WOLFGANG STRAUSS / ES WAR KEIN ÜBERFALL, ES WAR EIN GEGENANGRIFF (1)

"Wir wollen hoffen, daß es Geschichtsforschem ermöglicht wird, alle Dokumente aus dem Archiv des Zentralkomitees der KPdSU, die sich auf die Zeit zwischen 1939 und 1941 beziehen, komplett einzusehen, und alle Details vom Plan des Überfalles auf Deutschland, den Stalin im Juli 1941 beginnen wollte, zu erfahren", schreibt einer der führenden Revisionisten Rußlands, Prof. Dr. Boris Sokolow. "Hitlers 22. Juni hatte er nicht erwartet, glaubte er doch an die deutsche Desinformation über eine Landung der Wehrmacht auf der britischen Insel im Sommer 1941, wodurch sich, aus der Sicht Stalins, günstige Bedingungen für einen sowjetischen Einfall in Polen und Deutschland ergeben würden." Sokolow zählt zu den Autoren des jüngsten Sammelbandes mit zwölf Beiträgen namhafter Zeithistoriker und Publizisten: G. Bordjugow/W. Neweschin (Hrsg.): "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" (russisch) Verlag der Assoziation der Erforscher der russischen Gesellschaft im 20.Jahrhundert (AIRO XX), Moskau 1995 185 S.

I

Dieses Buch vertieft unsere Kenntnisse über Stalins Vorbereitungen zum militärischen Erstschlag gegen Deutschland, Sommer 1941. Der strategische Aufmarschplan, gebilligt von Stalin am 15. Mai 1941 bei einer Konferenz mit Generalstabschef Schukow und Verteidigungskommissar Timoschenko, sah einen Blitzkrieg vor. Ausbruch der Panzerdivisionen und Mechanisierten Korps aus dem Brester und Lemberger Balkon, mit Vernichtungsschlägen aus der Luft. Der Auftrag bestand in der Eroberung Ostpreußens, Polens, Schlesiens, des Protektorats, letztlich in der Abschnürung Deutschlands vom Balkan und damit vom rumänischen Öl. Lublin, Warschau, Kattowitz, Krakau, Breslau, Prag galten als Angriffsziele. Ein zweiter Angriffskeil zielte auf Rumänien mit der Einnahme von Bukarest.

Erfüllung des Nahauftrages, die Masse des deutschen Heeres vorwärts Weichsel, Narew, Oder zu zerschlagen ("rasgromitj"), bildete die Voraussetzung für den Hauptauftrag, Deutschland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen. Das in Polen und Ostdeutschland stehende Hauptkontingent der Wehrmacht sollte in kühnen Operationen unter weitem Vorantreiben von Panzereinheiten eingekesselt und vernichtet werden. Vier Begriffe tauchen im Mobilmachungsplan vom 15. Mai mehrmals auf, sie enthüllen den Aggressionscharakter der Absichten Stalins: "Überraschungsschlag" ("wnjesapnij udar"), "Vorwärtsentfaltung der sowjetischen Streitkräfte" ("raswertiwannija"), "Angriffskrieg" ("nastupatelnaja woina"), "Überfall auf Deutschland" ("napadenija na Germaniju").

Von 303 an der Westfront zusammengezogenen Divisionen waren 172 für die erste Angriffswelle bestimmt. Eingeplant für die Totalmobilisierung war ein Monat, der Zeitraum 15. Juni - 5.Juli. Michail Meljtjuchow: "Davon ausgehend, erscheint es glaubhaft, daß die Kriegshandlungen gegen Deutschland im Juli beginnen mußten" (S. 106). Im von den Deutschen erbeuteten Stabsarchiv von Generalmajor Iwan Kammanow (62. Schützenkorps) befand sich ein Meßtischblatt mit Angriffsmarkierungen Richtung Berlin; die Geländekarte trug den Stempel vom 28. April 1941 (S. 12).

Ein anderer Schwerpunkt des Sammelbandes ist die Analyse der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941, gehalten vor Absolventen sowjetischer Kriegsakademien. In dieser Rede rechtfertigte Stalin seine außenpolitische Wende im Zeichen des beschlossenen Überfalles auf Deutschland. Aus kommunistischer Sicht sei ein sowjetischer Angriffskrieg ein "gerechter Krieg", denn er diene der Erweiterung des "Territoriums der sozialistischen Welt" und der "Zertrümmerung der kapitalistischen Welt". Wobei es Stalin an diesem 5. Mai vor allem darauf ankam, den, so wörtlich, "Mythos von der unbesiegbaren Wehrmacht" zu entzaubern. Die Rote Armee wäre jetzt stark genug, jeden beliebigen Feind zu schlagen, auch die "scheinbar unbesiegbare Wehrmacht". Gesprochen 48 Tage vor dem Überschreiten von Memel, Bug, Pruth durch eine nur "scheinbar" Unbesiegbare. Der größte Feldherr aller Zeiten (neben Hitler) zeigte sich hier auf dem Höhepunkt seiner Illusionen und Selbsttäuschungen - doch darüber später mehr.

Der strapazierte Begriff "Überfall auf die Sowjetunion" impliziert die Vorstellung eines friedliebenden Stalin, dessen Imperium nichtsahnend von Hitler überfallen wurde. Aus zahlreichen russischen Quellen weiß man aber heute, daß Stalin den Krieg gegen Deutschland noch vor Abschluß des Nichtangriffspaktes geplant hatte (siehe Staatsbriefe 2-3 u. 4/1996: "Der Zweite Weltkrieg begann am 19. August"). "Der Freundschaftspakt mit Deutschland ist abgeschlossen worden, um Deutschland in den Krieg hineinzutreiben und von seiner infolgedessen erwarteten Schwächung zu profitieren", erklärte am 18. September 1941 der führende NKWD-Funktionär Zigunow. "Wenn Deutschland Moskau nicht zuvorgekommen wäre, hätte die Sowjetunion früher oder später angegriffen." (Zitiert nach Johannes Schmoll in der WELT vom 4.Juli 1996.) Man soll also objektiv von einem deutschen "Gegenangriff" reden und nicht von "Überfall" Erhärtet wird die zentrale These von Carl Gustaf Ströhm in einem WELT-Beitrag: "Stalins Strategie für Krieg und Frieden" (16. Juli 1996).

II

Kurze Zeit nur nach dem Einmarsch der Roten Armee in Galizien und Wolhynien (17. September 1939) und dem Erlöschen des letzten militärischen Widerstandes der Polen (6. Oktober) begann Stalin mit den Vorbereitungen zum Überfall auf Deutschland. Als erste Maßnahme wurde die Aufstellung von prokommunistischen polnischen Einheiten angeordnet. Das Reservoir war ja groß, ca. 250 000 polnische Armeeangehörige befanden sich in sowjetischer Gefangenschaft. Auf das Gros der polnischen Offfiziere wollte Stalin allerdings verzichten, aus imperialistischen, ideologischen und biologischen Gründen. Hier liegt der Schlüssel zum Katyn-Verbrechen.

Diesen ziemlich unbekannten Vorgang rekonstruierte Boris Sokolowin dem jüngsten Sammelwerk. Sokolow, ein promovierter Philosoph und Historiker, hauptamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Weltliteratur und Professor an der Akademie für Slawische Kultur, geht dabei von folgender Feststellung aus: "Suworows Hypothese vom geplanten Überfall auf Deutschland am 6. Juli 1941 besitzt heute den Status wissenschaftlicher Wahrheit. Grund hierfür ist die Veröffentlichung von Dokumenten aus dem Archiv des Zentralkomitees der KPdSU über die polnische Anders-Armee in der Zeitschrift 'Neue und neueste Geschichte', Nr. 2 vom Jahre 1993. Niemand schenkte dieser Veröffentlichung besondere Beachtung, auch ich nicht, bis ich vor einem Jahr wieder nach dem Heft griff und mit nicht geringer Erschütterung las, was in dem Protokoll der Politbürositzung vom 4. Juni 1941 steht. Es handelt sich um einen Auszug des Protokolls, gerichtet an Verteidigungsminister Timoschenko. Punkt 183 bekräftigt den Vorschlag an Timoschenko 'im Verband der Roten Armee eine Division aufzustellen, die sich aus Soldaten polnischer Nationalität und Soldaten mit polnischen Sprachkenntnissen zusammensetzt'." (Bestimmt zur Umstrukturierung bis zum 1. Juli 1941 war die in Mittelasien stationierte 238. Schützendivision mit 10298 Mann.)

Am 2. November 1940, also noch vor dem Berlin-Besuch Molotows, hatte Berija Stalin davon unterrichtet, daß das NKWD polnische Gefangene bezüglich ihrer Kriegsbereitschaft überprüft. Wozu ? "Für den Kampf gegen Deutschland unter Führung der Sowjetunion." (S. 24) Sokolow konstatiert: "Die Formierung einer polnischen Division bedeutete nicht nur eine flagrante Verletzung der geheimen Vereinbarung mit Hitler, die Wiedererrichtung eines polnischen Staates nicht zuzulassen, sie mußte Deutschland zu einem Gegenschlag provozieren."

Der Politbürobeschluß vom 4. Juni 1941 und das Berija-Schreiben an Stalin vom 2. November 1940 würden beweisen, so Sokolow, daß Stalin zum Krieg entschlossen war. "Man hat Grund zur Annahme, daß schon zu einer früheren Zeit Pläne zum Überfall auf Polen und Deutschland existiert haben." (S. 25) Sokolow erinnert an Stalins Überfall auf Finnland am 30. November 1939; einen Monat zuvor waren zur "Befreiung Finnlands" eine finnische Division und ein finnisches Korps formiert worden, zwangsaufgefüllt mit Finnen aus Karelien und dem Leningrader Gebiet sowie mit Russen, die einigermaßen das Finnische beherrschten.

Stalins Motive für das Katyn-Massaker muß man heute in einem neuen Licht sehen. Auf einer Versammlung sowjetischer Schriftsteller am 10. November 1939 gab Lew Mechlis, Leiter der Politisch-propagandistischen Hauptverwaltung der Roten Armee, unumwunden zu: "Was die polnischen Offiziere in den Konzentrationslagern angeht, ist an ihre Freilassung nicht zu denken. Sie bekämen sonst Gelegenheit, sich in den Westen abzusetzen, nach Frankreich, um dort die Kader polnischer Legionen zu bilden." (S. 27)

Den Beschluß zur Erschießung der ca. 15 000 polnischen Offiziere faßte das Politbüro am 5. März 1940, vollzogen im April und Mai. "Warum ausgerechnet im Frühjahr 1940", hinterfragt Sokolow. "Hitler liebte die Polen genauso wenig wie Stalin, trotzdem wurden deutscherseits während des ganzen Krieges gefangene polnische Offiziere nicht erschossen. Stalins Handeln erhält nur dann einen logischen Sinn, wenn man seine Annahme berücksichtigt, die von einer deutschen Westoffensive im Sommer 1940 ausging. Während die Deutschen an der Maginotlinie kämpften, wollte er gegen Polen und Deutschland losschlagen, Berlin erobern, das Reich zerschmettern." (S. 25) Dazu hätte Stalin eine polnische Armee gebraucht, nur: die in den Lagern zusammengepferchten Offiziere der alten Pilsudski-Armee mit ihrer fanatisch antikommunistischen Einstellung waren ein Klotz am Bein, also mußte man das Bein abschlagen, rechtzeitig vor Hitlers Westfeldzug. "Die Erschießung der Offiziere mußte spätestens im Frühjahr 1940 stattfinden - nach Beginn der antideutschen Offensive wäre es zu spät gewesen."

Für Stalins Offensivplanung war die Ausgangslage äußerst günstig. Juni 1940 befanden sich in Polen und Ostdeutschland ca. fünfzehn Infanteriedivisionen, die meisten nicht vollständig und, so seine Annahme, von geringer Kampffähigkeit. "Stalin dagegen verfügte über eine Millionenarmee, die eben erst den Krieg gegen Finnland beendet hatte, außerdem über zig Divisionen in Weißrußland und der Ukraine", liest man bei Sokolow. "Im April und Mai wurde vom Generalstab ein strategischer Aufmarschplan für einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Warschau und Ostpreußen ausgearbeitet, wobei man davon ausging, daß die Deutschen für ihre Abwehrmaßnahmen zehn bis fünfzehn Tage benötigen würden. Im sowjetischen Generalstab rechnete man damit, daß Hitler für den Westfeldzug sämtliche Reserven einsetzen würde, ohne eine Entscheidung herbeiführen zu können. Stalin konnte also Mitte oder Ende Juni zu einem vernichtenden Schlag ausholen und jene nur symbolischen Verteidigungskräfte ausschalten, die Hitler im Osten zurückgelassen hatte, in ihrem Kampfwert mit den finnischen Divisionen nicht zu vergleichen, dazu noch ohne starke Befestigungsgürtel. Nicht zufällig befehligten Anfang Mai kriegserprobte Sowjetgeneräle die Truppen in der Ukraine und Weißrußland, Georgij Schukow und Dmitri Pawlow, während Marschall Timoschenko, der im Finnland-Krieg die Sowjetarmeen kommandiert hatte, Verteidigungskommissar wurde." (S. 26)

Alle diese Pläne hätte Hitler über den Haufen geworfen, als er am 10. Mai seine Offensive im Westen startete, schreibt Sokolow. "Innerhalb weniger Tage trieb er die Franzosen auseinander und vertrieb die Briten vom Kontinent. Aus war's mit Stalins Plan, in Polen und Deutschland einzufallen; statt dessen begnügten sich seine Divisionen mit der Besetzung des Baltikums, Bessarabiens und der Nordbukowina. 'Wer konnte schon voraussehen, daß die Deutschen nur etwas mehr als zwei Wochen benötigen würden, um das Gros der französischen Streitkräfte zu vernichten', sollen, nach Aussage des Augenzeugen L. Sandalow, die sowjetischen Militärexperten damals, sichtlich geschockt, erklärt haben. Und man beschloß, daraus Lehren zu ziehen und einen neuen Offensivplan sorgfältiger in Angriff zu nehmen." Als Fehler hätte sich erwiesen, nicht auch rumänische, tschechoslowakische, ungarische Einheiten parallel zur polnischen Division aufzustellen - "und sogar eine deutsche Division, wollte man doch auch Deutschland 'befreien'."

Es verging ein knappes Jahr, bis Stalin mit einem neuen Plan zum Überfall auf Deutschland herausrückte; die politische Ouvertüre bildete seine Rede vom 5. Mai 1941. Stalin sprach vor Absolventen der Kriegsakademien. Nach der Ansprache forderte ein Panzergeneral die Anwesenden auf, das Glas auf die "friedliche Außenpolitik Stalins" zu erheben. Stalin berichtigte ihn. Notwendig sei es gegenwärtig, von der Verteidigungsdoktrin zu einer, so wörtlich, "Kriegspolitik der offensiven Handlungen" überzugehen und die Rotarmisten durch Propaganda und Agitation in einem "Angriffsgeist" zu erziehen. Für die propagandistische Umschaltung auf Krieg gebrauchte Stalin den Begriff "Perestroika".

Damit waren die Weichen gestellt. Stalins Worte galten als Befehl. Die Perestroika-Maschinerie begann auf Hochtouren zu laufen. Die erste Direktive, bestimmt für Politkommissare, jüngere Kommandeure und Inspektoren, lag bereits am 14. Mai vor: "Über die Aufgaben der politischen Propaganda in der Roten Armee für die nächste Zeit." Ausgearbeitet wurden die Kriegsvorbereitungsdirektiven vom Hauptkriegsrat (GWS), der Verwaltung für Propaganda und Agitation im Zentralkomitee (UPA), der Hauptverwaltung Politische Propaganda der Roten Armee (GUPPKA). Zum engeren Kreis der Befehlsgeber und Autoren gehörten die "eisernen" Ideologie-Mitarbeiter Stalins - Schdanow, Malenkow, Schtscherbakow, Alexandrow, Saporoschez, Mitglieder des Politbüros bzw. Kandidaten für das Politbüro. Die Sitzungen jagten sich.

III

Besondere Bedeutung kam der im Juli 1940 gegründeten 7. GUPPKA-Abteilung zu, verantwortlich für die Propaganda in Bevölkerung und Armee des Feindes, und der hieß Germanija. Am 15. Mai 1941 bestand dieser Apparat aus 104 Spezialisten, von denen jedoch nur 17 die deutsche Sprache kannten, davon vier "choroscho" (gut). Ein Spezialdossier "Deutschland und die Wehrmacht" ("politisch-moralischer Zustand der deutschen Armee") war Ende Mai fertig; verkürzt auf 35 Schreibmaschinenseiten, ging der Bericht am 9. Juni in Druck, bestimmt zunächst für alle höheren Truppenführer einschließlich der stellvertretenden Divisionskommandeure, später dann auch für die Armee-Presse. Vorangestellt wurde der vorhin genannten Direktive ein Satz: "Alle Formen der Propaganda, Agitation, Erziehung dienen einem Ziel - Führung eines gerechten, offensiven, zermalmenden Krieges." Insbesondere ging es darum, die Gründe für die militärischen Erfolge Deutschlands und die Niederlage Frankreichs aus marxistisch-leninistischer Sicht zu erläutern und die in der Roten Armee weit verbreitete Meinung, die deutsche Armee sei "unbesiegbar", auszumerzen. Stalins Ausspruch vom "Übergang zu einer Kriegspolitik der offensiven Handlungen" wurde wörtlich verstanden, buchstabengetreu in die Tat umgesetzt.

Das war wiederum so neu nicht. Auf einer Schriftstellertagung am 25. Juni 1940 hatte der Chefredakteur des Armee Zentralorgans Krassnaja Szorsda (Roter Stern), E. Boltin, die Doktrin des Erstschlages, das heißt das Prinzip des Angriffskrieges, so verteidigt: "Wir müssen bereit sein, als erste loszuschlagen, und nicht abzuwarten, bis man uns einen Schlag versetzt… Unsere Menschen müssen in dem Bewußtsein erzogen werden, daß die Rote Armee ein Instrument des Krieges ist, nicht aber ein Instrument des Friedens. Unseren Menschen muß eingehämmert werden, daß der kommende Krieg mit einem beliebigen kapitalistischen Staat ein gerechter Krieg sein wird, unabhängig davon, wer den Krieg beginnt."

Am 20. November 1940 erklärte in Leningrad Andrej Schdanow, laut Stalin der erste "nadsiratelj" (Aufpasser) in Sachen Ideologie, die territoriale Ausweitung der UdSSR durch Krieg zum A und O sowjetischer Offensivstrategie: "Die Politik eines sozialistischen Staates besteht darin, seine Vergrößerung anzustreben, die Position des Sozialismus zu verbreitern, überall, wenn die Umstände dazu günstig sind… Wir sind erstarkt. Die Kriege mit Polen und Finnland waren nicht Verteidigungskriege. Beschritten haben wir den Weg einer angreifenden Politik. Das Volk muß im Geist eines kriegerischen Angriffs erzogen werden."

Schlüsselsätze, die Stalin am 9. September 1940 auf einer ZK-Sitzung, im Rückblick auf die Einverleibung des Baltikums, Galiziens und Bessarabiens, so ausdrückte: "Vom Standpunkt des Kampfes zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus ist sie (die Einverleibung) ein gewaltiges Plus, weil wir damit die Front des Sozialismus erweitern und die Front des Kapitalismus eindrücken."

Der Historiker Wladimir Neweschin, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Russische Geschichte, der diesen Komplex in seinem Beitrag "Der Auftritt Stalins am 5. Mai 1941 und der Wechsel in der Propaganda" behandelte, analysierte die auf Krieg und Aggression ausgerichteten Direktiven für die Rote Armee. Der Vorrang der militärischen vor der politischen Ratio sei eindeutig; im Kriegsdenken, in der Expansions- und Unterwerfungsstrategie enthülle sich Stalins neuer Kurs. "Die Direktive 'Über die Aufgaben der politischen Propaganda der Roten Armee für die nächste Zeit' zielte auch auf die Ausmerzung pazifistischer Stimmungen unter Rotarmisten und sogar Kommandeuren, da sie die Vorbereitungen für einen Angriffskrieg behinderten", urteilt Neweschin.

Der immer wiederkehrende Begriff "Feind" ("wrag") sei keineswegs abstrakt gewesen; sowohl in der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941 wie in den nachfolgenden Prop-Direktiven tauche dieser Begriff in Verbindung mit Deutschland auf ("Germanija"). "In seiner Rede vom 5. Mai 1941 charakterisierte Stalin die Wehrmacht als potentiellen Feind der Roten Armee, versuchte jedoch gleichzeitig, die militärischen Fähigkeiten der Wehrmacht herabzuwürdigen, indem er behauptete, die deutsche Armee hätte ihren Elan verloren, statt dessen würden sich 'Prahlerei, Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit' breitmachen. Und obwohl Stalin auch von Mängeln und Fehlern hinsichtlich der Kaderausbildung in der Roten Armee sprach, lag der Hauptakzent in den Prop-Direktiven vom Mai/Juni 1941 auf der Kritik an der Wehrmacht. Mit besonderer Offenheit bezüglich der Unausweichlichkeit eines Krieges der UdSSR speziell mit Deutschland und der Notwendigkeit, gegen Deutschland einen Angriffskrieg zu führen, war im Bericht 'Die aktuelle internationale Lage und die Außenpolitik der UdSSR' die Rede" (S. 160).

Dieses Grundsatzpapier, bestellt von der 7. Abteilung GUPPKA als Argumentationsbasis für weitere Kriegsvorbereitungsdirektiven, beantwortet die Frage, wer nun 1941 der Primäraggressor war, eindeutig. Bis heute haben westliche Geschichtsforscher von diesem Dokument keine Kenntnis nehmen können. Die Schwerpunkte des GUPPKA-Papiers, im russischen Buchtext S. 160 ff.:

1. Entlarvung des in Teilen der Roten Armee grassierenden Mythos von der unschlagbaren Wehrmacht, wörtlich: "Unter Rotarmisten, Kommandeuren und Politarbeitern besteht die unrichtige Vorstellung von einer angeblich unbesiegbaren deutschen Armee. Der Wehrmacht muß der Nimbus der Unbesiegbarkeit genommen werden."

2. Der Nichtangriffspakt war keine sowjetische Niederlage, er verbesserte die Chancen für einen Krieg gegen Deutschland. Der Krieg mit dem Hauptfeind wurde durch den Pakt nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.

3. Die Erfolge der Wehrmacht im Westen sind darauf zurückzuführen, daß die Deutschen es mit einem Gegner zu tun hatten, der ihnen technisch, taktisch und zahlenmäßig unterlegen war.

4. Die Rote Armee ist der Wehrmacht in jeder Hinsicht haushoch überlegen, in der Zahl der Truppenverbände, in der Kampfbereitschaft, der waffentechnischen, taktischen und strategischen Ausbildung. Beim bevorstehenden Krieg wird es die Wehrmacht mit einem Feind zu tun haben, den sie bisher nicht gekannt hat. Wörtlich: "Dieser Krieg steht vor der Tür." Und unter Berufung auf ein Lenin-Zitat vom 26. November 1920: "Woraus folgt, daß nun der Moment gekommen ist, den ganzen Kapitalismus zu zerschlagen und ihn an der Gurgel zu packen."

5. Das offene Bekenntnis zu einem militärischen Überfall auf Deutschland ging dem Leiter der Verwaltung Propaganda und Agitation beim Zentralkomitee zu weit, aus geheimdienstlichen wie psychologischen Gründen. Georgij Alexandrow versah den Textentwurf an dieser Stelle mit der handschriftlichen Notiz: "Solch eine Formulierung darf nicht gedruckt werden, sie würde bedeuten, daß wir dem Feind unsere Karten frühzeitig aufdecken" (Im Buch erscheint der Alexandrow-Satz in Fettdruck).

6. Die Kriege im Westen lehren, daß eine reine Verteidigungsstrategie gegen eine supermotorisierte Truppe zur Niederlage verurteilt ist. Wörtlich: "Gegen Deutschland muß eine von mächtiger Kriegstechnik unterstützte Angriffsstrategie angewandt werden." G. Alexandrow bemerkte dazu: "Woina s Germanijej". Krieg mit Deutschland.

Die deutsche Armee habe ihren Kampfelan - oder Schneid - eingebüßt, meinte Stalin am 5. Mai 1941 (acht Wochen vor dem deutschen Panzerraid zur Düna und Beresina). Ihre bisherigen Erfolge verdankten die Deutschen allein dem Umstand, daß ihre Gegner Söldner des Kapitalismus, nicht Soldaten des Sozialismus gewesen seien, argumentierte die ZK-Hauptverwaltung Propaganda/Agitation (acht Wochen vor der massenhaften Kapitulation sozialistischer Soldaten im Minsker Kessel). Der Wehrmacht vom Frühjahr 1941, die gerade in Blitz-Feldzügen Jugoslawien, Griechenland und Kreta erobert hatte, "Prahlerei, Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit" (O-Ton Stalin: "chwastowstwa, samodowoljstwa, sasnajstwa") zu bescheinigen, zeugt entweder von totalem Realitätsverlust oder von gigantischer Desinformazija.

Wirklichkeitsleugnung oder Lüge? Die Wahrheit indes ist eine andere. Sie heißt Furcht. Furcht davor, daß der Rotarmist die sieggewohnte Armee des Hauptfeindes tatsächlich als eine "unbesiegbare" ("njepobedimaja") einstuft und daher einen Kampf gegen Deutschland von vornherein für verloren hält. Ein Nimbus der Unbesiegbarkeit, an den, wie GUPPKA offen zugibt, auch Offiziere, Truppenkommandeure und sogar Politfunktionäre glauben. Dieses Phänomen jedoch ist nicht militärisch zu erklären, sondern nur psychologisch und moralisch. Also ein Politikum. Warum glaubten Rotarmisten des Jahres 1941 an die Unbesiegbarkeit der Wehrmacht, wollten sie gar, so aberwitzig die Frage klingen mag, von den Deutschen besiegt werden, und wenn ja, warum eigentlich?

Es ist das Manko dieses verdienstvollen, bahnbrechenden russischen Revisionismuswerkes, daß kein einziger Beitrag dem innenpolitischen Zustand der Sowjetunion am Vorabend des sowjetisch-deutschen Krieges gewidmet ist. Keine Analyse der Sowjetgesellschaft, kein Kollektivpsychogramm der Menschen in Stalins Staat, keine Untersuchung der vorangegangenen Blutbäder, mit denen der Bolschewismus das russische Volk und die sowjetischen Kolonialvölker nach 1917 überzogen hatte. Nicht einmal der Versuch einer Beantwortung der Frage, warum im Juni und Juli weißrussische, ukrainische, litauische, lettische Bäuerinnen die faschistischen Invasoren mit Salz und Brot und Christuskreuz begrüßt hatten. Warum?

Der vierjährige Bürgerkrieg nach einem dreijährigen Weltkrieg, der von Lenin und Sinowjew proklamierte und bis zur hunderttausendfachen Geiselerschießung durchexerzierte Rote Terror von 1918, die Massaker von Kronstadt und im Bauerngouvemement Tambow, die Hungersnot der frühen zwanziger Jahre mit Millionen von Leichen, die Ausrottung des Adels und das permanente terroristische Attentat auf Intelligenz, Bürgertum, Bauerntum, Kosakenschaft, die Bauernlegung im Zuge der Kollektivisazija mit allein sieben Millionen Hungeropfern in der Ukraine, Schauprozesse und "Konzentrationslager" (mit genau dieser Bezeichnung, bevor man in den Dreißigern die Todesfabriken als "Arbeitserziehungslager" ausgab), die Holocausthöllen Weißmeerkanal, Kolyma, Workuta, die Metastasen des Gulagismus bis fast in jede Familie hinein, die Greuel von Tscheka, OGPU, GPU, NKWD, die seelische Erniedrigung und materielle Not, die Ausrottung der Kirche, des Glaubens, der bodenständigen Traditionen, die Blutigen Dreißiger - welches Volk wäre da willens gewesen, für den institutionalisierten Wahnsinn das eigene Leben zu opfern?

Das russische Volk nicht, die verkolonialisierten Nichtrussen sowieso nicht. Mußte da nicht jeder Eroberer als Befreier erscheinen? Im Frühjahr 1941 war der GULag-Staat reif für eine antibolschewistische Völkerrevolution. Ein Krieg bedeutete die günstigste, historisch einmalige Gelegenheit, die Ketten zu sprengen. Mochten die Politkommissare noch so viel von den Mängeln, Bruchstellen des äußeren Feindes reden, der einfache Mann wollte es einfach nicht glauben, daß die Armee des potentiellen Befreiers seinen militärischen, geistigen Kampfgeist verloren habe (Welcher russische Bauer, welcher russische Proletarier kannte am 22. Juni 1941 Hitlers Kolonialismuspläne? Die stehen leider auf einem anderen Blatt der Geschichte des deutsch-russischen Krieges).

Über den politisch-psychologischen Zustand der UdSSR-Bevölkerung im Jahre einundvierzig verlieren die Autoren des hier erwähnten Buches kein einziges Wort, nicht im Ansatz eine Bestandsaufnahme, von einem innenpolitischen Situationsbefund ganz zu schweigen. Ähnlich wie die sowjetnostalgischen Konterrevisionisten definieren auch sie die Niederlagen der Roten Armee im Schicksalsjahr 41 rein militärisch. Der Clausewitz des russischen Revisionismus hat sich noch nicht zu Wort gemeldet.

Ob aus Realitätsblindheit, bewußter Täuschung oder aus Angst, man fuhr fort, den Rotarmisten ein Wehrmachts-Bild einzutrichtern, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hatte. Nicht nur, daß sie die Wehrmacht als mittelmäßig, eitel, arrogant karikierten, man behauptete allen Ernstes, 50 Prozent der deutschen Soldaten wären potentielle prokommunistische Deserteure, die Truppendisziplin wäre zum Teufel gegangen, von Kampfgeist keine Spur mehr, "amoralische Erscheinungen" unter Mannschaften und im Offizierskorps hätten Massencharakter angenommen. So in den Lageberichten, Direktiven, Denkschriften, Presseartikeln der 7. Abteilung, die damals von einem gewissen Bernikow geleitet wurde. Selbst nach Ausbruch des Krieges, am 2. Juli, als bereits ca. 300 000 Rotarmisten zu den "Gitlerowzis" übergelaufen waren, hießen die GUPPKA-Themen, bestimmt zur sieghaften Aufklärung flüchtender Rotarmisten: "Terrorregime in der deutschen Armee", "Revolutionäre Stimmung in der Wehrmacht". Stalin und der Generalstab ließen diesen Irrsinn in Druck gehen (S. 163)!

Die antigermanistische Propaganda steigerte sich im Mai und Juni zu noch nie dagewesenen Salti. Nicht nur antifaschistisch - antideutsch! Neweschin: "Die Artikel in der sowjetischen Presse waren an eine konkrete Adresse gerichtet - Berlin." Antideutsche Filme wie "Professor Mamlock" (nach Friedrich Wolf) und "Familie Oppenheim" (nach Lion Feuchtwanger) überfluteten die Kinos. Stalin gestattete den Druck des dritten Teils von Ehrenburgs "Der Fall von Paris ".

Alle Direktiven der propagandistisch-pädagogischen Kriegsvorbereitung im Mai und Juni 41 hätten einen Begriff ausgeklammert: "Oborona" ("Verteidigung"), resümiert Neweschin. "Im Gegenteil, sämtliche Direktiven legten den Hauptakzent auf 'napadenije' ('Überfall'), mit der Begründung, daß die UdSSR verpflichtet sei, die Initiative an sich zu reißen und den Erstschlag zu führen, einen Angriffskrieg zu eröffnen mit dem Ziel, die Grenzen des Sozialismus nach Westen auszuweiten. Dabei sollte die militärische Kraft der Wehrmacht als gering eingeschätzt, die militärische Überlegenheit der Roten Armee als Siegesfaktor aufgewertet werden. Unterstrichen wurde in allen Direktiven, daß die Rote Armee kein Instrument des Friedens, sondern des Krieges ist, folglich alle 'pazifistischen' Tendenzen innerhalb der Truppe schärfstens zu verurteilen sind" (S. 167).

Zwischensspiel

Damit mußte gerechnet werden - mit einem Konterschlag der alten Schule. Er kam nicht aus Bielefeld und Hamburg. Er kam nicht aus Moskau. Er kam aus Tel Aviv - es erhellt, daß jenes Dogma vom deutschen Überfall für andere Mächte noch wichtiger ist als für die Russen und die Deutschen. Gabriel Gorodetsky, für russische Zeitgeschichtler ein nobody, vom weitgehend unbekannten Cummings-Institut, behauptete in der WELT vom 31. August, Stalins Rede vom 19. August 1993 sei eine französische Fälschung. Indes ihr Entdecker ist selbst ein Fälscher: erlegte das Falsifikationsdatum auf den 23.12. fest, während die Agentur Havas über den Text schon im September 1939 berichtete - womit sein Beitrag wie ein Kartenhaus einstürzt. Wir kommen auf diesen Fall im nächsten Heft ausführlich zurück.


Quelle: Staatsbriefe 7(8) (1996), S. 12-16


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