BECKSTEINS BÖSE MÄRCHEN

Es gibt ein Bayerisches Staatsministerium des Innern, und es gibt eine Broschüre mit dem Titel "Revisionismus". Beides ist identisch, leider, denn besagtes Pamphlet, als "Informationsschrift" deklariert, der politischer Desinformation dienend, wurde vom Münchner Innenministerium herausgegeben. Den Gipfel von Inhaltsverfälschung, Geschichtsklitterung und persönlicher Verleumdung stellt die Behauptung dar, ich ließe eine "antisemitische Grundhaltung" erkennen (S. 35).

Wußte Staatsminister Günther Beckstein, Jurist und Synodale der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, von den ehrabschneidenden Passagen? Kannte er überhaupt das Machwerk? In einem Brief vom 9. Juli 1996 bat ich Beckstein, die inkriminierenden Zeilen schwärzen zu lassen, nachdem ich ihn, den Nichthistrinker, über den fundamentalen Unterschied zwischen Revisionismus und Apologie aufgeklärt hatte.

Was sei "antisemitisch" an meinem Staatsbriefe-Artikel in Heft 3-4/1996, fragte ich; aus diesem Text würde ja das genaue Gegenteil sprechen. Meine Argumente: "Indem ich den judenfeindlichen Weltverschwörungswahn eines Teiles der extremen russischen Rechten kritisiere, geißele, entlarve, weise ich nach, daß für das Ökonomische und politische Chaos in Rußland ausschließlich russische Politiker die Verantwortung tragen. Dies trifft auch und vor allem auf Jelzins blutiges Kaukasus-Abenteuer zu, den verbrecherischen Krieg gegen das freiheitsliebende kleine Volk der Tschetschenen führen russische - nicht jüdische! - Generäle, Geheimdienstler, Mafiosi, Publizisten, nachzulesen auf den Seiten 13, 15, 16, 17 meines Staatsbriefe-Artikels." Die Verfasser der dubiosen Broschüre seien mir nicht bekannt, jedoch: "Sie, verehrter Herr Beckstein, gehören jedenfalls nicht dazu. Aber solche Aussagen wie die auf den Seiten 34 bis 36 erzeugen ein Klima der Verdächtigungen und der Intoleranz. Mit einem Wort: demokratiefeindlich. Soll ich bei meinem nächsten Solschenizyn-Besuch dem tapferen Russen klagen, daß im Lande eines Franz-Josef Strauß in Sachen Geschichtsevisionismus so etwas wie Zensur existiert? Der Kämpfer wider die sowjetische Zensur wird mich nicht verstehen."

Und ich füge noch hinzu: "Staatsbriefe zählen zu den wenigen deutschen Periodika, die von wissenschaftlichen, philosophischen, publizistischen Kreisen in Rußland und insbesondere von russischen Zeithistorikern aufmerksam gelesen, studiert, diskutiert werden, und nicht nur in Geschichtsfakultäten der Universitäten. Die Vertiefung der deutsch-russischen Freundschaft auf der Basis der geschichtlichen Wahrheit und in der Erkenntnis, daß die von Hitlerismus und Stalinismus verursachte Entfremdung zwischen Deutschen und Russen nur gemeinsam überwunden werden kann, ist ein Hauptanliegen der Staatsbriefe. Empfehlen möchte ich Ihnen diese Zeitschrift zur privaten Lektüre. Es lohnt sich."

Statt des Ministers reagierte ein Untergebener (der "Revisionismus"-Verfasser?), ohne auf meine Fragen und Hinweise, meine Kritik einzugehen. Schlimmer als Klitterung ist Ignoranz. Am Odeonsplatz argumentiert man nicht, man ukasiert, diktiert Versatzstücke und Prop-Phrasen, wie beispielsweise mit den Sätzen: "Die Bewertung, daß der von Ihnen verfaßte Beitrag in der Schrift 'Staatsbriefe' eine antisemitische Grundhaltung erkennen läßt, beruht auf sachgerechten Erwägungen und ist auch nachvollziehbar."

Belege fehlen ebenso wie sachlich nachprüfbare Gegenargumente. Denn nachvollziehbar ist das nicht. Es bleibt bei politischer Zensur. "Ihr Ansinnen", verkündet Ministerialrat Popp am 3. September, "Teile unserer Broschüre schwärzen zu lassen, ist demnach nicht begründet. Die Schrift ist außerdem bereits vergriffen." Wenn vergriffen Reißwolf bedeutet, wäre das eine frohe Botschaft in der schlechten Botschaft, und der Minister bräuchte nicht zu fürchten, eines jüngsten Tages von seinem religiösen Idol mit einem vollen Faß von Tinte beworfen zu werden.

Was den Kreuzzug gegen revisionistische Geschichtsforscher in Deutschland angeht, wird man an die reaktionärste Epoche in der Romanow-Dynastie erinnert, die unter Zar Nikolaus I., im Volk "Nikolaj palkin" genannt (Nikolaus der Knüppel). Da wurde per Ukas an allen russischen Schulen verboten, die Lehren des Kopernikus und Newton vorzutragen, weil sie den "ewigen Wahrheiten" der rechtgläubigen Kirche widersprächen; verbotenerweise drehte sich die Erde jedoch weiter um die Sonne. 1840 hat Unterrichtsminister Uwarow die Zahl der Studenten an jeder Universität auf dreihundert beschränkt, "um die Ordnung der staatstragenden Stände nicht zu erschüttern".

Exakt 156 Jahre später schreibt mir ein leitender Beamter des Bayerischen Staatsministenums des Innern, Revisionismus sei sui generis "rechtsextremistisch", weil er, so ein Ukas der bayerischen Obrigkeit, eine Aufwertung der NS-Zeit bezwecke. Und wieder soll sich die Sonne um die Erde drehen. Eigentlich müßten Vertrieb und Verkauf des Neuen Deutschland in Bayern verboten werden, behauptet doch im PDS-Blatt der polnische Historiker Eugeniusz Guz, Polen sei 1939 von den Briten regelrecht verkauft und verraten worden, wörtlich: "In London war man gar nicht daran interessiert, daß Polen nach einem Überfall Hitlerdeutschlands lange Widerstand leisten kann. Wie sollte man sonst u. a. auch die Tatsache werten, daß z. B. die Rumänen von den Briten 5,5 Millionen Pfund geliehen bekamen, China zur gleichen Zeit ein Kredit von 500 Millionen Pfund versprochen wurde? Polen sollte durch Hitler schnell geschluckt werden. Man hoffte auf einen baldigen Zusammenstoß zwischen Hitler und Stalin, und Polen war als Opferlamm auserkoren." (Unter der Überschrift "Die Haltung der Westmächte 1939. Freigiebig für Hitler, geizig für Polen" im Neuen Deutschland vom 31. August 1996 erschienen.)

Zurück zum reaktionären Obrigkeitsstaat Bayern. Leitender Ministenalrat Popp meint bezüglich des Antisemitismus, den mir niemand mit Fug und Recht vorwerfen kann, es wäre eine bei Rechtsextremisten häufig geübte Methode, judenfeindliche Äußerungen Dritter zu zitieren und sie auf die Weise als Mittler einer antisemitischen Botschaft zu nutzen, "ohne sich ausdrücklich mit den gebrauchten Zitaten zu identifizieren". Was für ein Glück doch für den deutschen Juden Karl Marx, daß ich aus seiner programmatischen Schrift "Zur Judenfrage" nicht zitiert und die philosophische Judaismuskritik des Sachsen Friedrich Nietzsche nicht erwähnt habe. Dostojewskijs "Tagebuch eines Schriftstelers" und Solschenizyns Roman-Zyklus "Das Rote Rad", aus meinem "rechtsextremistischen" Gedächtnis verbannt. Wirklich schade, daß es keinen Nachfolger Kurt Tucholskys gibt, er hätte Stoff für mehrbändige Satire.

Jenen christlichen Ministerialbeamten am Odeonsplatz, die da immer noch glauben, die Sonne drehe sich um die Erde, empfehle ich als Abendlektüre vor dem Nachtgebet Bert Brechts "Der Zweifler", geschrieben im Todesjahr des antifaschistischen Dichters, 1956. "ich zweifle, ob die arbeit gelungen ist, die eure tage verschlungen hat. ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige wert hätte. (…) ob es nicht viel-deutig ist, für jeden möglichen irrtum tragt ihr die schuld, es kann auch zu eindeutig sein und den Widerspruch aus den dingen entfernen. (…) sind die sätze, die vor euch gesagt, gut benutzt, wenigstens widerlegt? ist alles belegbar durch erfahrung? durch welche?"

Belegbar durch Erfahrung, aber durch welche? Brechts Zweifel war ja nicht nur an Stalinisten adressiert. Stalinist ist zum Synonym für den Unbelehrbaren geworden, den Blinden, den Betonkopf. Am Münchner Odeonsplatz zweifelt niemand an den "Erfahrungen" stalinistischer Antifaschistik oder linksliberaler Konterrevisionisten. Von der Geschichtsignoranz zur Volksverdummung und weiter zur wirklichen Volksverhetzung ist nur ein kurzer Weg.

Wolfgang Strauss


Quelle: Staatsbriefe 7(9-10) (1996), S. 67f.


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