WOLFGANG STRAUSS / DER ZWEITE WELTKRIEG BEGANN AM 19. AUGUST (2)
Wer enffachte den Zweiten Weltkrieg? Diese Frage beschäftigt russische Historiker nicht erst, seit das Imperium WSSR wie ein Kartenhaus zusammenkrachte. Das Weiße Rad antibolschewistischer Entlarvungsliteratur und Enthüllungsschriften war lange vor dem Sturmjahr einundneunzig in Bewegung geraten, im Exil wie im Samisdat. Zwischen antibolschewistischer Anklage und postbolschewistischem Revisionismus lag jedoch das Entscheidungsstadium des politischen Umbruchs. Erst jetzt zerbrach die sowjetische Apologie. Dem Urteil von Viktor Suworow in "Der Tag M" (Klett-Cotta 1995), den Zweiten Weltkrieg habe Stalin am 19. August 1939 ausgelöst, pflichten heute Rußlands junge Revisionisten bei, doch ihr Ja kam erst nach subjektivem Zögern auf einem hindernisreichen Weg selbstkritischen Zweifelns. Nicht auf Anhieb gelang der Durchbruch. Die Einheitsfront der Apologeten schien stählern zu sein, wie der Fall der Kriegshistoriker Danilow und Meljtjuchow beweist. Eine Affäre, die erstmals durch die Staatsbriefe der deutschen Öffentlichkeit vorgeführt wird.
Mit einer alles zermalmenden Offensive habe Stalin 1941 den Krieg beginnen wollen, schreibt W. Danilow, Oberst. "Dabei wurden vielen Fragen der Organisation der Heimatverteidigung grob vernachlässigt. Gerade diese 'Fehler' und 'Fehlrechnungen' erklären die schrecklichen Niederlagen unserer Truppe zu Beginn des Krieges." Danilows Dossier ("Bereitete Stalin einen Überfall auf Deutschland vor?") löste einen Sturm aus, den eigentlichen Beginn des innerrussischen Historikerstreites, nachdem mehrere Zeitschriften den Text veröffentlicht hatten: Komsomolskaja Prawda (4. Januar 1992), Segodnja (28. September 1993), Poisk (17. Juni 1994).
Danilows Fachkollege M. Meljtjuchow hatte zunächst kein Glück. Das angesehene Historikerjoumal Otetsschestwennaja Historija (Vaterländische Geschichte) weigerte sich, Meljtjuchows Rezension des Suworow-Buches "Der Eisbrecher" zu drucken, das Werk überhaupt zur Diskussion zu stellen. Eine Sondersitzung der Redaktion und ihrer Mitarbeiter fand statt. Namhafte Historiker der alten Schule wie Poljakow, Dmitrenko, Bowykin, Fedorow verwiesen die Absicht Stalins, Deutschland zu überfallen, ins Reich der Märchen, weigerten sich, die Einverleibung des Baltikums, Galiziens und des westlichen Weißrußland als "Aggression der UdSSR" zu bezeichnen, und sie verurteilten Meljtjuchowals einen "Tendenzschreiberling". Es sei unmöglich, ja geradezu unanständig, Suworows Buch in einem wissenschaftlichen Journal zu erörtern, empörte sich W. P. Dmitrenko, stellvertretender Direktor des Instituts der Russischen Geschichte.
"Nun könnte man meinen, was soll's", kommentierte die Historikerin Pawlowa auf Seite 37 der Nowosibirsker Publikation, "warum der ideologischen Verbohrtheit, Vergreisung dieser und ähnliche Historiker überhaupt Aufmerksamkeit schenken, wäre da nicht die Tatsache, daß ausgerechnet sie es sind, die unser wissenschaftliches Leben in Rußland bestimmen, weil sie in Schlüsselstellungen der Administration der russischen Geschichtswissenschaft sitzen."
Nichtsdestotrotz endete der redaktionsinterne Clinch mit einem Sieg des Revisionismus. Meljtjuchows Artikel "Streit um das Jahr 1941: Erfahrungen kritischen Überdenkens einer Diskussion" sowie sein vor dem Redaktionskollegium gehaltenes Pro-Suworow-Plädoyer erschienen 1994 in den Heften 3 und 4/5, ungekürzt. Durchgesetzt hatte sich der junge stellvertretende Chefredakteur M. Rachmatullin, der Meljtjuchows Beitrag als eine der ersten "objektiven Beurteilungen" der Suworow-Thesen lobte. Das geschah vor zwei Jahren, in der Mettemichschen Finstemis der Bonner Medien mit keiner Zeile gewürdigt.
Dokumentarisch bekräftigte Meljtjuchow nicht nur die Fakten bezüglich sowjetischer Vorbereitungen zum Überfall auf Deutschland, er konnte auch nachweisen, daß der "Plan eines Krieges gegen Deutschland" (russisch: "Plan wojnij s Germanijej") am 14. Oktober 1940 beschlossen wurde, also noch vor dem Molotow-Besuch in Berlin, und in Dokumenten vom 1. März und 15. Mai 1941 präzisiert wurde. (Der Hinweis auf den 15. Mai 1941 bezieht sich offensichtlich auf den detaillierten Präventivkriegs-Plan Schukows und Timoschenkos, Stalin auf einer Geheimsitzung in Form einer Denkschrift vorgelegt, von diesem paraphiert. Näheres dazu in Staatsbriefe 5/1995, S. 7)
"Das Entscheidende ist", bemerkte Meljtjuchow, "daß die Kriegspläne auf deutscher Seite wie in der UdSSR nicht Papier blieben, man realisierte sie. Eine exakte Analyse der Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten bleibt die Aufgabe weiterer Erforschungen der Vorgeschichte des Krieges. Soviel kann man jedoch schon heute aufgrund der bekanntgewordenen Materialien feststellen - dieser Prozeß verlief parallel und steuerte Anfang 1941 seinem Endstadium zu, in Deutschland wie in der UdSSR, was besagt, daß der Krieg 1941 unabwendbar erschien, unabhängig davon, wer als Initiator in Betracht käme."
Aus diesen Sätzen geht hervor, daß sich Meljtjuchow gegenüber gewissen Postulaten Suworows kritisch bis ablehnend verhält. Daß Stalin am 6. Juli 1941 losschlagen wollte, hält er für nicht erwiesen. (I. W. Pawlowa: "In der Tat, dieses Datum ist nicht bezeugt. Denkbar, daß sich Dokumente finden, aus denen der genaue Tag M hervorgeht.") Vor dem 15. Juli 1941 wären Angriffsmaßnahmen der Roten Armee nicht durchführbar gewesen, meint Meljtjuchow, während Danilow den 2. Juli 1941 nennt ("der allerletzte Termin").
Anders als Suworow und Danilow opponiert Meljtjuchow gegen eine Übernahme des Begriffes "deutscher Präventivkrieg". Diese Variante hätte nichts mit Historiographie zu tun, sie wäre eine rein propagandistische These zur "Rechtfertigung des eigenen Handelns".
Aufgrund ihrer Recherchen und des Hoffmann-Buches vertritt die Pawlowa eine entgegengesetzte Meinung. Ihre Gegenargumente: "Die Frage über Präventivmaßnahmen ist vielfältiger, komplizierter, als sie Meljtjuchow abhandelt, und sie hat wenig mit Propaganda zu tun. Hitler hatte tatsächlich keine genaue Vorstellung von dem, was auf sowjetischer Seite an Vorbereitungen getroffen wurde, wobei wir uns in diesem Punkt auf die autoritative Meinung Hoffmanns berufen können. Über das Ausmaß dieser Vorbereitungen besaß er (Hitler) keine Vorstellung, und er kannte auch nicht den Tag des beschlossenen Überfalles. Den Deutschen war praktisch nichts bekannt über die systematische Aufstellung von Panzerverbänden in der UdSSR mit dem Ziel von Angriffsoperationen, was erklärt, daß sie (die Deutschen) bei Beginn des Krieges völlig überrascht waren, auf so viele Panzerdivisionen zu stoßen. Doch Hitler besaß eine bestimmte Vorstellung von der offensiven Kriegsdoktrin der UdSSR und den politischen Bestrebungen Stalins. Von Hilger, dem Berater des deutschen Botschafters in Moskau, war er von der Rede Stalins am 5. Mai 1941 unterrichtet worden; in dieser Rede vor Absolventen der sowjetischen Kriegsakademien hatte Stalin unverblümt von einem in naher Zukunft bevorstehenden Krieg mit Deutschland gesprochen."
Aus juristischer Sicht wäre der Überfall Deutschlands am 22. Juni 1941 "ohne Zweifel" eine Aggression gewesen, resümiert die Pawlowa. "Die Handlungen Hitlers könnte man nur dann als Prävention klassifizieren, wenn sie nur die Vernichtung der an der Grenze aufmarschierten feindlichen Truppen zum Ziel gehabt hätte, nicht aber die Eroberung sowjetischen Bodens, den Vormarsch in die Tiefe des Raumes. So betrachtet, erscheint der Krieg als eine deutsche Aggression, während die sowjetische Seite einen patriotischen Verteidigungskrieg führte. Trotzdem kann von einem objektiven Standpunkt aus dem Überfall Hitlers auf die UdSSR der Präventivcharakter nicht abgestritten werden, weil er einem an militärischer Massierung überlegenen Angriff der Roten Armee zuvorkam." (S. 39)
Diese Beurteilung hat es in sich. Der Beitrag aus den Forschungsobjekt der Universität Nowosibirsk ("1. September 1938 - 9. Mai 1945") lieferte weiteren Untersuchungen der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges wichtige Impulse. Zur These der Historikernomenklatura, wonach die Wehrmacht am 22. Juni 1941 der Roten Armee technisch haushoch überlegen gewesen sei, schreibt die Pawlowa: "Zum Beispiel führte man die Gesamtzahl aller deutschen Flugzeuge und Panzer an, während man bei der Aufzählung auf sowjetischer Seite nur die allerneuesten Typen dieser Waffensysteme berücksichtigte. Hier haben wir es nicht nur mit einer Falsifikation zu tun, sondern mit einer Lüge." Sie verweist dabei auf den ehemaligen Chefredakteur des Projekts "Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges des Sowjetvolkes" (geplant laut Beschluß des Politbüros des ZK vom 13. August 1987), der zugeben mußte, daß bei Kriegsausbruch die Rote Armee allein bei Panzern und Flugzeugen gegenüber den Streitkräften Deutschlands, Japans, Italiens, Rumäniens, Finnlands (zusammengenommen!) "um fast das Zweifache" überlegen gewesen sei. Politisches Ziel eines "derartig massierten Angriffs" der Roten Armee sei die "Vernichtung des kapitalistischen Europa" gewesen, schreibt die Pawlowa - "folglich der Untergang der europäischen Zivilisation unter dem Banner eines gerechten Befreiungskrieges der Werktätigen Europas". Im Hinblick auf einen Angriffskrieg instruierte die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee am 15. Mai 1941 die Truppenkommandeure darüber, daß jeder Krieg, ob Angriffs- oder Verteidigungskrieg, den die UdSSR führen wird, den Charakter eines "gerechten Krieges" hat (S. 39).
Hart ins Gericht jedoch geht I.W. Pawlowa mit jenen deutschen Zeitgeschichtlern, die "Falsifikationen und Lügen" stalinistischer Pseudohistoriker nachgeplappert hätten - Eberhard Jäckel und Ingeborg Fleischhauer beispielsweise. Ebenso wie jene stritten diese die Authentizität der Stalin-Rede vom 19. August 1939 ab (vgl. StaatbriefeStaats~fc, 2-3/96, S. 10).
Das Geschehen "Bolschewismus" verschlägt noch immer die Begriffe, Stalins Krieg und Völkermord machen sprachlos. Pawlowa und die anderen Mitarbeiter der Nowosibirsker Enthüllungsschrift, nicht der Erlebnis-, sondern der Erinnerungsgeneration angehörend, haben die Sprache wiedergefunden, als Wissenschaftler, doch nicht nur als solche. Sie sehen sich auch in der Rolle des Anklägers. "Noch ist nicht bekannt", bemerkt die Pawlowa, "wie diese entscheidende Politbürositzung über die Bühne ging. Hörten die Politbüromitglieder der Stalin-Rede wortlos zu, ohne Reaktion, oder fand eine Aussprache statt, wurde eine besondere Erklärung formuliert und angenommen? Was auch immer geschah und ungeachtet der Frage, ob auf dieser Sitzung vom Politbüro eine politische Entscheidung über die Rolle der UdSSR im kommenden Krieg gefällt wurde, die politische Zielsetzung Stalins kann man nicht anders als ein Verbrechen gegen die Menschheit klassifizieren." (S. 42)
Das ist der Gefühlskern, der Rußlands junge Revisionisten umtreibt. Stalin der Kriegsauslöser, Stalin der Menschheitsverbrecher. Den Anstoß gab Viktor Suworow. Selbst Anatolij Iwanow, als neuslawophiler Analytiker einer der schärfsten Kritiker Suworows, leugnet nicht die Kriegsabsichten Stalins, betont jedoch, diese wären defensiver Naturgewesen. Stalin habe den Frieden mit Deutschland retten wollen, weil er für den Krieg noch nicht gerüstet gewesen sei.
Zum Wendepunkt wurden nach Iwanow die Verhandlungen Molotows in Berlin im November 1940. Stalin sei das Risiko eines militärischen Zusammenstoßes eingegangen. Iwanow: "Während dieser Gespräche bemühte sich Hitler, Molotow davon zu überzeugen, daß die zwei größten Völker Europas mehr erreichen würden, wenn sie zusammenhielten, als wenn sie gegeneinander wirkten. Je mehr Deutschland und Rußland, Rücken an Rücken stehend, im Kampf gegen die Außenwelt vorankämen, desto größere Erfolge hätten sie in Zukunft, und diese Erfolge würden geringer ausfallen, wenn beide Länder gegeneinander ständen. Doch zu dieser Zeit zeigte sich Hitler beunruhigt wegen der Ansprüche der UdSSR nicht auf die nördliche, sondern auch auf die südliche Bukowina und wegen der Gefahr eines neuen Krieges der UdSSR mit Finnland. Molotow zeigte sich erstaunt, weshalb denn dieser mögliche Krieg die Deutschen so beunruhige, ging bezüglich der rumänischen Frage zum Gegenangriff vor und erklärte, die Garantien, die Rumänien von Deutschland und Italien erhalten habe, richteten sich gegen die Interessen der UdSSR Mit einem Wort: Die 1939 gezeigte Elastizität war einer völlig undiplomatischen Härte gewichen.
Und der Versuch, Hitler unter Druck zu setzen, zeitigte das gegenteilige Ergebnis. Am 18. Dezember 1940 wurde die Weisung 21 (Plan Barbarossa) unterzeichnet." ("Logik des Alptraums", Deutsch im Verlag der Freunde, Berlin 1995, S. 214 f.)
Verhängnisvolle Fehleinschätzungen und absurde Fehlprognosen Stalins durchleuchtet Doroschenko in der Nowosibirsker Publikation, Kapitel 4 ("Stalins Fehler"). Erstens: Stalins Rechtfertigung des Nichtangriffspaktes - notwendig für Sicherheit und Verteidigungskraft der UdSSR - wirkte sich kontraproduktiv aus; mit der von Stalin gewünschten Vernichtung des Pufferstaates Polen verschoben sich Deutschlands Grenzen nach Osten. Zweitens: Stalin rechnete mit einer kommunistischen Revolution in Deutschland, im Falle einer deutschen Niederlage, mit einer kommunistischen Revolution in Frankreich bei einer französischen Niederlage. Beides fand nicht statt. Kein einziges Volk in Europa erhob sich während des Krieges für den Sieg des proletarischen Kommunismus. Der Kommunismus machte nur dort Fortschritte, wo Stalins Panzer hinkamen. ("Das deutsche Volk und die Arbeiterklasse Deutschlands, sie dachten gar nicht daran, bis zum Untergang des Nationalsozialismus und sogar nach 1945, für eine kommunistische Revolution zu kämpfen.") Drittens: Stalin baute auf einen langen Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg zwischen Deutschland und Frankreich, in den die UdSSR als dritter Kriegspartner zugunsten der Sowjetisierung eingreifen wollte. Das Gegenteil trat ein: Besiegt wurde Frankreich in einem Blitzkrieg. Viertens: Auch die Annahme Stalins, ein im Westen siegreiches Deutschland würde auf Jahre damit beschäftigt sein, seine Beute zu verdauen, erwies sich als gigantische Fehlspekulation; zwischen der Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 und dem 22. Juni 1941 lag nur ein Jahr.
Unabhängig vom Fehler-Katalog aus der Perspektive jungrussischer Revisionisten wirkt ein Komplex von Widersprüchen, Unklarheiten, Selbsttäuschungen in der Rede Stalins Fragen auf, die in der Nowosibirsker Publikation nicht angeschnitten werden.
1.) Die Stalinsche Perspektive eines sowjetisierten Deutschland mußte Hitler, dem der Havas-Text vom September 1939 mit Sicherheit bekannt gewesen ist, die Absichten des Pakt-Partners glasklar enthüllt haben. Stalin hatte sich verraten; lag das in seiner Absicht? Wollte er Hitler zu einem antisowjetischen Gegenschlag provozieren? Mit seiner Strategie-Rede hatte Stalin seine Karten offen auf den europäischen Tisch gelegt; hoffte er, daß Hitler ein Analphabet sei? Erscheint aus dieser Sicht "Barbarossa" nicht geradezu als der klassische Fall eines Präventiv-, daß heißt Verhinderungskrieges?
2.) "Wenn Deutschland siegreich bleibt, wird es aus diesem Kriege in einem sehr erschöpften Zustande hervorgehen und daher nicht imstande sein, vor Ablauf von mindestens zehn Jahren einen militärischen Konflikt mit der UdSSR zu beginnen." Stalin am 19. August 1939. War der Herr über zig Geheimdienste so schlecht informiert über die innere Dynamik des nationalsozialistischen Deutschland, seine militärischen Fähigkeiten, mentalen Ressourcen, technologischen Vorsprünge, ideologischen Schubkräfte? Hitler rechnete nicht - wie Stalin - in Dekaden, sondern in Jahren, in Monaten.
3.) Absurd ist Stalins Spekulation auf eine Rivalität zwischen Deutschland und Italien wegen der Adria. Mit Zustimmung Hitlers hatte Mussolini ein halbes Jahr zuvor Albanien annektiert. Italien hatte damit seine adriatische Gegenküste zu Lasten des ohnehin brüchigen Vielvölkerstaates Jugoslawien schon weitgehend in seiner Hand. Rechnete Stalin allen Ernstes mit einem deutsch-Italienischen Krieg wegen Split oder Dubrovnik?
4.) Stalins Bemerkung, Hitler habe Bulgarien, Ungarn und Rumänien als sowj'etische Einflußgebiete akzeptiert, grenzt an Wahnsinn. Nie hätte Berlin die einzigen großen Ölquellen, die in Rumänien der deutschen Wehrwirtschaft zugänglich waren, an die UdSSR übergeben können.
5.) Stalin träumte von einem kommunistischen Deutschland und Frankreich, stellte aber gleichzeitig den kommunistischen Kräften in diesen Ländern ein miserables Zeugnis aus, wörtlich: Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre zeigt, daß in Friedenszeiten die kommunistische Bewegung keine Chance hat, mit der bolschewistischen Partei die Macht zu erobern. Eine Diktatur dieser Partei ist nur vorstellbar im Resultat eines großen Krieges."
6.) Stalin spricht expressis verbis von der "Weltrevolution" ("mirawaja revoljuzija") als dem Endziel. Doch war es nicht er gewesen, der die authentischen Repräsentanten der Weltrevolution, die marxistisch-leninistischen Internationalisten der zwanziger und dreißiger Jahre, in die Genickschußkorridore der Großen Tschistka jagen ließ? Die aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenen Kader der kommenden Weltrevolution? Stalin, nicht Hitler, hatte dem Fetisch mirawaja revoljuziia" das ideologische und personelle Genick gebrochen, in Strömen von Blut. Der Erfinder des "Sozialismus in einem Lande" war es, der ab 1936 die internationalistischen Tabus "Weltproletariat", "Weltrevolution", "Weltsowjetstaat" durch einen großrussisch-imperalen Nationalkommunismus ersetzte und die zaristisch-autokratische Tradition eines Iwan Grosny und Pjotr Welikij rehabilitierte, und nicht nur in Literatur, Kunst, Kino, Erziehungswesen. Die Revolution in der Revolution, in den Augen Trotzkijs und anderer Internationalisten in der Tat eine Konterrevolution. Was eigentlich bedeutete 1939 nach der Liquidierung der Weltrevolutionäre Stalins Rückgriff auf einen ideologischen Leichnam?
Wer log hier wem und warum was vor? Explosive Fragen, zu deren Beantwortung die Suworow, Doroschenko, Pawlowa, Buchujewa, Danilow, Melitjuchow verpflichtet wären. Ich skizziere deshalb hier Varianten des Denkbaren im Labyrinth des Rätselhaften.
Was war gewesen? Eine dramatische Ereignisreihe zwischen dem 19. August 1939 und dem 22.Juni 1941: An jenem Augustsamstag Stalins Kriegserklärung an Deutschland und den nichtkommunistischen Teil Europas - Stalins Prankenschlag nach Finnland und Rumänien im November 1940, angedroht von Molotow gegenüber Hitler - Hitlers Unterschrift unter dem vom OKH ausgearbeiteten Operationsbefehl Barbarossa "am 18. Dezember 1940 - Stalins Ansprache vor Absolventen der Kriegsakademien am 5. März 1941 (Pawlowa: Der Krieg mit Deutschland ist unabwendbar , nötig ist nicht nur ein Verteidigungskrieg, sondern ein Offensivschlag") - Am 15. Mai 1941 Stalins Paraphierung des Schukow/Timoschenko-Plans zum Überfall auf Deutschland.
Joachim Hoffmann hat recht: Stalins Krieg war ein Vernichtungskrieg. Was die Deutschen Stalin verdanken, "sind außer Zerstückelung, Ausplünderung, Besetzung, Fremdbestimmung, Landraub, Annexion auch Genozid. Im Sommer 1945 lebten noch ca. sechs Millionen Deutsche in den Provinzen jenseits der Oder und Neiße, also in Ost- und Westpreußen, in Hinterpommern, Ostbrandenburg, in Schlesien und Danzig. In der Heimat Kants zählte die deutsche Bevölkerung, größtenteils Mütter, Kinder, Greise, 800 000 Personen. Die wenigsten der sechs Millionen kamen mit dem Leben davon. Die Befreier betrachteten sie als Sklaven. In Zwangsarbeit gepreßt oder nach Asien deportiert, starben die Frauen an Hunger, Entkräftung, Heimweh, Typhus, Vergewaltigung. Am grausamsten war das Elend in Königsberg. Man fraß Hunde, Katzen, Ratten, Viehsalz. Und Menschenfleisch. Von rund 50 000 Verschleppten aus Ostpreußen kehrten die allermeisten nicht zurück. Zu den ersten Errungenschaften der SBZ gehörte die Wiederinbetriebnahme Hitlerscher Konzentrationslager. In elf Todeslagern schmachteten ca. 200 000 Deutsche, von denen ca. 60 000 umkamen, verhungert oder hingerichtet.
Es war ein Vernichtungskrieg aber auch gegen die eigenen Armee. Mit 45 Schützendivisionen, zwei motorisierten und drei Panzerkorps sowie zwei Kavalleriekorps trat die 4. Ukrainische Front am 9. Oktober 1943 zum Sturm gegen die Steppenstellung der 6. Armee am unteren Dnjepr an. Achthundert Panzer, vierhundert Batterien, zweihundert Stalinorgeln. Innerhalb einer Stunde detonieren auf einem Frontstreifen von fünfzehn Kilometern 15 000 Einschläge, pro Meter eine Granate. "Das Angriffsziel ist die Vernichtung der 6. Armee, ist sie geschlagen, steht uns das Tor zur Krim offen", hieß es im Tagesbefehl des Marschalls Tolbuchin. "Dieses Ziel ist kriegsentscheidend, es rechtfertigt jedes Opfer." Eine Lüge und eine Wahrheit. Die Lüge: "kriegsentscheidend." Die Wahrheit: jedes Opfer." Die russische Infanterie stürmte eingehakt mit Urrä. Wurde abgeschlagen. Stürmte von neuem. Zwei Wochen lang. Verwundete, liegengelassen, verbluteten; niemand begrub die Toten; das Einsammeln der Erkennungsmarken, nur Zeitverschwendung. Dreißigmal stürmten die Russen den Eckpfeiler Oktoberfeld, verteidigt von Bayern und Österreichern der 3. Gebirgsdivision. Dreißigmal wurden sie geworfen. Diese Tage gehörten zu den blutigsten des ganzen Krieges. In den Kriegstagebüchern der Regimenter tauchen zwei Begriffe immer wieder auf: "Untergehakt", "eingehakt". Das hatte mit Taktik nichts, mit Mord alles zu tun. Untergehakt in dichtesten Reihen, ohne das eigene Gewehr zu gebrauchen, brüllend und torkelnd ins MG-Feuer hinein, Welle um Welle, das war Stalinsches Gefechtsreglement, laufen und krepieren, im Fallen eine Brustwehr bildend für nachfolgenden Todeskandidaten.
Der Geschichtsrevisionismus der jungen Russen ist ein säkulares Ereignis. Auch deshalb, weil sie Freunde Deutschlands sind, die Hochachtung vor dem Frontsoldaten der Wehrmacht verspüren. Wie denn auch nicht, kämpfte doch die 6. Armee Hollidts in jenem blutigen Oktober dreiundvierzig mit sechseinhalb deutschen Divisionen, ausgebrannt und ohne Auffrischung, gegen sechs Sowjetarmeen, eine zehnfache Übermacht. Das deutsche Ostheer war damals schon eine übernationale Truppe, erfüllt vom Geist des europäischen Antibolschewismus. Im Kessel von Tscherkassy, Februar 1944, stemmten sich 56 000 Mann, Bayern, Badenser, Württemberger, Hessen, Franken, Österreicher, Sachsen, Saarpfälzer, Schlesier Schulter an Schulter mit Flamen, Wallonen, Dänen, Norwegern, Holländern aus den Freiwilligenregimentern der "Wiking", im Troß Zehntausende von russischen und ukrainischen Frauen (auch sie Freiwillige), gegen ein halbes Dutzend anstürmende Stalinarmeen.
Nur der zweite Stauferfriedrich mag solch eine Streitmacht gehabt haben, in der sich Okzident und Orient zur abendländischen Lanzenspitze vereinigten. Im Reichs-Deutschen verschmolz der furor teutonicus mit einem Europäertum, von dem sich die Liberalismuseuropäer um Milchstraßen entfernt haben. Eine Reichsspur glänzte auf im Schneesturm 1944, als eine Panzerdivision mit dem Namen "Hohenstaufen" der eingekesselten 1. Panzerarmee den Weg nach Westen freischlug, an der galizischen Strypa bei Buczacz
Freunde der Deutschen sind heute düun gesät, im nahen Westen wie im nahen Osten. Über die rasende Germanophobie der politischen Klasse Prags braucht kein Wort verloren zu werden, aber vielleicht doch eines über die linksliberale Intelligenzija Frankreichs. Für die jüngst verstorbene Marguerite Duras war es ein "wahnsinniges Verlangen", die deutsche Nation "bis zum letzten Nazi" zu töten. Die Ignorierung, ja Negierung des russischen Revisionismus verurteilt auch die Altkläßler liberalistischer Kriegsursachenforscher in Deutschland zu Obskuranten, eingeschlossen Augstein, Wehler, Jäckel, Fleischhauer, Janßen, Joffe, Hofer, Messerschmidt, Mommsen. In den Staub mit den Feinden des Reiches, allen Feinden Deutschlands und Rußlands.
(Abgeschlossen am 8. März 1996. Für Hinweise, Kopien, Dokumente dankt der Verfasser den Revisionismuspionieren Jonchim Hoffmann, Viktor Suworow alias Resun, Dmitrij Wollogonow (), Anatolij Iwanow, Tamara Buschujezoa, Irina Pawloma, Paul Schmidt-Carell, Adof von Thadden, Heinz Magenheimer, den russischen Kollegen Danilow, Meitjuchow, Doroschenko.)
Quelle: Staatsbriefe 7(4) (1996), S. 9-13