dafür. Wenn die Wehrmacht bei ihrem Vormarsch dennoch auf einen völlig unvorbereiteten Feind traf, auf eine chaotische Auflösung der sowjetischen Front, lag das an der organisatorischen Unfähigkeit der Sowjetbürokratie, an einer falschen Militärdoktrin, die aus ideologischen Zwängen ganz auf einen Angriffskrieg eingestellt war, an der Handlungsunfähigkeit der Moskauer Militärführung, die durch jahrelangen Terror der Geheimpolizei demoralisiert war, an der Unlust der Bevölkerung, das verhaßte kommunistische Regime zu verteidigen. Stalin selber war verzweifelt und gab den Krieg schon verloren. Moskau lag wehrlos vor den Deutschen. Sie hatten durch rechtzeitigen Einsatz einer kampfkräftigen Division die Hauptstadt erobern und einen zumindest partiellen Sieg über die Sowjetunion davontragen können.
So Theodor Plievier (1892-1955), der 1945 aus dem Exil in der SBZ zurückgekehrt, sich 1947 mit einer westdeutschen Vortragsreise in die Westzone absetzte, wo er nach "Stalingrad" die anderen Bände seiner Epopoe über den deutschrussischen Krieg veröffentlichte: "Moskau" und "Berlin".
3. Am 31. Oktober 1939 spricht Molotow vor dem Obersten Sowjet. Die Schuld an der Fortführung des Krieges trugen allein England und Frankreich. Sie hatten Deutschland einen "ideologischen Krieg" erklärt, was eine Neuauflage der "mittelalterlichen Religionskriege" bedeuten würde, in denen Andersgläubige und Häretiker vernichtet wurden. Molotow wörtlich: Die Ideologie Hitlers kann man bejahen oder ablehnen, was auch auf jedes andere ideologische System zutrifft. Aber jeder vernünftige Mensch begreift doch, daß eine Ideologie nicht durch Gewalt zerstört werden darf, nicht durch Krieg. Darum erscheint es nicht nur sinnlos, sondern geradezu verbrecherisch, einen Krieg zur 'Vernichtung des Hitlerismus' zu führen, auch wenn die herrschende Klasse Englands und Frankreichs ihren Krieg mit der falschen Flagge des 'Kampfes für die Demokratie' tarnt." (Zitiert aus Iwanows "Logik des Alptraums", S. 148) Mit keinem Wort erwähnt der sowjetische Augenminister die ethnischen Maßnahmen gegen die Deutschen, liegen doch seit Mitte der dreißiger Jahre detaillierte Pläne zur Zwangsumsiedlung der gesamten rußland-deutschen Bevölkerung im Falle eines Kriegsausbruchs vor. Deportation aller Deutschen aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Asien - ethnische Säuberung also. (Gerhard Simon: "Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion", Baden-Baden 1986, S. 229) Wußte das Hitler? Als Ostpreußen und Pommern schon verloren sind, 1945, genehmigt er den Seetransport der Flüchtlinge mit dem Argument: "Besser zehn Prozent Verluste auf dem Marsch nach Deutschland als 90 Prozent auf dem Marsch nach Sibirien".
4. Bei Maser entschloß sich Hitler für "Barbarossa" erst nach Molotows Besuch in Berlin, November 1940 mit den Forderungen Stalins in bezug auf Rumänien, Bulgarien, Finnland und die türkischen Meerengen. Doch schon um die Septembermitte gewann der Oberkommandierende der deutschen Marine die Erkenntnis, daß Hitler vorerst nicht gegen England vorgehen, sondern Rußland angreifen wolle. Für Raeder bedeutete "die Rückenfreiheit im Osten eine unerläßliche Voraussetzung für unsere gesamte Kriegführung". Die Gefahr eines neuen Zweifrontenkrieges mußte nach Raeders Auffassung unter allen Umständen vermieden werden. (Cajus Bekker: "Verdammte See". Ein Kriegstagebuch der deutschen Marine, Herford 1978, S. 288)
5. Eine Woche nach Beginn des Krieges war die militärische Lage der Sowjetunion verheerend. Am 26. Juni fiel Minsk. Von der Hauptstadt Weißrußlands bis Moskau waren es 680 Kilometer. In der Doppelschlacht von Bialystok und Minsk verlor Stalin vier Armeen, eine halbe Million Mann. Und viertausend Panzer. Über 300 000 Rotarmisten ergaben sich den Deutschen. Und Stalin? Am fünften Tage nach Kriegsbeginn verfiel er in eine Depression und zog sich zwei Wochen in seine Datscha zurück. Gerüchte waren im Umlauf, er sei entmachtet, bestraft oder geflohen. Als Politbüromitglieder zu ihm kamen, um daran zu erinnern, daß die Deutschen auf Smolensk und Moskau zielten, zeigte sich Stalin nach Berichten der Augenzeugen angeschlagen. Er hatte offensichtlich befürchtet, daß die Delegation der Parteispitze gekommen war, um ihn zu stürzen und einzusperren. So Ex-Sowjetbotschafter Valentin Falin im Vorwort des Buches "Der verdammte Krieg", München 1991, S. 10.
6. Hitler betritt erstmals russischen Boden am 4. August 1941, in Nowo-Borissow, wo sich das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte befindet. Die Panzergenerale Guderian und Hoth haben vorzutragen. Guderian fragt, wie viele neue Panzer er bekommen werde. Er könne nur 300 Panzermotoren zur Verfügung stellen, antwortet Hitler. Und: "Wenn ich gewußt hätte, daß die Panzerzahlen der Russen, die Sie in Ihrem Buch erwähnt haben, tatsächlich stimmten, dann hätte ich, glaube ich, diesen Krieg nicht angefangen." Guderian hatte in seinem 1937 erschienenen Buch ",Achtung! Panzer!" 10000 sowjetische Panzer angegeben. Es waren indessen 17 000. Die Zensoren der Heeresführung ließen nicht mehr durch. Aber Hitler hatte nicht an diese 10 000 geglaubt. Mit 3 200 war er einmarschiert. An der Beresina hatte es sich herausgestellt, daß es bessere sowjetische als deutsche Panzer gab. Die Sowjetarmee war im August 1941 jedoch nur zu neun Prozent ihres Panzerkampfbestandes mit dem neuen T 34 ausgerüstet, verteilt auf die riesige Front und die Reserven. Panzerkorps oder Panzerarmeen, durch Funk dirigiert, kennt die Rote Armee zu diesem Zeitpunkt nicht. Das Gros der sowjetischen Panzerwaffe besteht aus veralteten Typen, dem T 26 (zehn Tonnen, langsam, schwach gepanzert, eine 45-mm-Kanone aus dem Jahr 1931) und dem BT-5 (enger Kampfraum, Kommandant gleich Richtschütze, teilweise ohne Funk, mit 13-mm-Panzerplatten der schwachen 3,7cm-Pak unterlegen). Die Stückzahl einer Panzerstreitmacht sagt nichts über ihren Kampfwert aus.
7. In den ersten zwei Wochen war die Hälfte der bei Kriegsbeginn unter Waffen stehenden Sowjettruppen gefallen oder gefangengenommen. Von den ursprünglichen 188 Divisionen und Brigaden der Westfront standen nur noch 99 zur Verfügung. Am 3. Juli 1941, am zwölften Tag des Rußlandfeldzugs, schrieb der Chef des deutschen Generalstabs, Generaloberst Halder, ein kühl rechnender Bayer, in sein Tagebuch: "Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß der Feldzug gegen Rußland innerhalb vierzehn Tagen gewonnen wurde." Offenbar schien auch Stalin, der an diesem 3. Juli wieder im Radio zu hören war, dieser Meinung zu sein. "Als sich die Katastrophe von Minsk abzeichnete", schreiet Falin, "soll er, so berichtete es später das Politbüromitglied Berija, bereit gewesen sein, zu kapitulieren und weite Teile Westrußands an Hitler abzutreten." (S. 72)
8. Nach der Kesselschlacht von Wjasma und Brjansk - 663 000 gefangene Rotarmisten - notiert Jodl: "Mit der gelungenen Bildung der drei Kessel nördlich Mariupol, östlich Brjansk und westlich Wjasma haben wir endgültig und ohne Übertreibung diesen Krieg gewonnen." (8. Oktober 1941) Die Tagesparole von Reichspressechef Otto Dietrich am 13. Oktober: "Die militärische Entscheidung dieses Krieges ist gefallen. Was nun noch zu tun bleibt, trägt vorwiegend politischen Charakter nach innen und außen." Am 14. Oktober erreicht Haussers Waffen-SS- Division "Das Reich" das historische Schlachtfeld von Borodino. Hitlers Elite kämpft gegen sibirische Elite. Die 32. Schützendivision aus Wladiwostok. Sie kämpft auf demselben Schlachtfeld, auf dem Napoleon vor 130 Jahren stand und nur knapp einer Niederlage entging. Die Männer in den buntscheckigen Tarnjacken stürmen die historische Schanze von Semenowskoje. Im Nahkampf. Die Verluste der Deutschen sind so erschreckend hoch, daß ihr drittes Infanterieregiment aufgelöst und der Rest auf die beiden anderen Regimenter aufgeteilt werden muß. Doch die Sibirjaken wehren sich vergeblich, sie sterben auf den Höhen von Borodino. Der große Riegel der 1. Moskauer Schutzstellung ist gesprengt. Noch hundert Kilometer Autobahn, und die Moschaisker Chaussee führt direkt zum Roten Platz.
In ,,Moskau" beruft sich Theodor Plievier auf eine Politbürositzung. Der Moskauer Parteisekretär Schtscherbakow verlangte die Verteidigung der Hauptstadt. Die anderen schwiegen. Marschall Woroschilow, Verkehrskommissar Kaganowitsch, Wirtschaftskommissar Wosnessenskij - ratlos unter der Kremlkuppel. Molotow schlug vor, Moskau zu räumen und mit Hitler zu verhandeln. Und immer noch schwieg Stalin. Zaghaft unterstützt vom Wolgarussen Malenkow, forderte allein der Armenier Mikojan den Endkampf in den Straßen Moskaus. Mit einfacher Mehrheit beschloß man, den Krieg fortzusetzen. - Als "Moskau" 1952 erschien, stießen Plieviers Thesen im Westen auf Skepsis, in der Sowjetunion auf Empörung. Nur vier Jahre später bestätigte Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag die Darstellung des Deutschen, in allen Punkten. (Vgl. Jürgen Rühle ,,Die Schriftsteller und der Kommunismus in Deutschland", Köln-Berlin 1960, S. 194).
9. Am 7. November 1941 halt Stalin auf dem verschneiten Roten Platz seine Wende-Rede. Er schwört dem Internationalismus ab, beschwört die Ideale des russischen Patriotismus, der slawischen Rechtgläubigkeit, der zaristischen Militärtradition.
Zu diesem Zeitpunkt herrscht im Mekka des Weltkommunismus Anarchie. Anzeichen des Zusammenbruchs sind unübersehbar. Nach Moskau emigrierte deutsche Schriftsteller packen ihre Koffer und flüchten nach Zentralasien, eine Welt bricht für sie zusammen, das braune Berlin rückt dem roten Moskau immer näher. Sogar der Einbalsamierte muß sein Mausoleum verlassen. Es setzen sich ab Militär- und Parteidienststellen, es flüchten die Privilegierten der Zentralverwaltung. Das diplomatische Corps wird hinter die Wolga verfrachtet. Nach dem Fall der letzten Bastionen im Moskauer Verteidigungssystem - Moschaisk, Borowsk, Malojaroslawez - drängen Hunderttausende in die Metropole, man plündert Magazine und Lebensmitteldepots, okkupiert die Wohnungen von Evakuierten. Und die Moskwitschij machen mit beim Hexensabbat, sie verlassen die Arbeitsplätze. Die Evakuierung der Nomenklatura demoralisiert die Habenichtse, verbreitet Panik. Trotz des Schukow-Befehls vom 13. Oktober und der Verhängung des Belagerungszustandes am 19. Oktober können nicht alle "Feiglinge, Panikmacher, Verräter, Diebe, Provokateure, Spione, Agenten, Rauber" erschossen werden, denn zu den aus Moskau Geflohenen gehören auch solche, die erschießen sollen.
"Die Deutschen kommen." Zuerst flüstert man's, dann schreit man es hinaus: "Jede Minute können ihre Panzer hier sein!" Die Angst vor Geheimpolizei und Miliz schmilzt in den Schlangen vor den Brotladen, wo die Parole umgeht: "Schluß mit dem Krieg, macht ein Ende!" Armeelastwagen mit Konserven, für die Front bestimmt, werden angehalten, ausgeplündert, umgeworfen, angesteckt. Stalins Bild wird von den Wänden genommen - ins Feuer mit dem Parteibuch. Das Moskau der unteren Klasse, das proletarische Moskau rebelliert, desertiert, erhebt sich gegen den Kommunismus. "Flugblätter, einfache, schnell angefertigte Blättchen, steckten plötzlich morgens in vielen Briefkästen: 'Tod den Kommunisten!' stand darauf und antisemitische Parolen. Entsetzt starrten die Empfänger auf die primitiven, aufregenden Texte. Moskau, Mütterchen Moskau, taumelte. Das Herz der Sowjetunion stockte. Und der Himmel stürzte nicht ein" (nachzulesen in Paul Carell, "Unternehmen Barbarossa", 1963, S. 139).
Nach dem deutschen Einbruch in die 2. Moskauer Schutzstellung wirft Schukow "proletarische Marschbataillone", rekrutiert aus Arbeitermilizen, Offziersschulen, Bürgerkriegsveteranen, Studenten, NKWDisten, an die Nara, wo die Berliner der 3. Panzergrenadierdivision einen Brückenkopf halten. Schukows Garde stirbt auf den Schneefeldern von Naro-Fominsk. Die Berliner treten zum Gegenangriffan, machen 2 000 Gefangene, darunter zweiundfünfzig Offiziere, viele von ihnen rufen "Wojna kaputt - nieder mit dem Krieg" und denunzieren ihre Politkommissare, die sich die Rangabzeichen abgerissen haben.
10. Als die Sachsen der 13. Panzerdivision im Juli auf Smolensk vorstießen, kamen Dorfbewohner zu ihnen, begrüßten sie als Befreier, die Russen brachten Ikonen aus den Häusern, zeigten auf das weiße Balkenkreuz der Panzer, auf die Ikonen: Schaut, ihr seid Christen, wir sind Christen, gemeinsam knien wir vor dem Erlöserkreuz. Und sie segneten die Panzer, diese deutschen Panzer, die als Fliegerkennzeichen auch das heidnische Kreuz mißführten, die Swastika, die Hakenkreuzfahne ausgespannt über den Bug des Panzers. Und sie riefen "Nieder mit den Kommunisten", "Tod den Juden" - Und Ikonen und Hakenkreuze sind Monate später, in apokalyptischen Oktober- und Novembertagen, in den Straßen Moskaus zu sehen. Für diese harten Tatsachen gibt es einen glaubwürdigen Augenzeugen, den aus Polen stammenden jüdischen Dorfschullehrer Mendel Mann, im Herbst 1939 in die Sowjetunion geflüchtet, nach Moskau verschlagen. Sein Buch "Vor Moskaus Toren", in Israel erschienen, wurde in fast alle Kultursprachen übersetzt, nicht aber ins Russische oder Ukrainische. (Deutsche Übersetzung: Verlag Heinrich Scheeler, Frankfurt am Main 1961)
Drei Jahre später, die Rote Armee überrollt Ost- und Westpreußen, beginnt ein Aufruf im Siegestaumel mit den Satzen: "Tötet, Ihr tapferen Rotarmisten, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist. Folgt der Anweisung des Genossen Stalin und zerstampft das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen, nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, Ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten, tötet!" Der Verfasser heißt Ilja Ehrenburg, einer aus dem "kleinen Volk". Er befand sich im November 1941 nicht in der Sadowaja uliza. Sein Landsmann Mendel Mann hat ihn jedenfalls in Moskau nicht gesehen.
* * *
Kam Hilter Stalin zuvor? Im Lager der deutschen Revisionisten erfährt die Präventivkrieg--These nicht erst seit Maser Zuspruch. Sie wird bereits seit langem vertreten von Bernd Wegner: "Zwei Wege nach Moskau", 1991, von Ernst Topitsch ("Stalins Krieg" 1985) und Joachim Hoffmann (1983). Sie reicht über Pleviers "Moskau" (1952) zurück bis zu der auswertenden Quellenpublikation "Die deutsch-russischen Beziehungen" (1939-1941), die Hans-Günther Serephim 1949 im H. H. Nolke Verlag, Hamburg herausgab.
Das Lager der postkommunistischen Historiker in Rußland ist gespalten. Es überwiegt die Zahl der Gegner der Präventivkrieg-These.
Viktor Suworow (Pseudonym des in den siebziger Jahren nach England geflohenen sowjetischen Generalstabs- und Geheimdienstoffiziers Resun), steht mit seinem Buch "Ljedokol" (deutsch "Der Eisbrecher", 1989) heute noch im Zentrum eines leidenschaftlich ausgefochtenen Historikerstreits. Suworow alias Resun war der erste russische Militärhistoriker, der die Antifa-These vom deutschen "Überfall" anhand von Dokumenten widerlegt hatte. Dem Beispiel Suworows folgte vor zwei Jahren Oberst Valerij Danilow (kein Emigrant, kein Ex-Dissident); er veröffenlichte den Timoschenko/Schukow-Angriffsplan vom Mai 1941 in der österreichischen Militärischen Zeitschrift (1/93).
Alexander Solschenizyn geht in seinem Geschichtsessay "Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts", publiziert im Juli 1994 vom renommierten Moskauer Literaturjoumal Nowij Mir (Neue Welt), auf den Präventivkrieg-Diskurs nicht ein, bezeichnet jedoch den "sowjetisch-deutschen Krieg" als eine "physische Vernichtung des eigenen Volkes" durch die Kommunisten in "rücksichtsloser, unbarmherziger Art". Auf Stalins "Straßen des Sieges" hatten die Russen ein Fünftel ihrer Bevölkerung verloren, einunddreißig Millionen ("wann hat welches Volk so viele Menschen in einem Krieg verloren?"). Die sogenannte Befreiung Deutschlands 1945, der Sieg der Alliierten, der Triumph Stalins, war in den Augen Solschenizyns eine historisch singuläre Katastrophe Rußlands, weil dieser "Sieg" zur "Festigung der Diktatur Stalins" beigetragen hatte. Stalins 1941 kreierten "Sowjetpatriotismus" bezeichnet Solschenizyn als eine "anationale" Ideologie der Verdummung, die noch heute auf die "gegenwärtig alt gewordenen Vorkämpfer und Anhänger einer Großen Sowjetunion" makabre Faszination ausübe.
"Ein Aufbrechen der wahren Gefühle des Volkes gegenüber der Macht", schreibt Alexander Solschenizyn hier, "war nur in den Jahren des sowjetisch-deutschen Krieges möglich - und wie deutlich zeigten sie sich!: allein im Sommer 1941 in den über drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die sich bereitwillig ergeben hatten, 1943-44 in den ganzen Karawanen von Menschen, die freiwillig den zurückgehenden deutschen Truppen folgten, so als wären es die eigenen Soldaten... Während der ersten Monate des Krieges hätte die Sowjetmacht leicht zusammenbrechen können, hätte uns von sich befreit, wären nicht der törichte Rassenwahn und die Anmaßung der Hitlerleute gewesen, die unseren leidgeprüften Menschen zeigten, daß unser Volk vom deutschen Einmarsch nichts Gutes zu erwarten hatte. Nur dadurch hat Stalin sich gehalten. Über die Versuche, auf der deutschen Seite russische Freiwilligeneinheiten zu bilden, und über den späteren Beginn der Aufstellung der Wlassowarmee habe ich schon im 'Archipel GULag' geschrieben. Dabei ist es charakteristisch, daß sogar in den allerletzten Monaten (Winter 1944-45), als bereits für jedermann offensichtlich war, daß Hitler den Krieg verloren hatte, daß sich in diesen letzten Monaten russische Menschen, die sich im Ausland befanden, zu vielen Zehntausenden um Aufnahme in die Russische Befreiungsarmee bewarben! Das war die Stimme des russischen Volkes. Obwohl die Geschichte der Russischen Befreiungsarmee sowohl von den bolschewistischen Ideologen (auch der schüchternen sowjetischen Pseudointelligenz) als auch vom Westen (wo man sich nicht vorstellen konnte, daß die Russen ihr eigenes Ziel einer Befreiung haben konnten) übel verunglimpft wurde, wird sie eine... mannhafte Seite in der russischen Geschichte darstellen, an deren Fortdauer und Zukunft wir sogar heute glauben." ("Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts", München 1994, S. 119f.) Daraus ergibt sich eine originelle wie erschütternde Schlußfolgerung. Ob Präventivkrieg oder Überfall, ist für Solschenizyn von sekundärer Bedeutung. Der 22. Juni 1941 bot dem geknechteten, vom Bolschewismus okkupierten russischen Volk die große, vielleicht auch die letzte Chance der Selbstbefreiung. Russische levée en masse, russischer élan vitale - aux armes, citoyen! - für eine Wiederauferstehung des Russentums. Der Krieg ein Katalysator der nationalen Befreiungsrevolution.
Der Clan beamteter Militärhistoriker in Jelzinrußland pflegt dagegen noch das positive Tabu Stalin und das negative Tabu Wlassow wie eine Fratzenikone. Die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Bolschewismus im Krieg und nach 1945 steht offiziell noch aus. Typisch hier nur ist die Reaktion auf Masers Buch, wie sie in den Stellungnahmen der an der Moskauer Militärakademie dozierenden Kriegshistoriker Kusnin und Solnyschkow hervortritt. Für sie ist schon die Erörterung der Präventivkrieg-These Zementierung eines antirussischen (!) Feindbildes. Stalin wird in dogmatischer Form in Schutz genommen, geleugnet seine Teilhabe an der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges. Revisionistische Aussagen bilden im Militärapparat Jelzins ein kriminelles Delikt. Vehement sperrt er sich gegen eine Öffnung der russischen Archive, gegen die vollständige Freigabe von Kriegsdokumenten aus der Stalin-Ära. Zum Moskauer Historikerkongreß im Januar heuer hatten die Antirevisionisten Werner Maser eingeladen: daß der Deutsche nicht erschien, legte man ihm als Feigheit aus, verschwieg jedoch, daß er wegen des Genozidkrieges in Tschetschenien nicht gekommen war.
* * *
Gegen die Präventivkrieg-These polemisiert auch der bei unseren Lesern eingeführte Moskauer Historiker Anatolij Iwanow. Er nennt die Behauptungen Suworows eine "Lüge", eine "antihistorische Version", gibt jedoch zu, daß Suworow in einem Punkt recht hat - Stalin rechnete mit dem Krieg und traf operative Maßnahmen den Krieg. Allerdings unterscheiden sich die Argumente Iwanows fundamental von denen der etablierten Zunft. Seine Attacke gegen Suworow erschien in der Wochenzeitschrift Russkij Westnik (Russischer Bote), Nr. 17/1991. Er seziert die geistige Verwandtschaft von Stalins Nationalkommunismus (ab 1936) und Hitlers Nationalsozialismus. Dem Thema "Präventivkrieg, ja oder nein" widmet er in seinem 1993 erschienenen Buch "Logika koschmara" (Logik des Alptraums) die Kapitel "Stalin und Hitler" und "Stalin als Feldherr". Worin besteht das Besondere seiner Interpretation?
1. Stalin fürchtete 1939 nichts mehr, als in einen Krieg zwischen den westlichen Demokratien und Deutschland hineingezogen zu werden. 1918 waren Rußland und Deutschland die großen Verlierer; in ein zweites Sarajewo wollte Stalin nicht hineinschlittern. Als das Dritte Reich 1933 aus dem kapitalistischen Weltsystem ausschied, sah sich der Westen mit zwei "totalitären Regimen" konfrontiert, die es zu bestrafen galt. Stalin ahnte die Absichten Englands, Frankreichs und der USA, lange bevor Truman sie verriet: "Wenn Deutschland siegt, werden wir Rußland helfen. Siegt Rußland, unterstützen wir Deutschland, und dabei sollen sie sich gegenseitig schwächen." Er wollte sich nicht in einen neuen Weltkrieg verwickeln lassen, bei dem die Sowjetunion die Hauptlast tragen würde.
2. Si vis pacem, para bellum. Stalin handelte danach. Für sein Imperium wollte er den Frieden. Gegen den Frieden agierten in der Parteispitze die "Internationalisten der bekannten Nationalität"", auf die Hitler wie das rote Tuch wirkte (und umgekehrt). An ihrer Spitze stand Maxim Litwinow alias Pinkelstein alias Meir Wallach, unter dem sich das sowjetische Außenministerium in eine "Synagoge" verwandelt hatte (wie vordem das NKWD unter Jagoda). Litwinow-Finkelstein-Wallach verfolgte eine probritische und profranzosische Politik, ähnlich wie Marschall Tuchatschewskij, der sogar einen Präventivkrieg gegen Deutschland befürwortete und entsprechende Pläne ausgearbeitet hatte, bei seinen Geheimgesprächen mit hohen Militärs in London und Paris jedoch auf Skepsis und Ablehnung stieß. Stalin ließ Tuchatschewskij erschießen (nicht nur aus diesem Grunde), Litwinow wurde am 3. Mai 1939 von Molotow abgelöst. In die ihm vom Westen zugedachte Rolle eines Lieferanten feilen russischen Kanonenfutters für die "hehren Ziele der Weltzivilisation" schlüpfte Stalin nicht. 1939 hatte ein Vertrag mit den Westalliierten den Krieg bedeutet, ein Vertrag mit Deutschland dagegen den Frieden. So entschied sich Stalin 1939 für Hitler.
3. Die Behauptung gewisser Historiker heute, die georgische Umgebung Stalins wäre germanophil gewesen, trifft nicht zu, zumindest war sie ohne Relevanz für den deutschlandpolitischen Schwenk Stalins nach 1934, ungeachtet der Tatsache, daß ein Sohn Berijas im Dritten Reich studierte, georgische Stalin-Vertraute wie Eliawa und Kandelaki in Berlin sondierten (Gespräche mit Hjalmar Schacht) und Stalins Kampfgefährte Jenukidse dem Botschafter Graf von der Schulenburg schon 1934 den Vorschlag machte, das deutsch-sowjetische Verhältnis zu normalisieren und als Bündnis der "Einparteisysteme" zu festigen.
4. Aus sowjetischer Sicht brachte der Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 nur Vorteile, vor allem militärisch-strategischer Art, Stichwort: Westverschiebung der Grenzen. Vor dem Pakt verlief die sowjetisch-estnische Grenze nur 32 Kilometer vor Leningrad. Wäre die Wehrmacht am 22. Juni 1941 auf der Linie Narwa-Minsk-Schitomir-Odessa zum Angriff angetreten, hätte Hitler seinen Ost-Blitzfeldzug noch vor dem Winter siegreich abschließen können.
5. Bestärkt wurde Stalin in seinem antiwestlichen Kurs durch den Ausschluß der "aggressiven Sowjetunion" aus dem Völkerbund am 14. Dezember 1939. Im Lager der westlichen Alliierten löste der zweieinhalb Monate dauernde finnisch-sowjetische Krieg hektische antisowjetische Kriegsplanungen aus: Angriff über Norwegen und Schweden gegen die Sowjetunion (womit man auch die deutschen Erzzufuhren treffen konnte), Luftangriffe der Französischen Levante-Armee gegen die Ölfelder von Baku.
6. Im Fall Polen wurden die Säulenheiligen der Ideologie zitiert. So schrieb Engels am 23. Mai 1851 an Marx, die Polen waren eine sich auflösende Nation und daher nur ein Mittel bis zu dem Moment, da in Rußland die Agrarrevolution ausbricht; danach wäre die Existenz Polens sinnlos geworden. Das Engels-Zitat druckte das Theorieorgan der KPdSU, Der Bolschewik, im September 1939 (Nr. 18). Am 17. September erklärte Molotow dem polnischen Botschafter: "Der polnisch-deutsche Krieg bestätigt die innere Instabilität des polnischen Staates." Die Prawda vom 7. Oktober 1939 zitierte aus der Hitler-Rede vom 6. Oktober jene Sätze, die als Hauptursache für den Wehrmachtssieg die Lebensunfähigkeit des polnischen Staates nannten. Hitler in der Prawda: Auf den Knochen von Deutschen und Russen wurde, ohne Rücksicht auf historische, ethnographische und wirtschaftliche Fakten, ein Staat konstruiert, der überhaupt keine Existenzberechtigung besaß. Als Resultat des Zerfalls des polnischen Staates sei ein stabiles Fundament für einen dauerhaften Frieden in Osteuropa entstanden, hieß es am 28. September in einer gemeinsamen sowjetisch-deutschen Erklärung; für die Fortsetzung des Krieges wurden allein England und Frankreich die Verantwortung tragen. Molotow bekräftigte diesen Standpunkt in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939.
7. Zur gleichen Zeit mehrten sich die Stimmen jener, die das Bündnis zwischen dem Nationalkommunisten Stalin und dem Nationalsozialisten Hitler als etwas Natürliches, historisch Konsequentes priesen, da es sich um die Annäherung oder Kongruenz zweier "Nationalsozialismen" handle. Ribbentrops Mitarbeiter J. Schnurre verweist in seiner Denkschrift vom 27. Juli 1939 auf den Umstand, daß "die Verschmelzung des Bolschewismus mit der nationalen Geschichte Rußlands, beispielsweise in der Herausstellung großer russischer Persönlichkeiten (Alexander Newskij, Peter der Grolle), den ehemals internationalistischen Charakter des Bolschewismus verdrängt, überwunden hat". Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, lobte die Abkehr der Sowjetunion vom marxistischen Universalismus und die Hinwendung zu einem "slawischen Faschismus".
8. Der Bruch deutete sich an beim Molotow-Besuch in Berlin, November 1940. Hitler äußerte Befürchtungen hinsichtlich der sowjetischen Expansion auf dem Balkan und eines neuen Krieges gegen Finnland. Molotow konterte, indem er die von Berlin und Rom gegebenen Schutzgarantien für Rumänien als eine die Interessen der UdSSR schädigende Politik kritisierte. Die Differenz war von Stalins Seite aus programmiert. Am 18. Dezember 1940 unterzeichnete Hitler die Weisung Nr. 21, "Fall Barbarossa".
9. Stalin war vorgewarnt. Nicht durch Richard Sorge, der sich weigerte, in die UdSSR zurückzukehren und dessen Informationen wenig Glaubhaftes enthielten; nicht durch Churchill, der im vielzitierten, an Stalin gerichteten Brief vom 19. April 1941 dem Diktator keinen Hinweis gab auf eine bevorstehende deutsche Invasion.
10. Militärisch gesehen, befand sich die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in einem schlechteren Zustand als das Zarenrußland am 1. August 1914. Die alten Grenzbefestigungen hatte man demontiert, neue noch nicht errichtet. Die Marschälle Woroschilow und Budjonnij, Stalins Hauptberater, waren im Ersten Weltkrieg stehengeblieben. Ihre Nachfolger Timoschenko und Schukow hatten gerade erst begonnen, die Rote Armee zu modernisieren, zu russifizieren, vollauf damit beschäftigt, die aus den Straflagern befreiten Militärkader, unter ihnen Rokossowkij, Podlas, Gorbatow, wieder in die Armeehierarchie einzugliedern.
Für die Niederlagen in den Kesselschlachten von Minsk-Bialystok, Smolensk, Uman, Kiew, Wjasma-Brjansk - ca. drei Millionen Rotarmisten ergaben sich den Deutschen - ist Stalin der Alleinschuldige. Ein Nichtmilitär, der sich am 10. Juli 1941 zum Stawka-Chef, am 19. Juli zum Verteidigungsminister und am 8. August zum Oberkommandierenden ernannte. Auch die Katastrophen des Jahres 1942 - Wolchow, Charkow, Krim, Woronesch, Kalatsch, Kaukasus -gehen auf das Konto dieses "Feldherren".
Nach dem Verlust von Minsk plante das Politbüro einen Wechsel an der Spitze: Molotow statt Stalin. Dieser, niedergeschlagen und dem Wahnsinn nahe, entschlußunfähig, befürchtete seine Absetzung und Verhaftung. Was Stalin der Sieger niemals vergaß - 1952, als er Molotow angriff und mit seiner Liquidierung drohte, nachdem er Molotows Frau, eine Jüdin, ins Lager geschickt hatte, das war eine späte Kompensierung des Schwächeanfalls von 1941.
Soweit Iwanows Thesen, die noch der Überprüfung bedürfen (aber wie bei verschlossenen Archiven?). Immerhin, sie beinhalten ein bis heute nur unvollkommen ausgeschürftes Drama im Drama der kriegsentscheidenden Momente des Jahres 1941. Auf Valentin Falin kann Iwanow nicht eingehen, dessen "Zweite Front" kam erst vor kurzem heraus (München 1995). Bei diesem Buch handelt es sich um sowjetische Apologie. Falin verzichtet weder auf die Mythen noch die Terminologie der bolschewistischen Geschichtsschreibung (Viktor Suworow wird als "dubioser sowjetischer Überläufer" abqualifiziert), gibt jedoch den deutschen Revisionisten in einem wichtigen Punkt recht: die Existenz des vom sowjetischen Generalstab verfaßten Mai-Dokuments von 1941 wird nicht bestritten. Falin: "Der Grundgedanke lautete, den Angriff nicht abzuwarten, sondern ihm, wenn möglich, zuvorzukommen." (S. 197) Ein Eingeständnis, das Falin schwerfällt, beklagt er doch wenige Passagen zuvor die "Wiederbelebung der unsäglichen Präventivkriegthese". Im übrigen zeichnet auch Falin den bolschewistischen Nero des Jahres 1941 als einen von Verfolgungswahn, Untergangsfurcht, pathologischem Mißtrauen Umgetriebenen, dessen Denken und Handeln nicht vom Verstand her zu beurteilen waren. "Ihn trieb nur noch panische Angst. Der Diktator fürchtete die Dunkelheit und schlief in hell erleuchteten Räumen." (S. 199)
Aus sowjetischer Sicht war das Verhalten Stalins der eigentliche Schwachpunkt in der Führungsetage des Systems. Josif der Stählerne, der am Abend des 22. Juni sich weigerte wahrzunehmen, daß tatsächlich der Krieg ausgebrochen war; ob man denn sicher sei, daß es sich nicht doch um eine Provokation handeln könne, fragte er ratlos Timoschenko und Schukow, die ihm schweigend die Hiobsbotschaften vorlegten. Der am fünften Tag nach Kriegsbeginn in seiner Datscha verschwand, für vierzehn Tage, in denen das Baltikum, Weißrußland und die Westukraine von den Deutschen überrollt wurden. Der nach dem Fall von Minsk bereit gewesen ist, zu kapitulieren und weite Gebiete Westrußlands an Deutschland abzutreten. Der nach der Niederlage bei Wjasma und Brjansk, Oktober 1941, Molotows Vorschlag, Moskau zu räumen und mit Hitler zu verhandeln, schweigend zur Kenntnis nahm.
Die Deutschen schlagen ein Cannae, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Im Kreml ist man paralysiert. Der Krieg hat für Stalin und Churchill einen Tiefpunkt erreicht, der für beide nach dem 22. Juni 1941 unvorstellbar war. In der Umgebung Roosevelts rechnet man mit einem Sieg der Deutschen noch vor dem November, das Studium der Lagekarten zeigt ihn bereits, nach der Zerschlagung des sowjetischen Süd- und Nordflügels sollte es doch Hitlers Panzerdivisionen ein Leichtes sein, an der Zentralfront vorzurücken, Moskau einzunehmen, den Krieg zu beenden.
Der Schwachpunkt auf deutscher Seite heißt Hitler. Hitler der Siegreiche. Hitler kann Stalin in die Knie zwingen, nicht aber das russische Volk. Hitler kann die Sowjetunion schlucken, Rußland aber nicht. Hitler kann den Kommunismus zerschlagen, nicht das Russentum, das zweitausend Jahre älter ist als der Kommunismus. Hitler kann einen Kolonialkrieg führen, gewinnen kann er ihn nicht.
"Selbst in den düstersten Stunden nach Kriegsbeginn klammerte sich Stalin an den Gedanken, den Frieden zwischen Rußland und Deutschland irgendwie retten zu können", schreibt Iwanow im Epilog seines Kapitels über die beiden Schicksalsdämonen des 20. Jahrhunderts. "Bis zum 22. Juni hatte er sich an die geradezu irrationale Hoffnung geklammert, daß Hitler den Verstand behält und Rußland in Ruhe läßt, daß der Führer Deutschlands begreift, da er ja kein Idiot ist, daß er Rußland nicht besiegen kann."
Aus den machtpolitischen, weltanschaulichen Veränderungen in der Sowjetunion zwischen 1934 und 1939 - Absetzung und physische Vernichtung der alten leninistisch-internationalistischen Führungsklasse in den Bartholomäusnächten der Großen Tschistka - zog Hitler keine Schlußfolgerungen. Hitler sah an der Wirklichkeit mit seinen antiquierten "Mein Kampf"-Dogmen vorbei: "Sobald die Juden zur Macht gelangen, werfen sie ihre Maske ab. Juden-Demokraten verwandeln sich in Juden-Rassisten und unterdrücken die Völker. Sie vernichten in kürzester Zeit die nationale Intelligenz, die intellektuellen Köpfe der zum Helotentum verurteilten Volker. Das schrecklichste Beispiel hierfür ist Rußland, wo die Juden etwa 20 Millionen Menschen umbrachten oder sie verhungern liegen, mit fanatischer Grausamkeit. So erlangte diese Bande die Macht über ein großes Volk." (S. 326 im deutschen Text, hier als Rückübersetzung aus dem Russischen, S. 152 im Iwanow-Buch).
Anatolij Iwanow schließt: Hitler dachte, daß dieses große Volk nicht mehr existiert. Das war ein schicksalhafter Irrtum."
* * *
Ob Präventivkrieg oder Überfall, Hitler hatte diesen Krieg nicht gewinnen können. Auch wenn Moskau noch erobert worden wäre, hatte dies auf Dauer nichts genutzt. Nicht, daß das Untemehmen Barbarossa militärisch ein Vabanquespiel gewesen war, daß Hitler die Kraft der Wehrmacht überschätzt und den "point of no return" mißachtet hatte. Dem Krieg gegen die Sowjetunion lag Hitlers Konzept einer Versklavung der Slawen zugrunde. An dieser Tatsache ändert nichts der von Apologeten der deutschen Altrechten permanent vorgebrachte Hinweis auf den von Mussolini vom Zaun gebrochenen Balkanfeldzug, der den Start des Unternehmens Barbarossa um einen entscheidenden Monat verzögert haben soll. Hitlers Kreuzzug gegen das Slawentum im allgemeinen und Rußland im besonderen, wäre derselbe geblieben, auch wenn er schon am 15. Mai 1941 begonnen hätte.
In der deutschen Bevölkerung werde an der gesamten "nationalen Führung" heute "schärfste Kritik" geübt, notiert Joseph Goebbels am 17. März 1945 in seinem Tagebuch, um fortzufahren: "Man wirft ihr vor, daß sie in ihrer Politik und Kriegführung zu maßlos gewesen sei... Was die Maßlosigkeit anbetrifft, so wird sie uns insbesondere in der Führung des Ostfeldzuges vorgeworfen, was ja auch nicht ganz unrichtig ist." Maßlosigkeit, das war es also.
Der Präventivkrieg ist eine strategische Frage. Wer sie kriminalisiert, versimpelt die Kriegsgründe, die in der Regel auf den Konten aller Beteiligten stehen.