WOLFGANG STRAUSS / ES WAR KEIN ÜBERFALL, ES WAR EIN GEGENANGRIFF (3)
VIII
Revisionismus in Rußland beschränkt sich nicht nur auf Buchveröffentlichungen. Mit Unterstützung der staatlichen Rundfunkgesellschaft Golos Rossii (Stimme Rußlands) und der Moskauer Literaturnaja Gaseta (Literaturzeitung) konnte im Sommer der in England lebende russische Zeithistoriker Graf Nikolaj Tolstoj-Miloslawskij, ein entfernter Verwandter Leo Tolstojs, Archive des ehemaligen sowjetischen Armeegeheimdienstes GUR in Moskau durchforsten. Ausführlich berichtete darüber die Literaturnaja Gaseta am 15. Mai und 3.Juli 1996.
Berühmt wurde der Graf durch sein Buch "Die Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschichte" (russisch unter dem Titel "Schertwij Jalti" , "Die Opfer von Jalta" dt. München 1978). Interessant die Vorgeschichte. Nach einer Reportage in der Literaturzeitung (Nr. 20/96, "Handel mit einem Menschenfresser") bildeten sich spontan mehrere Tolstoj-Komitees, die eine Öffnung der Geheimarchive verlangten. Ein Hilfskomitee entstand auf Initiative des Redakteurs Armen Oganesjan bei Golos Rossii, und es solidarisierte sich die christlich-orthodoxe Gesellschaft "Radonesch"; letztere publizierte einen Offenen Brief an Jelzin.
Vor allem geht es um Geheimdokumente aus dem SMERSCH-Archiv (SMERSCH=Abwehr bzw. Gegenspionage der Roten Armee in der Stalin-Epoche). Das Archiv enthält Protokolle von der Unterredung General Kulikows mit britischen Militärs in der Wiener Kommandantur der Briten. Gefällt wurde damals, April/Mai 1945, das Todesurteil für Hunderttausende von Kosaken und Wlassowzis: Deportation mit Hilfe der Engländer. In der Literaturnaja Gaseta heißt es dazu: "Wie aus dem Stenogramm hervorgeht, versicherte der englische Befehlshaber in Gegenwart Kulikows, man werde auch gegen Frauen und Kinder Gewalt anwenden, sollten sich diese der Rückkehr in die UdSSR verweigern" (27/1996, S. 11).
Ein anderes Beispiel für öffentlichen, offiziellen Revisionismus ist die Enthüllung eines gigantischen Denkmals für die "Opfer des Roten Terrors" im ehemaligen Sklavenhafen Magadan am Ochotskischen Meer. Das Mahnmal ("Maske der Trauer") aus kommunistischem Marmor-Sibiriengranit - schuf Rußlands berühmtester Bildhauer, Ernst Njeistwestnij, ein Freund Solschenizyns. Eingeladen zur Enthüllung hatte Magadans Gouverneur Viktor Michailow auch russische Schriftsteller aus Moskau. Magadan war bis 1953 das Durchgangslager für die ostsibirische Kolyma-Hölle; im goldreichsten Gebiet Asiens kamen ca. drei Millionen Frauen, Jugendliche, Männer ums Leben. Verhundert, erfroren zu Tode gepeitscht. Vernichtung durch Arbeit. Schnee und Eis und Sklavenrationen.
"Man sagt, daß unter bolschewistischem Terror die meisten russischen Familien gelitten haben, durch den Verlust von Angehörigen", bemerkt Leonid Schuchowskij in seiner Magadan-Reportage (Literaturnaja Gaseta vom 3.Juli 1996). "Das stimmt wohl. Um die Folgen des Genozids an der Intelligenz, den Bauern und Kosaken zu überwinden, benötigt das russische Volk mindestens fünf Generationen. Aber ebenso wahr ist, daß Millionen von Russen nicht im GULag schmachteten, und dennoch Opfer des GULagismus wurden - durch den Verlust der primitivsten moralischen Prinzipien. Nicht stehlen, nicht töten, nicht verraten, nicht lügen das galt nicht mehr. Man vernichtete den Menschen, indem man seine Seele zerstörte."
Gegen die "tödliche Hungersnot von 1933" habe es bei der Sowjetbevölkerung" ebenso wenig Widerstand und Proteste" gegeben wie bei der von Stalin befohlenen Vertreibung ganzer Völker (Wolgadeutsche, Krimtataren, Inguschen, Tschetschenen, Mescheten, Kalmücken, Balkaren) und bei den "Ausbrüchen des von den Geheimdiensten und ideologischen Behörden gesteuerten Antisemitismus 1948 bis 1949", bemerkte kürzlich Lew Kopeljew zur hysterischen Goldhagen-Debatte in Deutschland. Der Schriftsteller, Germanist und Ex-Dissident Lew Kopeljew, germanophil im Gegensatz zu Goldhagen, stammt aus einer ukrainisch-jüdischen Familie in Kiew. Es habe Pläne der "sowjetischen Endlösung" gegeben, berichtet Kopeljew, Pläne einer "hygienischen Isolierung der kapitalistisch verseuchten jüdischen Nation", in Ostsibirien sei an einem "sozialistischen Ghetto" gebaut worden (DIE ZEIT; 27.September 1996).
Der Entrümpelungssturm des Geschichtsrevisionismus ist so rasant geworden, daß er die Grenzen des rein Wissenschaftlichen sprengt. In Rußland wie in Deutschland. Das Packeis des alten Denkens schmilzt, selbst in Sjuganows Presse.
In der Moskauer Samstagszeitung PRAWDA 5 vom 5.Juli 1996 stehen erstaunliche Sätze: "Im Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges wurde Deutschland in 350 Kleinfürstentümer aufgeteilt, und dieser Zustand dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis der Eiserne Kanzler Otto von Bismarck das zersplitterte Deutschland wiedervereinigte. Nach dem Willen Washingtons soll Rußland in unzählige Kleinstaaten aufgeteilt werden. In bezug auf Rußland spielt Amerika heute die gleiche Rolle wie Frankreich gegenüber Deutschland in der Vergangenheit. Rußland hat einen Bismarck nötig."
Die Überschrift des PRAWDA 5-Artikels auf Seite 12 lautet: "Nam nuschen russkij Bismark. "Wir haben einen russischen Bismarck nötig. Offensichtlich orientiert sich Sjuganow KPRF nicht mehr nach Marx, sondern nach einem anderen Deutschen, einem Preußen.
Jüngst stellte sogar der russisch-jüdische Kriegshistoriker Lasar Lasarjew fest, Stalins Militärdoktrin beruhte auf dem Raskolnikow-Prinzip "Der Mensch ist eine Laus" (aus dem Dostojewskij-Roman "Schuld und Sühne" ). Der einzelne zählt nichts. Eine Doktrin der absoluten Menschenverachtung. Daß die Zahl der Toten auf sowjetischer Seite so ungeheuer hoch war, viel höher als die der Deutschen, die den Krieg doch verloren haben, hat nach Lasarjew hierin seinen Hauptgrund. "Stalin und die Generalität sind für die außerordentlich großen Verluste verantwortlich" (Wiener Literaturzeitschrift Wespennest, 103/1996). Man findet in Rußland keine russischen Soldatenfriedhöfe. Man sieht nur Kollektivdenkmäler, keine Einzelgräber, im Altrussischen "bratskaja mohila" ("Brudergrab"). Stalin hatte in einem Ukas angeordnet, die Soldaten der Sowjetarmee nicht auf Friedhöfen zu bestatten, um die ungeheuerliche Zahl der Opfer, die sein Krieg forderte, vor dem Volk zu verschleiern. Die Gefallenen sind dort verscharrt worden, ohne Golgathakreuz oder Sowjetstern und ganz ohne Namenstafel, wo sie der Tod erteilte, und die allermeisten Kriegstoten vermoderten in Sumpf, Wald, Wiesen, Äckern.
Zwei andere Beispiele des aktuellen russischen Revisionismus. Eine Reportage in der Literaturnaja Gaseta, verfaßt vom Schriftsteller Leonid Schuchowitskij. Aus Anlaß einer Denkmalsenthüllung in der ehemaligen KZ-Kolonie Kolyma erinnert Schuchowitskij an den stalinistischen Holocaust in den ostsibirischen Goldminen. Drei Millionen Tote allein in den dreißiger Jahren. Verhungert, erfroren, erschlagen. Treblinka, Maidanek, Auschwitz an der Kolyma, Stacheldraht und Gebein unter sibirischem Eis, dafür ein fünf Meter hohes Denkmal aus Blutgranit. Die Industrialisierung des Massenmordes, eine Errungenschaft des Bolschewismus: lesen wir in der Moskauer Literaturzeitung vom 3. Juli 1996.
Das andere Beispiel stammt aus der Zeitschrift Literaturnaja Rossija (Moskau). Der Schriftsteller Wladimir Kristoforow schildert, anhand jüngst aufgebundener Tagebücher und Soldatenbriefe, den Untergang des 22. Schützenregiments im Verband der 32. Armee im Kessel von Wjasma, Oktober einundvierzig. Mit Stalin-Gedichten schickte man halbverhungerte Reservisten in die Schlacht. "Es war die Hölle", liest man im Tagebuch eines Gefallenen. "Eine ganze Armee wird erschossen, von Panzern zermalmt. Warum? Wofür?" (Was den Mut und die Opferbereitschaft der russischen Soldaten keineswegs schmälert. Sie marschierten, hungerten - und wenn sie auf den Feind stießen, kämpften sie. Wie die Deutschen auch.)
Juden hofften auf deutsche Befreiung, schrieb Lew Kopeljew. "1918 war ich sechs Jahre alt, doch jetzt noch kann ich mich sehr gut daran erinnern, wie in Kiew meine Eltern, deren Verwandte und Bekannte darüber sprachen, daß allein die Deutschen die Juden vor Verfolgung und Vernichtung retten würden." Der Zweite Weltkrieg liest sich in seiner Rückschau, wie folgt: "In weißrussischen und polnischen Orten hörte ich mehrmals haßerfüllte deutschfeindliche Stimmen. Doch von der ,Endlösung' wußte keiner, auch nicht die Zivilisten, die in der Nähe von Majdanek und Treblinka wohnten Einige Male hörte ich von Hitlers Plänen der totalen Vernichtung der polnischen Intelligenzija. Darüber erzählte im Sommer 1942 ein Überläufer Meine Kameraden und ich meinten damals, es seien übertriebene Gerüchte."
Vom 31. Januar bis 3. Februar 1995 konnte in Moskau noch eine Kriegshistoriker-Konferenz stattfinden, einberufen von zwei Apologeten, Prof. G. Gorodezkij (Tel Aviv) und Armeegeneral Garejw (Präsident der Akademie der Militärwissenschaften). Die Konferenz stand im Zeichen der Verteidigung der Stalin-Dogmen über den Zweiten Weltkrieg: aus diesem Grunde waren die eingeladenen deutschen Revisionisten Joachim Hoffmann und Werner Maser erst gar nicht erschienen. Auch ukrainische, estnische, lettische Revisionisten boykottierten das pseudowissenschaftliche Seminar. Als einziger Vertreter der russischen Revisionismusschule argumentierte Prof. Dr. Boris Sokolow (führender Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur und der Akademie für Slawische Kultur) wider die Geschichtslügen der KPdSU-Veteranen, was Prof. Gorodezkij dermaßen erboste, daß er in einem Interview mit der Moskauer Zeitschrift Neue und neueste Geschichte (3.1995) schwerste Geschütze gegen alle Revisionisten auffuhr, allerdings mit dem Eingeständnis, daß aufgrund noch nicht ausgewerterer Dokumente die bisher gültigen Forschungsergebnisse hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges keineswegs für alle Zeiten unantastbar seien. Das hat kurz darauf der im April 1995, in Zusammenarbeit zwischen der Nowosibirsker Universität und der Bürgerrechtsbewegung Memorial publizierte Sammelband "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" für Rußland endgültig geklärt. Nur in Deutschland fiel man wie DIE WELT noch auf einen Gorodetsky herein.
IX
Die Auseinandersetzung mit der Klassen- und Völkervernichtung der Bolschewiki provozierte in der intellektuellen Linken Frankreichs schon 1974, als Solschenizyns "Archipel GULag" in Paris erschien, eine bis heute andauernde Grundsatzdebatte, die weit über die Stalinismuskritik hinausgeht. Vergleichbares findet in der politischen Klasse Deutschlands noch immer nicht statt. Wer als Wissenschaftler oder Publizist geschichtlichen Revisionismus betreibt, rüttelt - um mit Wippermann zu sprechen - an den Grundlagen des westdeutschen Nachkriegsgebildes. So schleicht der Revisionismus in Deutschland durch die Ritzen unterschlagenen Wissens und niedergeschlagenen Gewissens. Markus Wolf beurteilt den Kommunismus der dreißiger Jahre als "europäische Menschheitskatastrophe", und er anerkennt den Fakt, daß Stalin mehr Kommunisten umgebracht hat als Hitler (Der Spiegel 28/1996).Vernichtung durch Arbeit: dieses Schicksal widerfuhr russischen und ukrainischen Zwangsarbeiterinnen (2,8 Millionen), die, 1945 "befreit", in die UdSSR deportiert wurden.
Daß man in Deutschland mit den Bauern an einem Tisch essen dürfte, daß deutsche Frauen den hungrigen jungen Russinnen aus Mitleid ihre eigenen Lebensmittelkarten zusteckten, daß "Ostarbeiterinnen" in deutschen Familien das Strümpfestopfen, Pulloverstricken erlernten - freimütige Erzählungen wie diese genügten der NKWD-Repatriierungskommission, die eben "Befreiten" für 25 Jahre ins Kohlebergwerk zu schicken. Nachzulesen, erstaunlicherweise, in einer Reportage des SZ-Magazins vom 28.Juni 1996.
Als Gegnerin Hitlers habe sie die Wehrmacht bewundert, denn diese Armee überrannte in kürzester Zeit, wie einst die Grande Armee Napoleons, fast ganz Europa: bekennt heute die polnische Gräfin Klementyna Mankowska, im Krieg die "schöne Spionin" genannt. Den deutschen Marinesoldaten bescheinigt der englische Kapitän Michael Powell, dessen Tanker "Africa Shell" 1939 vom Panzerschiff "Admiral Graf Spee" aufgebracht und versenkt wurde, einen "heroischen, edelmütigen Charakter". "Wenn gut geführt, gibt es kein besseres Menschenmaterial als die Deutschen Sie waren eine fest zusammengeschweißte Einheit" (F.-O. Busch, "Drama am La Plata" Rastatt 1996, S. 65).
Dabei war, lange bevor die Revisionismuswellen zu schäumen begannen, eine Wahrheit, welche die "Grundlagen der Politik der Bundesrepublik" in Frage stellte, schon in die Spalten systemloyaler Zeitschriften eingesickert.
Mitte Oktober '41 schien das Schicksal der Sowjetunion besiegelt gewesen zu sein, Stalin habe keinen Überblick mehr gehabt, jeden Augenblick hätten deutsche Panzer am äußeren Verteidigungsring auftauchen können - schildert Karl-Heinz Janßen die Endzeitstimmung in Stalins Imperium ("Bis Chimki -Warum der deutsche Musketier nicht bis zum Kreml kam"). Dieser Mann, heute ein fanatischer Revisionistenjäger, beschrieb ohne verdammenden Kommentar in der ZEIT vom 31. Dezember 1991, daß auf sowjetischer Seite keine Spur von Heroismus vorhanden war, statt Antifaschismus in Aktion Bolschewikenpanik ohne Grenzen ins wilde Kraut schoß.
"Inzwischen hatte das Staatliche Verteidigungskomitee die Zerstörung von 1119 Betrieben angeordnet: Rüstungsbetriebe, die Elektroanlagen der Metro und das Gebäude der Nachrichtenagentur Tass. Als am 13. Oktober an allen westlichen Zufahrtsstraßen heftige Kämpfe einsetzten, beschlossen die Kommunisten, die halbe Bevölkerung der Vier-Millionen-Stadt zu evakuieren. Die höchsten Partei-, Regierungs- und Militärbehörden und das Diplomatische Korps mußten sofort in das 900 Kilometer entfernte Kuibyschew umziehen. Kaum hatte Radio Moskau gemeldet, die Lage an der Westfront habe sich verschlechtert, war kein Halten mehr in der Stadt. Eine Panik brach aus. Alle Bahnhöfe wurden gestürmt, alle Straßen nach Osten waren verstopft. Zehntausende, mit oder ohne Erlaubnis, flohen mit Autos oder zu Fuß vor den Deutschen. Direktoren ließen ihre Fabriken, Funktionäre ihre Ämter im Stich. Warenhäuser und leerstehende Wohnungen wurden vom Mob geplündert Anderntags standen alle Betriebe in Moskau still. Während aus der Ferne das dumpfe Grollen der Geschütze zu hören war und jede Nacht deutsche Flugzeuge ihre Bomben über Moskau abwarfen, schwirrten Gerüchte durch die Stadt: Stalin sei gestürzt, der NKWD aufgelöst, die Regierung geflohen." Geflohen auch Lenin, dessen Sarkophag in einem Viehwaggon nach Osten rollte.
Heute würde die ZEIT das nicht mehr veröffentlichen, und Karl-Heinz Janßen es auch nicht mehr anbieten.
"Als die deutsche Wehrmacht bereits innerhalb weniger Tage in Minsk stand, war Stalin so ,kopflos', daß er nach Angaben des sowjetischen Marschalls Kirill Semjonowitsch Moskalenko (Ende Juni/Anfang Juli 1941) mit dem Gedanken gespielt haben soll, zu kapitulieren. Demnach wollte er Hitler als Kriegsbeute -über den bulgarischen Botschafter als Mittelsmann - das Baltikum, Moldawien, einen bedeutenden Teil der Ukraine und Weißrußland anbieten." Das erschien in einer Artikelserie vor drei Jahren, in der WELT vom 2. September 1993. Verfasser: Prof. Werner Maser. Schon damals fragte dieser deutsche Revisionist: "Wollte Stalin Hitler angreifen?" Er wollte. Aber die Serie verpuffte.
Dennoch schlägt der Geschichtsrovisionismus bereits Breschen in der Jalta-Mauer. Rudolf Augstein gelangt zu der ketzerischen Erkenntnis, daß Hitler am 22.Juni 1941 Stalin zuvorgekommen sei, zu einem Präventivschlag "wäre es ein Jahr später ohne Zweifel zu spät gewesen" (Der Spiegel 33/ 1996, S. 47). Befragt zur Präventivkriegsdebatte, antwortet Hans Mommsen: "Gute Frage. Ich werde das zunächst aufgrund der neuesten Forschung genauer prüfen." Hitlers Angriff auf die Sowjetunion sei zwar ein "strategischer Fehler" gewesen, doch Stalin hätte den Krieg auf jeden Fall begonnen, "jedenfalls ein Jahr später" (FOCUS 38/1996, S. 100).
So treibt in der Hochburg des Alten Denkens gewöhnlicher Revisionismus vielfältige Knospen. Johannes Gross erwähnt die Folgen eines "Völkermordes" selbst in gods own country: "Als ich neulich dem alten amerikanischen Diplomaten und Gelehrten W. R. Polk von der Kujonierung der deutschen Juden mit den Änderungen des Namensrechtes 1938 erzählte, replizierte er mit dem Hinweis darauf, daß in Amerika die Indianer um die Jahrhundertwende von der Behörde gezwungen wurden, auf ihre traditionellen Namen wie Sitting Bull oder Häuptling Weiße Feder zu verzichten und sich David Jones oder John Smith zu nennen -sie sollten um ihre Identität gebracht werden" (FAZ-Magazin vom 4. Oktober 1996). Aus Augsteins Magazin erfährt man, daß Stalin selbst nach Stalingrad, sogar nach Kursk, um Waffenstillstand und Sonderfrieden mit Hitler bemüht war: "Die Moskowiter sondierten in Stockholm wiederholt einen Separatfrieden mit Deutschland -Vizeaußenminister Dekanosow, ein Vertrauter des sowjetischen Polizeiministers Berija, kam dazu extra nach Stockholm" (Der Spiegel 40/1996).
Relativiert wird auch das Dogma von der Unvergleichbarkeit. Ich glaube nicht, daß es Einzigartigkeiten in der Geschichte überhaupt gibt", darf ungestraft Geschichtsprofessor Julius H. Schoeps behaupten (DIE WELT, 23. August 1996). In Deutschland habe sich der Haß auf die Juden qualitativ nicht von der Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten oder Bayern und Preußen unterschieden, schreibt Prof. Oded Heilbronner von der Hebrew University in Jerusalem (FAZ, 9.Juli 1996). Frank Schirrmacher erlebte Goldhagen als einen neuen Rasputin, im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen nennt er ihn, wenig schmeichelhaft, einen "Wunderheiler" (13. September). Lew Kopeljew verurteilte Goldhagens "journalistisch-sensationelle" Anklageschrift gegen die "riesige Mehrheit einer Nation": weder wissenschaftlich noch moralisch sei sie annehmbar.
Angesichts der Hamburger und Frankfurter Relativierungsblüten kommt man aus dem revisionistischen Staunen nicht heraus. Daß es in Hitlers Wehrmacht für Marschälle, Offiziere und Mannschaften die gleiche Verpflegung gab, Friedrich Karl Fromme relativiert das Image einer, so Hannes Heer, "Verbrecherorganisation" (1. Oktober 1996). Auf der Leserbriefseite, bekanntlich der Wahrheitsspiegel einer Gazette, erinnert Wittilo Liebmann (Holzminden) an die Verrohung der Sowjettruppen. "Sie begann mit der Abschlachtung ganzer deutscher Einheiten, die in Gefangenschaft geraten waren, und setzte sich fort zum Beispiel in der Ermordung von Verwundeten der Wehrmacht-Lazarette beim sowjetischen Gegenangriff auf die Krim. Daß derartige Vorfälle auf deutscher Seite nicht völlig ohne Einfluß auf die Mentalität von Vorgesetzten und Untergebenen blieben liegt auf der Hand. Gleichwohl hält sich die Zahl der nachweislich zu Lasten der Wehrmacht dokumentierten Fälle von Kriegsverbrechen in Grenzen. Wohl auch jeder anderen Armee läßt sich ein mehr oder minder bedeutendes Sündenregister anlasten" (FAZ, 27. September 1995).
Vor diesem Panorama stehen die Wippermann, Messerschmidt, Sontheimer, die Reemtsma und die Prantl auf verlorenem Posten, und die Reden des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers, vollmundig getönt, zerbröckeln in den Ohren.
X
Merkwürdigerweise findet ein Frühwerk des russischen Revisionismus heute keine Erwähnung mehr, obgleich in diesem Werk die Mitschuld Stalins am Entfachen des Zweiten Weltkrieges nachgewiesen wurde, erstmals aus russischer Feder. Dies ist umso erstaunlicher, weil der Verfasser der sowjetischen Militärhierarchie entstammte, gleichzeitig einer der prominentesten Dissidenten der sechziger Jahre war. Generalmajor und hochdekorierter Kriegsteilnehmer Pjotr Grigorjenko, bis Mitte der Sechziger Inhaber des Lehrstuhls für Kybernetik an der Frunse-Militärakademie. Im Samisdat Untergrund nannte man ihn den "Sowjetgeneral mit Zivilcourage". Nach seinem öffentlichen Einsatz für die deportierten Krimtataren, deren Rückführung er verlangte, ließ Chruschtschow ihn degradieren, aus der Roten Armee ausstoßen und ins Irrenhaus einliefern.
Grigorjenkos Studie, verfaßt vor genau dreißig Jahren, im Oktober 1967 an die Zeitschrift Fragen der Geschichte der KPdSU adressiert, erschien nicht. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel "Der sowjetische Zusammenbruch 1941" brachte 1969 der exilrussische Possev-Verlag heraus (Frankfurt am Main). Der russische Originaltitel lautet: "Das Verbergen der geschichtlichen Wahrheit ist ein Verbrechen gegenüber dem Volk." Wie lauten seine Haupthesen?
1. "Nach Ansicht ausländischer Experten war die Rote Armee in der Mitte der 30er Jahre eine der modernsten Armeen der Welt" (S.64). Auch der Wehrmacht stand sie hinsichtlich der technischen Ausrüstung keineswegs nach. Bezogen auf die Schicksalsmonate Mai und Juni 1941: "Noch besser stand es mit unserer Artillerie. Hinsichtlich der technischen Qualität und der Ausbildung der Mannschaft war die sowjetische Artillerie der deutschen weit überlegen" (S. 55). Das Kräfteverhältnis, das einen Erstschlag begünstigte: ca.15 000 sowjetische Tanks, ca. 3 700 deutsche Panzer (Verhältnis 4:1). ca. 9 000 sowjetische Kampfflugzeuge, ca. 3 500 deutsche (2,6:1). "Man darf nicht vergessen, daß unsere Luftwaffe schon 2 700-2 800 Kampfflugzeuge neuester Konstruktion verfügte Diese waren ihren Kampfeigenschaften nach den feindlichen Flugzeugen in mancher Beziehung überlegen" (S. 55).
2. Zum Sonderfall Panzerwaffe: "Zahlenmäßig waren wir dem Gegner etwa vierfach überlegen, aber alle, die über die erste Kriegsperiode schreiben, lassen diese Tatsache unberücksichtigt und betonen, daß nur 9 % der Panzer in unseren westlichen Militärbezirken moderne Panzerkampfwagen waren. Indem sie diese Prozentzahl anführen, vergessen sie auszurechnen, daß diese 9% etwa 1700-1800 Panzer bedeuten. Unerwähnt bleibt auch die wichtige Frage über die Eigenschaften der deutschen Panzer. Dadurch wird beim Leser der Eindruck erweckt, daß die Panzer des Gegners bedeutend besser waren Erst 1943 gelang es den Deutschen, Panzerkampfwagen zu entwickeln, die annähernd so gut waren, wie unsere T 34 und KW, die wir schon am Anfang des Krieges hatten ( ). Die qualitative Überlegenheit unserer neuen Panzertypen war derart groß, daß die deutschen Panzer auch in großer zahlenmäßiger Überlegenheit nicht gewagt haben, mit vereinzelten Panzern der Typen T 34 und KW den Kampf aufzunehmen. Wenn diese unsere Panzer, deren Zahl etwa der Hälfte der Gesamtzahl der deutschen Panzer entsprach, zweckmäßig eingesetzt worden wären, so hätte dem Feind weder die doppelte noch die zehnfache Überlegenheit etwas genützt ( ). Somit beweist die zahlenmäßige und die qualitative Analyse eindeutig, daß von keinen materiellen Vorteilen des Gegners die Rede sein kann. Wir haben genügend Kräfte, um den Feind schon im ersten Kriegsjahr zu zerschlagen" (S. 56 f.).
3. Mehr als die Hälfte der Sowjetarmeen in den westlichen Sondermilitärbezirken befanden sich unmittelbar vor dem 22. Juni 1941 im Gebiet von Bialystok und westlich davon, das heißt in einem Raum, der tief in das polnische Territorium unter deutscher Besetzung hineinragte. Grigorjenko: "Solche Verteilung wäre nur dann begründet, wenn diese Truppen für eine Überraschungsoffensive bestimmt wären. Beim gegnerischen Angriff waren diese Truppen schon bald umfaßt. Der Gegner brauchte nur kurze Schläge an der Basis unseres Keils auszuführen, und die Umfassung war vollständig. Das bedeutet, daß wir unsere Truppen selbst in einen Kessel hineingezwängt haben. Die für den Kriegsfall bereitgestellten Vorräte an Waffen und Munition waren in der Nähe der Staatsgrenze untergebracht, z.T. sogar vor der zweiten Staffel der Truppen der Grenzbezirke. Bei Kriegsausbruch konnte der Gegner natürlich fast alle diese Vorräte erobern" (S. 94 f)
4. Der Nichtangriffspakt von 1939 begünstigte geopolitisch, militärisch-strategisch und waffentechnisch einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Deutschland. Grigorjenko über die "positiven Faktoren": "Die Staatsgrenze wurde um 200-250 km nach Westen verschoben ( ). Die Truppenbestände wurden verdoppelt ( ). Die Panzerbataillone der Infanteriedivisionen wurden aufgehoben, und es wurde mit der Bildung von mechanisierten Korps begonnen. Die für die Mobilmachung benötigten Vorräte an Waffen und Munition wurden in unmittelbarer Nähe der Staatsgrenze konzentriert" (S.117 f.).
5. Eingestellt auf einen Angriffskrieg gegen Deutschland, erlitt der sowjetische Militärapparat durch den deutschen Gegenangriff am 22. Juni einen politisch-psychologischen Kollaps, der bereits in den ersten Monaten des Krieges zur Niederlage des kommunistischen Systems und zum Auseinanderfallen der Sowjetunion hätte führen können. Wenn Stalin jemals Verstand besessen habe, so hätte er ihn am 22. Juni völlig verloren, urteilt Grigorjenko. "Am ersten Kriegstag erteilte der Volkskommissar für Verteidigung den westlichen Militärbezirken drei einander völlig widersprechende Befehle. Niemand hat sich um ihre Ausführung bemüht, denn sie entsprachen gar nicht der wirklichen Situation. Die Verwirrung und die Verzweiflung, die diese Art Führung erzeugte, war in jener äußerst komplizierten Situation besonders gefährlich. Schon die Tatsache, daß diese unsinnigen Befehle erteilt wurden, nahm den Kommandanten der Militärbezirke die Möglichkeit, etwas aus eigener Initiative zu unternehmen. Die Gefährlichkeit der Lage nahm zu, weil das stalinistische Regime mit dem Verlust des Verstandes keineswegs seine Grausamkeit eingebüßt hatte Dieses Regime scheute sich nicht, seine Grausamkeit zu demonstrieren. Als Objekt wurde das Kommando und der Stab des westlichen Sonder-Militärbezirkes gewählt. In einem Schnellverfahren wurden der Kommandant dieses Militärbezirkes, sein Stabschef und der Chef der Übermittlungstruppen zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde unverzüglich vollstreckt ( ). Und so wurden die Helden, die nach verzweifeltem Widerstand tagelang unterwegs waren, um aus der feindlichen Umklammerung herauszukommen, mit Hinrichtungen empfangen. So wurden praktisch ohne Untersuchung viele Soldaten und Offiziere der rückwärtigen Dienste, die Frontsoldaten, die Flieger, die ihre Flugzeuge verloren hatten, die Panzerbesatzungen, die sich aus den brennenden Panzern retten konnten, und die Artilleristen, die ihre Geschütze selbst geschleppt hatten, erschossen. Tags darauf kamen jene, die erschossen haben, selbst in die deutsche Einkreisung und konnten mit derselben Behandlung rechnen" (S. 109 ff.).
Wie der Leser schon gemerkt haben wird, mied Grigorjenko, von "Kriegsschuld", "Überfall", "strategischem Aufmarsch" zu sprechen, 1966 waren diese brisanten Termini totale Tabu-Begriffe. Die Fakten sprechen jedoch für sich.
Pjotr Grigorjenko war ein klassischer Frührevisionist, das heißt ein Kämpfer des Untergrunds. Im Unterschied zu den heutigen Revisionisten besaß er, der Geächtete und dann Eingesperrte, nicht die Möglichkeit, Dokumente der einstigen Geheimarchive einzusehen. So erklärt sich seine Fehleinschätzung der sowjetischen Panzertruppen und der sowjetischen Luftwaffe am Vorabend des 22. Juni. Heute weiß man, daß im Sommer 1941 der größte Teil der sowjetischen Panzerkampfwagen aus veralteten T 26 und BT mit ihrer schwachen Panzerung und Bewaffnung bestand. 1940 wurden lediglich 358 T 34 und KW produziert, in der ersten Hälfte des Jahres 1941 ca. 1100 Panzer T 34 und 393 KW.
Zu Beginn des Krieges gab es in der sowjetischen Luftwaffe eine große Zahl von Kampfflugzeugen mit guten technischen Eigenschaften, die aber bereits veraltet waren. Zu solchen veralteten Typen gehörten die Jagdflugzeuge I 16 ("Rata") und I 153 (ein Doppeldecker!). Sie wurden im Laufe des Krieges modernisiert, waren aber den deutschen Jagdflugzeugen hinsichtlich der Geschwindigkeit und Bewaffnung eindeutig unterlegen. Von 980 neuen Typen in den westlichen Militärbezirken waren am 22.Juni nur 886 MiG-3-Jäger. Als Frontbomber wurde das 1934 eingeführte Flugzeug vom Typ SB verwendet, dessen maximale Geschwindigkeit um 50 km/h und die Bombenlast um zweimal geringer war als bei den deutschen Standardbombern Ju 88 und He 111.
Hierzu findet man in dem Nowosibirsker Sammelband einen Grundlagenbericht des renommierten Waffenexperten Sergej Isaikin, "Arithmetik der Fehler", bezogen auf die angeblich falschen Angaben Suworows (S. 46 bis 63). Kriegsteilnehmer Isaikin, Mitglied der Internationalen Assoziation der Kriegsschriftsteller und Kolumnist im Kriegs-Historischen Journal (Moskau), bestätigt die eben gemachten Angaben zum qualitativen (nicht quantitativen!) Kräfteverhältnis Wehrmacht-Rote Armee, erwähnt die Fehlkonstruktion des sowjetischen Standardpanzers BT, entwickelt Mitte der dreißiger Jahre. Bestimmt für operativ-taktische Aufgaben, zeichnete sich der BT durch hohe Geschwindigkeit bei schwacher Panzerung und Kanonenbewaffnung (4,5 cm) aus (S. 49). Bei der 4. Elite-Armee nördlich von Brest-Litowsk, im Zentrum des Bialystoker Balkons, sollen selbst diese Panzer nicht vorhanden gewesen sein, sondern lediglich T 26, die bereits im Spanischen Bürgerkrieg veraltet gewesen sind (S. 56). Am 29.Juni 1941 soll Stalin wutentbrannt seinen Generalstabschef angebrüllt haben: "Naschi woiska nje umejut nastupatj!" ("Unsere Truppen verstehen nicht anzugreifen!"). Politschulung im Angriffsgeist, Planung für Vormarsch, doch gleichzeitig Desorganisation, Chaos, grandiose Mängel, ersetzt durch eine Stalinsche Wunderwaffe: "Grausamkeit". Suworow-Kritiker Isaikin: "Am 15.Juni berichtete Schukow in einem Gespräch mit Stalin von den jüngsten Maßnahmen der Deutschen, die ihre Divisionen kriegsmäßig auffüllen würden, von 14 000 auf 16 000 Mann pro Division. Das Maximum einer Sowjetdivision betrug jedoch nur 8 000 Mann, praktisch zweimal schwächer als eine deutsche Division." Laut Isaikin verfügten 172 Sowjetdivisonen im Grenzbereich höchstens 6 000 Mann pro Einheit (S. 56).
Diese Fakten waren also nicht nur dem Generalstab, sondern auch Stalin bekannt. Daß sich Stalin dennoch zu einem Erstschlag entschloß und sogar mit einem Sieg über die Wehrmacht rechnete, entzieht sich einer rationalen Erklärung. Ideologisches Wunschdenken verdrängte das Kalkül eines verantwortungsbewußten Heerführers. Typisch für das organisierte Chaos die Flut der Pläne für Auflösung und Neubildung von Panzerverbänden zwischen 1936 und 1941. Mechanisierte Korps oder halbmechanisierte Schützendivisionen, reine Panzerdivisionen oder Mot-Divisionen, Panzerbrigaden oder nur Panzerbataillone, selbständige Panzerregimenter oder gigantische Panzerarmeen - als Guderians, Mansteins, Kleists Panzerblitze im Juli die sowjetische Front aushebelten und die bis dahin größten Kesselschlachten einleiteten, stritt man in Stalins Generalstab immer noch über diese oder jene Variante der Panzerkampftaktik, ganz abgesehen davon, daß der fast totale Mangel an Funkgeräten und moderner Zieloptik die Führung großer mobiler Verbände unmöglich machte.
Hinzu kam, daß der Mann hinter der Panzerkanone gar nicht wußte, wofür er eigentlich kämpfen -und sterben sollte. Der Hinweis Grigorjenkos auf die angebliche Einheit von Volk und Regierung entsprach der orthodoxen sowjetischen Schreibweise, die in diesem Fall dem Autor nicht übelgenommen werden kann, wenn man bedenkt, daß der Text in einer Parteizeitschrift publiziert werden sollte. "Die Liquidierung der Klassen war eine Folge der Industrialisierung und Kollektivierung. Im Lande behauptete sich das sozialistische Regime", schrieb Grigorjenko. "Auf dieser Grundlage festigte sich die moralisch-politische Einheit der sowjetischen Gesellschaft und die Freundschaft zwischen den Völkern unseres Landes. Unser sozialistischer Staat war schon einige Jahre vor dem Krieg ein unerschütterlicher Monolith" (S. 51).
Nonsens. Der mutige Dissident Grigorjenko wußte das auch. Da es sich aber bei seiner Studie um eine historische Untersuchung handelt, muß festgestellt werden, daß gerade die von Grigorjenko als angebliche Errungenschaft bezeichnete Kollektivierung auf dem Dorfe eine stark verbreitete antibolschewistische, ja revolutionäre Stimmung in den Völkern der UdSSR erzeugt hatte. Diese mit Wut und Haß aufgeladene Stimmung führte dann nach den Niederlagen der Roten Armee in den ersten Monaten des Krieges zu einem rapiden Sinken der "sozialistischen" Kampfmoral. Nach Minsk, Smolensk, Kiew, Wjasma, Brjansk war von dieser Moral nichts mehr zu spüren.
Grigorjenko erwähnt diese Tatsachen, die den Vormarsch der Wehrmacht begünstigt hatte, nur in direkt, indem er vom Verfall der Disziplin in der Roten Armee schreibt. Hier besteht ein Widerspruch zu seiner Schilderung der Haltung der Truppe, die er als "heldenhaft" bezeichnet.
Bialystok, Minsk, Smolensk, Uman, Rosslawl, Kiew, Wjasma, Brjansk, ein Cannae nach dem anderen in vier Monaten des Jahres einundvierzig, und drei Millionen Rotarmisten, die Befehls-, Führer-, Ideologieverweigerung übten, indem sie sich dem "deutsch-faschistischen Aggressor" ergaben, hatten noch die Worte ihres obersten Politruks in den Ohren, ausgestoßen und gedruckt in den Wochen vor dem Krieg: "Die militärischen Siege Deutschlands und die Niederlagen seiner Gegner ließen die Meinung von einer angeblich unbesiegbaren deutschen Armee entstehen. Derartige Ansichten sind unwissenschaftlich, sie widersprechen der geschichtlichen Erfahrung und erst recht den Gesetzen des modernen Krieges. Es gab niemals unbesiegbare Armeen, es gibt nur gute und schlechte Armeen. Die bisherigen Siege der Deutschen erklären sich allein aus der Schwäche ihrer Gegner. Infolge dieser leichten Siege breiteten sich in der Wehrmacht Prahlerei, Selbstgefälligkeit und Arroganz aus Prahlerei und Selbstgefälligkeit sind der Grund dafür, daß es mit der Kriegsdoktrin Deutschlands zu Ende ist - es geht nicht mehr vorwärts, Deutschlands Armee treibt in den Rückstand. Die Deutschen verloren jeglichen Antrieb zu einer Verbesserung der Kriegstechnik. Während zu Beginn des Krieges die Wehrmacht die modernste Kriegstechnik beherrschte, erkennt man jetzt, daß die anfängliche militärtechnische Überlegenheit Deutschlands unaufhaltsam zurückgeht" (S. 128).
Die Worte - besser: die Lügen - stammen von einem intellektuellen Deutschenhasser, von Generaloberst Alexander Schtscherbakow (1901-1945), während der Vorbereitungen zu Stalins Offensive und im Zweiten Weltkrieg Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (GUPPKA), nach Behauptungen Stalins durch "falsche ärztliche Behandlung" 1945 getötet. Am 13. Januar 1953 gab die PRAWDA bekannt, daß es dem MGB gelungen sei, eine Verschwörung von jüdischen Kremlärzten - Kogan, Feldman, Grinstein, Etinger und fünf weitere JOINT-Mitglieder -aufzudecken, diesen wurde u. a. die Vergiftung von A. Schtscherbakow vorgeworfen. Ob Erfindung oder Wahrheit, Tatsache bleibt, daß diese "giftige Schlange" (Chruschtschow in seinen Memoiren) zu den willigsten Vollstreckern Stalins in den 30erJahren gehörte, eine "menschlich noch unangenehmere Erscheinung als Schdanow, ein dicker Mann mit Brille und zurückgekämmtem Haar" (Robert Conquest), aufgestiegen vom regionalen Leiter für Agitation und Propaganda in der Provinz Gorkij (Nischnij Nowgorod) zu den Gipfeln in der Stalinschen Hierarchie: 1934 Sekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, auf diversen Führungsposten im Rahmen der Säuberungsfeldzüge (Leningrad, Irkutsk, Ukraine), Erster Parteisekretär von Moskau. Noch vor Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krieges übernahm Schtscherbakow die politische Führung der Roten Armee, wurde Sekretär des Zentralkomitees und Kandidat des Politbüros. Für seine Karriere revanchierte er sich entsprechend. Er belog die Rotarmisten, Rekruten wie Kommandeure, nach Strich und Faden. Er zeichnete das Bild einer deutschen Klassen-Armee, während in Wirklichkeit die Wehrmacht während des ganzen Krieges die einzige echte klassenlose Truppe gewesen ist, dem Nimbus einer "Arbeiter- und Bauernarmee" näher als Stalins Rote Armee, in der sich nach 1941 ein neo-zaristischer Feudalismus breitmachte, mit Kasten, Klassen, Schranken, Rängen, Privilegien.
Im deutschen Heer gab es keine Verpflegungsunterschiede. Anders als bei der Roten Armee oder in Churchills Kolonialarmee waren die Grundnahrungsmittel für alle gleich, ob Schütze oder General: 650 Gramm Brot, 45 Gramm Fett, fünf Gramm Bohnenkaffee, sechs Zigaretten -für Manstein wie für den Schützen Arsch im letzten Glied. In der Wehrmacht konnte jeder Soldat die höchste Tapferkeitsauszeichnung erringen, in Stalins Armee waren sämtliche Orden nach dem militärischen Rang gestaffelt, den Suworoworden 1. Klasse erhielten nur Generale. Das Ritterkreuz trugen mehr Unterführer als Offiziere. Als auf dem Höhepunkt der Abwehrschlachten im Osten Unteroffiziere Kompanien, Feldwebel Bataillone und Leutnants Regimenter befehligten, schmolzen auch das "Sie" und das "Herr" dahin (in der Waffen-SS ohnehin ausgemerzt), man kannte nur noch den Vornamen des Kameraden, das DU, während das kommunistische "towarischtsch" (Genosse) das "Sie" voraussetzte. Wer den marxistisch-leninistischen Knigge verletzte, kam vors Kriegsgericht. Weder Stalin noch seine Generäle ließen sich vom Landser duzen.
Den Rückzug der 17. Armee aus dem Kaukasus im Winter/ Frühjahr 1943, in den Kuban-Brückenkopf hinein, schildert Paul Carell: "Dieser Rückzug war eine Leistung, wie sie die Kriegsgeschichte nur selten kennt. Ein Kapitel des Krieges, in dem sich Tapferkeit, Hingabe und Opferbereitschaft von Offizier und Mann manifestierten, und zwar nicht nur an
der Waffe, sondern ebenso mit dem Spaten, neben Pferd und Tragtier. Die deutsche Wehrmacht zeigte sich hier besonders eindrucksvoll in ihrer fortschrittlichen, modernen Struktur, frei von sozialen Schranken und Vorurteilen. Die deutsche Armee war die einzige Armee der Welt, in der Offiziere und Mann die gleiche Verpflegung teilten. Der Offizier war nicht nur Vorkämpfer, sondern auch 'Vorarbeiter' "Landser mit Achselstücken", der durch seinen selbstverständlichen Einsatz in der Trägerkolonne oder an der Zugmaschine das mitreißende Vorbild zur Überwindung der Erschöpfung gab" ("Verbrannte Erde, Frankfurt am Main 1966, S. 129).
Vielleicht waren Schtscherbakow diese Fakten bekannt. Wenn ja, so verschwieg er sie. In der Kriegsvorbereitungskampagne zwischen dem 5. Mai und 22.Juni 1941 spielte er eine unheilvolle Rolle für Millionen von Rotarmisten, denen er eintrichterte, schon am ersten Tage des sowjetischen Angriffskrieges wäre der "Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht" am Boden zerstört (S. 129). Dieses schaurige Täuschungskapitel analysiert im Nowosibirsker Sammelband der Historiker M. Nikitin (S. 122 bis 146) schlußfolgert: "Aus den Dokumenten geht eindeutig hervor, daß die sowjetische Führung im Frühjahr 1941 Deutschland als den Hauptfeind betrachtete ( ) Ein Kompromiß kam nicht mehr in Betracht, beide Seiten bereiteten sich darauf vor, ihre Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen Mit der Planung eines Krieges gegen Deutschland begann die UdSSR noch im Oktober 1940 'Die UdSSR lebt in einer kapitalistischen Umzingelung', schrieb Schtscherbakow, Unausweichlich ist der Zusammenstoß zwischen der Welt des Sozialismus und der Welt des Kapitalismus Der Leninismus lehrt, daß ein sozialistischer Staat zu militärischen Angriffshandlungen übergehen muß, sobald die internationale Lage dafür günstig ist und wenn dieser Krieg zu einer Erweiterung der Grenzen des Sozialismus führt"' (S. 137 f.).
Mit der Roten Armee habe Stalin im Sommer '41 tatsächlich ein "gigantisches Kriegsinstrument" geschaffen, das der Sowjetführung die Überzeugung vermittelte, Deutschland im Erstschlag besiegen zu können. Nikitin auf Seite 140: "Zwischen 1939 und 1941 wurde Kolossales geleistet bei der Vervollkommnung der Kampfkraft der Roten Armee. In der ersten Hälfte des Jahres 1941 produzierte die Sowjetindustrie 89 Prozent Panzer und 45 Prozent Flugzeuge der modernsten Typen. Im Zeitraum 1939 bis Juni 1941 wurde die Rote Armee um 92 000 Kanonen und Granatwerfer, 7 400 Panzer und 17 700 Kampfflugzeuge stärker."
Im Mittelpunkt der neuen Sowjetdoktrin eines "gerechten progressiven Krieges" stand die Erkenntnis, daß Deutschland nur zu besiegen sei, wenn man eine offensive Strategie anwendet, die Strategie von überraschenden Panzervorstößen. Spätestens nach dem Molotow-Besuch in Berlin, November 1940, sei Stalin zu einem "Überfall auf Deutschland" ("napadenija na Gemmaniju") entschlossen gewesen, resümiert Nikitin. "Das Hauptziel bestand in der territorialen Ausdehnung der 'sozialistischen Welt' Richtung Westen, im Idealfall die Eroberung ganz Europas Die Zersplitterung der Wehrmacht an vielen Fronten im Westen erschien in Moskau als einmalige Chance, in einem Überraschungsschlag Deutschland zu vernichten."
SCHLACHTENMYTHISCHER NACHTRAG.
Die Erfahrung der welthistorischen Wende von 1989-91 konfrontiert heute den Historiker mit der Wirkungsgeschichte von Schlachtmythen, die als Handlungsargumente bis in die Gegenwart reichen.
Im athenisch-persischen Ringen bei Marathon 490 v. Chr. nahm der Mythos von der "orientalischen Despotie" seinen Ausgang. Der nach marxistischem Verständnis "orientalische Despot" Stalin sakrierte den Sieg Alexander Newskijs über den Deutschen Orden auf dem Peipussee 1242 zum slawischen Überlegenheitsmythos, an den Neo-Panslawisten heute noch glauben. In der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1991 erblicken westlich orientierte Ukrainer einen späten Triumph über den Sieg der orientalischen beziehungsweise moskowitischen Despotie bei Poltawa am 8. Juli 1709. Die Niederlage der Serben auf dem Amselfeld 13 89 und Sigismunds Flucht vom Schlachtfeld Nikopolis 1396 erinnern Abendländler an den Weltuntergangsmythos durch islamisch-asiatischen Fundamentalismus in Waffen. Auch der 22.Juni 1941 gehört als weltgeschichtlicher Wendepunkt in diese Mythenreihe.
Merowingerkönig Chlodwig, dessen katholische Taufe vor 1 500Jahren nicht nur in Reims gefeiert wurde, wollte ja nur dann Christ werden, wenn er in seinem Krieg gegen die Alemannen siegreich bliebe, was er dann ja auch in der Schlacht bei Zülpich 496 war. Hätte er die Schlacht verloren, wäre er vermutlich ein Bündnis mit Theoderich dem Großen eingegangen, um seine Machtposition in Nordgallien zu halten. Theoderichs Goten aber, die in Südgallien herrschten, waren Arianer und Statthalter des Kaisers in Byzanz. Man darf annehmen, daß Chlodwig dann das arianische Christentum angenommen hätte. Byzanz wäre dann Bezugspunkt Westeuropas geworden, wie in Osteuropa.
In der Schlacht von Borodino, 7. September 1812, konnte Kutusow seine angeschlagene Armee noch einigermaßen geordnet zurückziehen, um sie dann in weitem Bogen kampfbereit um Moskau zu postieren, weil Napoleon seine Kaiserliche Garde schonen wollte. Er ließ sie nicht zum Vernichtungsstoß gegen die Russen antreten. Wäre Zar Alexander I. nach dem Verlust seiner Streitmacht zu Verhandlungen mit dem Korsen gezwungen gewesen? Höchstwahrscheinlich wäre er es.
War die Skagerrakschlacht ein anderes Salamis? Eine am 31.Mai 1916 siegreiche Grand Fleet hätte Angriffe in die Ostsee unternehmen können, die Anwesenheit eines starken britischen Flottengeschwaders in der Ostsee im Winter 1916 und Frühjahr 1917 hätte deutsche Unternehmungen im Baltikum unmöglich gemacht und wahrscheinlich sogar den Zusammenbruch des russischen Verbündeten verhindern können. Während des ganzen Krieges gab es britische operative Überlegungen in Richtung Ostsee. Die Februarrevolution, der Waffenstillstand von Brest-Litowsk und das schließliche Ausscheiden Rußlands aus dem Ersten Weltkrieg lassen sich als indirekte Folgen des Ausgangs der Skagerrakschlacht werten.
Am 30.Juni 1941 proklamierte in Lemberg eine provisorische Nationalversammlung die Wiederherstellung der staatlichen Selbständigkeit der Ukraine. Die neue Regierung setzte sich aus Vertretern verschiedener parteipolitischer Richtungen zusammen. Nationalisten, Nationalliberale, Sozialisten, Sozialrevolutionäre. Ehrenpräsident des provisorischen Parlaments wurde Metropolit Graf Andrej Scheptyzkyj. Hitler befahl Himmler, die "Bande" zu liquidieren; wäre Hitler dem Ratschlag des herbeigerufenen Canaris gefolgt, hätte Deutschland mit der Anerkennung der Lemberger Regierung einen starken Verbündeten in Osteuropa gewonnen, vielleicht den stärksten überhaupt, kämpfte doch an diesem 30.Juni 1941 ein Andrej Wlassow noch unter Stalins Fahne.
An jenem 30.Juni verlor Hitler seinen Krieg zwar noch nicht militärisch, wohl aber politisch und psychologisch. Militärisch verspielte er ihn mit der "Führeranweisung" vom 21. August: "Das wichtigste, noch vor Einbruch des Winters zu erreichende Ziel ist nicht die Einnahme von Moskau, sondern die Wegnahme der Krim " Vom Jelnjabogen ostwärts Smolensk, wo Guderians Panzergruppe 2 zum Angriff bereitstand, waren es noch 298 Kilometer bis zum Stadtrand von Moskau. Zehn oder fünfzehn Tage Panzermarsch. Guderian zu Feldmarschall v. Bock am 22. August: "Wir müssen den Beschluß umschmeißen. Wenn wir erst nach Kiew gehen, geraten wir zwangsweise in einen Winterfeldzug, ehe wir Moskau erreichen. Die Wege und Versorgungsschwierigkeiten sind dann nicht auszudenken. Ich bezweifle, daß unsere Panzer diesen Strapazen gewachsen sind." Und Guderian am 23. August zu Hitler: "Man kann Moskau nicht mit Paris oder Warschau vergleichen. Moskau ist nicht nur das Haupt und das Herz der Sowjetunion. Es ist auch die Nachrichtenzentrale, der politische Mittelpunkt, ein mächtiges Industriegebiet, es ist vor allem die Verkehrsspinne des ganzen roten Reiches. Der Fall Moskau wird kriegsentscheidende Wirkung haben. Stalin weiß das. Er weiß, daß Moskaus Fall die endgültige Niederlage bedeutet. Und weil er es weiß, wird er seine ganze militärische Kraft vor Moskau einsetzen. Wir werden vor Moskau die Substanz der russischen Militärmacht treffen. Wollen wir die militärische Lebenskraft der Sowjets vernichten, hier treffen wir sie, hier ist das Schlachtfeld, und wenn wir alle Kraft zusammenfassen, werden wir es auf Anhieb schaffen. Wenn wir vor Moskau und in Moskau über die feindlichen Hauptkräfte gesiegt und den zentralen Verschiebebahnhof der Sowjetunion ausgeschaltet haben, dann fällt uns das Baltikum und fällt uns das Wirtschaftsgebiet der Ukraine viel leichter zu als mit einem intakten Moskau vor unserer Front, von dem aus Kräfteverschiebungen vor allem aus Sibirien -nach Nord und Süd vorgenommen werden können. Die Aufmarschpläne und Kampfanweisungen sind fertig. Überall sind bereits die Wegweiser und Eintragungen für den Marsch gegen Moskau gemacht. An vielen Stellen haben die Soldaten schon Schilder angebracht: Nach Moskau soundsoviel Kilometer. Wenn Sie befehlen, treten die Panzerkorps noch heute nacht an und durchbrechen Timoschenkos massierte Truppenansammlung vor Jelnja. Ich brauche meinem Stab nur ein telefonisches Stichwort zu geben. Lassen Sie uns gegen Moskau marschieren, wir werden es nehmen." Hitler ließ sich nicht überzeugen. An diesem 23. August 1941 fielen Würfel. Hitler grub sich auch militärisch das Grab.