WOLFGANG STRAUSS / ES WAR KEIN ÜBERFALL, ES WAR EIN GEGENANGRIFF (II)
"Warum werden bis heute nicht alle Geheimnisse gelüftet und alle Depots geöffnet"-fragt die Frankfurter Allgemeine am 10. Juli 1996. Gegenfrage: Warum werden die bereits gelüfteten Geheimnisse in der FAZ nicht veröffentlicht?
Das trifft beispielsweise auf das russische Geschichtswerk "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" zu, erschienen 1995 in Moskau. Revidiert wird hier die Legende vom unprovozierten deutschen Überfall auf die friedliebende, ahnungslose UdSSR. Stalins Drang nach Westen zur Sowjetisierung Zentraleuropas war ebenso groß wie Hitlers Lebensraum-Drang nach Osten. Daß von einer Alleinkriegsschuld Deutschlands nicht die Rede sein kann, daß Stalin eine Hauptschuld am Zweiten Weltkrieg trägt, russische Zeithistoriker (Antifaschisten!) beweisen es anhand von Dokumenten, ausgegraben aus Archiven des Zentralkomitees der KPdSU, des militärischen Geheimdienstes GUR und der Agitprop-Hauptverwaltung der Roten Armee. Mit Prämien für "mutige Journalistik" geizt die politische Klasse nicht. Den mit 15 000 Mark dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik erhielt im Juli SZ-Redakteur Heribert Prantl (was eigentlich hat dieser Geheimpolizist mit Literatur zu tun?), und im Juni wurde der frühere FAZ-Herausgeber Joachim Fest um 40 000 Mark reicher, gestiftet von der Ludwig-Börne Jury. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, einigen mutigen Autoren des genannten russischsprachigen Sammelbandes finanziell und moralisch unter die Arme zu greifen, einem Boris Sokolow zum Beispiel, oder Wladimir Neweschin, Valerij Danilow, Boris Petrow, Michail Meljtjuchow, Wladimir Doroschenko, einer Tatjana Buschujewa, Irina Pawlowa? Setzen wir unsere Revue dieses Bandes fort.
IV
In einem dreispaltigen Leserbrief in der Leipziger Volkszeitung vom 22./23. Juni 1996 verteidigte Militärhistoriker Dr. Dieter Kürschner noch die altbekannte KPdSU-These, wonach Stalin die Deutschen niemals zu einem Krieg provoziert hätte, da es sich beim offensiven Aufmarschplan der Roten Armee vom 15. Mai 1941 nur um ein "Planspiel" gehandelt habe, quasi eine "Pflichtaufgabe" des Generalstabs. Daß es sich um einen Aggressionsplan, einen Überfall handelte, wies anhand bisher geheimer Archivdokumente Oberst Boris Petrow und Oberst Valerij Danilow auf den Seiten 66 bis 91 des Sammelbandes nach. "Über Barbarossa wissen wir viel, doch bedauerlicherweise wenig über die sowjetischen Kriegsvorbereitungen im Jahre 1941", konstatiert Petrow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriegshistorischen Institut des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. "Lange Zeit erklärte man die Niederlagen der Roten Armee in der Anfangsphase des Krieges mit den Überraschungsschlägen des Aggressors, der hinsichtlich der Kriegstechnik und Kampferfahrung der Roten Armee überlegen gewesen sei. Doch die wahren Gründe sind andere." Lange vor dem Nichtangriffspakt und auch danach wurden vom Generalstab militärische Offensivpläne mit Überfallcharakter ausgearbeitet, diskutiert, Stalin vorgelegt. Kriegsvarianten unter dem Stichwort "Grundlagen der strategischen Entfaltung der Roten Armee", so im März 1938, am 13. November 1938, Mitte 1940. Die am 18. September 1940 Stalin und Molotow unterbreitete Variante, unterschrieben von Marschall Wassilewskij, dem damaligen stellvertretenden Chef der Operativ-Abteilung im Generalstab, ging bereits ins Detail: Offensivschläge der Panzertruppen von Brest-Litowsk aus in südlicher Richtung (Lublin, Krakau, Breslau) und nach Norden (Ostpreußen). Von Stalin eingesehen und gebilligt zwei Monate vor dem Berlin-Besuch Molotows. Das Ziel bestand a) in der Vernichtung ("poraschenije") der Hauptkräfte der deutschen Armee in Polen und Ostdeutschland, b) in der Abschnürung Deutschlands von den Balkanländern (S. 67).
Im Mittelpunkt derPetrowschen Analyse steht derAggressionsplan vom 15. Mai 1941, im sowjetischen Klartext: "Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion bei einem Krieg mit Deutschland und seinen Verbündeten", unterzeichnet von Verteidigungsminister Timoschenko und Generalstabschef Schukow. Stalin billigte diesen Plan. Historiker Petrow entdeckte die Unterlagen im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. Aus den Dokumenten gehe eindeutig hervor, schreibt Petrow, daß die "Sowjetführung eine Angriffsfront formierte" ("nastupatelnaja gruppirowka"). Der Hauptstoß sollte aus dem Raum Kiew-Lemberg erfolgen, mit sechs Mechanisierten Korps, denen ca. 4 200 Panzer - darunter 761 supermoderne T 34 und überschwere Klementij Woroschilow (KW) - zur Verfügung standen. An der Mittelfront bei Bialystok und Minsk wurden ebenfalls sechs Panzerkorps zusammengezogen.
Der Direktive vom 15. Mai folgte die Verwirklichung, unter anderem in der Sofortmobilisierung von 800 000 Reservisten und in der Westverschiebung von 28 Schützendivisionen und zehn Armeen, darunter die Elite-Armeen 13, 16, 19, 21, 22 (S. 69). Stalin war zum Erst- bzw. Überraschungsschlag entschlossen. Bis zum 24.Juni (!) sollten die sowjetischen Panzerverbände Kaunas (Kowno), Grodno, Suwalki, Lublin erobert haben. Womit man nicht gerechnet hatte: mit dem rasanten Vormarsch der deutschen Panzergruppen 2 (Guderian), 3 (Hoth) und 4 (Hoepner). Sie stießen "wie ein Messer", so Petrow, in die Aufmarschvorbereitungen der sowjetischen Panzerverbände, sie verwandelten Stalins Angriffspläne in Makulatur: "Den Deutschen gelang der Durchbruch mit Panzergruppierungen und ihrer Massierung an den entscheidenden Vormarschlinien. Aber warum versagten wir mit unserer Überzahl an Mechanisierten Korps gegenüber dem Feind, der höchstens 4 300 Panzer in die Schlacht werfen konnte, während wir an den drei westlichen Heeresgruppenfronten über 8 000 Panzer hatten, darunter 1200 KW und T 34 Die Folge davon war, daß die Deutschen Ende Oktober vor Moskau standen."
Petrow findet für die Katastrophe von 1941" nur eine Erklärung: Stalins Panzer waren auf Angriff, Vormarsch programmiert, nicht auf Verteidigung. Stalin plante den Überfall, mit einem deutschen Gegenangriff rechnete er nicht (S. 74). Der Aggressor ging in die eigene Falle.
Diese Ansicht vertritt auch Valerij Danilow, promovierter Historiker. Die Kernthese Viktor Suworows, wonach Stalin einen Überraschungsschlag gegen Deutschland ("upreschdajuschij udar po Germaniji") praktisch vorbereiten ließ, sei nicht nur glaubhaft, sondern jetzt auch dokumentarisch nachgewiesen, "nachdem man im Frühjahr 1992 die entsprechenden Archivunterlagen erforscht hat" (S. 83). Danilow spricht von sechs "Grundlagendokumenten", die seine und Suworows These bestätigen. Das Hauptdokument vom 15. Mai 1941, adressiert an Stalin, 15 Seiten Maschinenschrift, trägt in der rechten Ecke den Vermerk: "Absolut geheim. Besonders wichtig. Nur persönlich. Nur in einem Exemplar."
An der Ausarbeitung des -Aufmarsch- bzw. Angriffsplanes war Generalleutnant Nikolaj Watutin maßgeblich beteiligt, damals der Erste Stellvertreter von Generalstabschef Schukow. Watutin vermerkte seine Berichtigungen und Ergänzungen mit dem Bleistift, als verantwortlich zeichneten Schukow und Timoschenko.
Eine Urform des Planes (der Kürze wegen im folgenden als "Erwägungen" bezeichnet) entstand bereits am 11. März 1941. Eine endgültige Fassung, die Stalins Rede vom 5. Mai berücksichtigte (Staatsbriefe 8/1996), wurde zwischen dem 7. und 15. Mai 1941 fixiert. Es bestehe kein Zweifel daran, versichert Danilow, daß die Initiative zur Ausarbeitung des "faktischen Kriegsplanes" ("plana woini") von Stalin ausgegangen sei, wobei sich der Historiker auf eine Aussage Schukows beruft: Die Vorstellung, jemand aus dem Generalstab könnte aus eigenem Entschluß etwas gegen die Absichten Stalins unternommen haben, sei einfach absurd - er hätte den Kreml nicht lebend verlassen beziehungsweise "seinen Kaffee bei Berija trinken müssen". In der Lubjanka.
Über die näheren Umstände der Billigung des Angriffsplanes durch Stalin am 15. Mai 1941 vermerkt Danilow: "Im Archiv des Politbüros des ZK der KPdSU befindet sich der Text eines Interviews mit Marschall Wassilewskij vom 20. August 1965. Darin bestätigt Wassilewskij, daß er den Plan persönlich in den Kreml geschafft hat, wo er ihn Schukow übergab. Dieser und Timoschenko trugen ihn Stalin vor. Stalin war damit einverstanden, gab sein Plazet dobro (gut), worauf Schukow und Timoschenko den nächsten Schritt in Angriff nahmen maßstabsgerechte Vorbereitung des Schlages gegen Deutschlande (S. 85). Von den angelaufenen Vorbereitungen wurden am 24. Mai 1941 in einer Besprechung bei Stalin die höchsten Militärs detailliert in Kenntnis gesetzt; anwesend waren neben Schukow, Timoschenko, Watutin, Molotow die Heeresgruppenführer der Hauptkampfabschnitte; die Generale Pawlow (Westfront), Kusnezow (Baltikum), Popow (Leningrad), Tscherewitschenko (Odessa), Kirponos (Kiew). Ein Angriffs-Credo resultiert für den Historiker Danilowaus den einleitenden Sätzen der "Erwägungen": "Davon ausgehend, daß die deutsche Armee gegenwärtig in der Lage wäre, unseren Aufmarschplan zu stören, ist es dringend notwendig, den Deutschen die Initiative zu entreißen, den Feind zu überraschen, solange er sich noch im Aufmarschstadium befindet..." (S. 86).
Was konnte, nach Auswertung durch den sowjetischen Generalstab, das Überfallopfer Deutschland, das sich ja immer noch im Krieg mit England befand, an eigenen Truppen im Osten aufbieten? Von 284 Divisionen maximal 120, darunter 19 Panzer- und 15 motorisierte Infanteriedivisionen ("die Masse ihrer Streitkräfte hielten die Deutschen im Zentrum ihres Landes konzentriert, verstreut ferner über Frankreich, Norwegen, Afrika, Griechenland, Italien"). Und die zum Angriff entschlossene sowjetische Seite? 303 Divisionen, darunter 198 Schützen-, 61 Panzer-, 31 mechanisierte und 13 Kavalleriedivisionen. Der Hauptschlag sollte an der Südwestfront erfolgen, mit Truppen aus dem Sonderwehrbezirk Kiew: 58 Divisionen. Im einzelnen: 32 Schützen-, 16 Panzer-, 8 mechanisierte, 2 Kavalleriedivisionen, außerdem 5 Antitankbrigaden und ein Fallschirmjägerkorps. Als Verstärkung aus der zweiten Linie waren 45 Schützendivisionen vorgesehen. Am 14.Juni (!) notiert Watutin in der endgültigen Ausarbeitung der Generalstabsanweisungen: "Die Rote Armee beginnt ihre Angriffshandlungen mit 152 Divisionen gegen 100 deutsche Divisionen" (S. 86).
Danilow zitiert aus den Befehlen des Generalstabs: "A. Der Hauptangriff erfolgt mit den Kräften der Südwestfront Richtung Krakau, Kattowitz, wodurch Deutschland von seinen Verbündeten abgeschnitten wird. B. Einen Unterstützungsschlag unternimmt der linke Flügel der Westfront vorwärts Sedlec und Demblin, Einkesselung und Eroberung von Warschau, Vernichtung der deutschen Heeresgruppe, Vereinigung mit den Vormarschkeilen der Südwestfront und Zertrümmerung der Feindkräfte im Lubliner Kessel. C. Offensive Verteidigung gegenüber Finnland, Ostpreußen, Ungarn, Rumänien, Bereitstellung zur Invasion Rumäniens."
In seiner Dokumentenanalyse verwendet Danilow zwei immer wiederkehrende Operationsbegriffe des Generalstabs, die Topoi "wnjesapnij udar" ("Überraschungsschlag") und "upreschdajuschtschij udar" (Prävantivschlag") eine kaum verhüllende Umschreibung von Aggressionsschlag. Konkret: Überfall! Warum Stalins Generalstab ausgerechnet die Südwest-Variante gewählt habe, fragt Danilow. Seine einleuchtende Erklärung: "Erstens, um Deutschland von seinen Verbündeten abzuschneiden; zweitens, um Deutschland von seinen militärwirtschaftlichen Balkan-Basen zu trennen, insbesondere vom rumänischen Öl; drittens, um die Wehrmacht daran zu hindern, die für die UdSSR wichtigste industriell-agrarische Rohstoffregion in Besitz zu nehmen, die Ukrainer (S. 87).
Das alles geschah im Einklang mit Stalins Kriegsplänen, mit seiner Zustimmung und im Vollzug seines Befehls, Deutschland anzugreifen. Danilow beruft sich auf die Erinnerungen von W. Wischnewskij, der als Teilnehmer der Absolventen-Feier am 5. Mai 1941 in seinem Tagebuch unter dem 13. Mai Stalins Auftritt wie folgt festhält: "Die Rede von grandioser Bedeutung Endlich, endlich beginnen wir mit dem ideologischen und praktischen Vormarsch. Noch habe ich meine Notizen nicht sortiert, aber in klarer Erinnerung bleibt die Prognose Stalins, daß wir den Kampf mit Deutschland beginnen. Führen werden wir einen gewaltigen Krieg gegen den Faschismus, gegen den gefährlichsten militärischen Nachbarn, im Namen der Revolutionierung Europas und, natürlich auch Asiens. Vor uns unser Marsch nach Westen, vor uns die Möglichkeiten, von denen wir schon lange geträumt haben" (S. 91).
Nein, die von Stalin am 15. Mai 1941 abgesegneten "Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion" waren keine "Planspiele", wie es der Militärhistoriker Dieter Kürschner (Leipzig) zu verniedlichen versucht. "Bei einem aufmerksamen Studium der Erwägungen gelangt man zu dem Schluß, daß es sich bei ihnen um ein Dokument zur Handlungsanweisung handelte", so Danilow. Um einen erfolgversprechenden "Überraschungsschlag" zu führen, mußte eine Reihe von konkreten militärischen Vorbereitungsmaßnahmen durchgeführt werden, deren Erfüllung tatsächlich auch geschah:
1.) Geheimmobilisierung aller Truppenverbände, die sich in Lehr- und Übungslagern befanden, Ende Mai 1941 ca. 800 000 Rotarmisten.
2.) Konzentration der aus den Lehr- und Übungslagern Entlassenen entlang der sowjetischen Westgrenze, was auch alle Reserve-Armeen betraf.
3.) Mitte Mai erfolgte die Verlegung von vier Armeen aus Innerrußland an Düna und Dnjepr.
4.) Die Dislozierung der Angriffstruppen an der Westgrenze, in einem Streifen 20 bis 80 Kilometer hinter den Grenzbefestigungen, sollte zwischen dem 1. und 10. Juni abgeschlossen sein. (Danilow beruft sich auf entsprechende Generalstabsdirektiven für alle westlichen Grenzbezirke; ihre Realisierung meldete am 11. Juni 1941 General Wassilewskij.)
5.) Geheime Verlegung der Luftwaffe auf Feldflugplätze in Grenznähe. Mitte Juni treffen die ersten Fernost-Luftwaffendivisionen ein.
6.) Am 27. Mai befiehlt der Generalstab den Bau von kriegsmäßigen Feldkommandobunkern.
7.) Zwischen dem 21. und 25.Juni sollen sämtliche Frontstäbe die grenznahen Befehlsbunker beziehen.
8.) Am 19. Juni die Anweisung, Flugplätze, Panzeransammlungen, Truppenkonzentrationen und alle Militärobjekte zu tarnen.
9.) Schon am 15. Mai hat die Agitprop-Hauptverwaltung der Roten Armee in einer Direktive festgestellt, daß jeder Krieg, den die UdSSR führen muß, ein Gerechter Krieg" ist, auch ein Angriffskrieg, getreu der Losung Lenins, daß die Rote Armee, sobald sie stark genug geworden ist, den Kapitalismus an der Gurgel packt und ihn ersticken wird.
Das Resümee Danilows: "Es ging also nicht nur um die Abwehr einer ausländischen Aggression, sondern um die Verwirklichung weitgesteckter kommunistischer Ziele einschließlich der Weltrevolution." Dies sei der ideologische Hintergrund für die Aggressionspläne der Sowjetführung am Vorabend des Krieges von 1941 gewesen (S. 88).
Daß Stalin mit dem Aufmarsch seiner Armeen im Juni 1941 nicht Verteidigung im Sinne hatte, vielmehr Überfall und Vormarsch, wird durch die "Tragödie des 22.Juni" vollauf bestätigt: lautet die Schlußfolgerung in der Analyse Danilows. Er konstatiert eine "von Grund auf fehlerhafte Konzeption". Aus ideologischen Motiven habe man sich für einen "Krieg mit dem Kapitalismus", das heißt mit Deutschland, entschieden, die Aspekte einer möglichen Verteidigung völlig vernachlässigt, ja gar nicht in Erwägung gezogen. "Die Sache ist die, daß Stalin einfach nicht glauben wollte, daß Hitler die Initiative ergreifen und ihm zuvorkommen könnte" (S. 89). In Wirklichkeit sei die Rote Armee am 22. Juni noch nicht zum Losschlagen fähig gewesen, doch ebensowenig zu einer Verteidigung (S. 90).
Russische Revisionisten arbeiten mit den Quellen aus dem vollen. Auch wenn noch manche Aktensammlung den präsidialen Stempel "geheim" trägt, aus welchen Gründen auch immer, die Tage der Geheimhaltung sind gezählt. Weltkriegsforscher des Bonner Establishments bleiben da außen vor. Gäbe es morgen Dokumentenfreiheit wären die etablierten Hirne noch zugekleistert. Man fürchtet sie wie der Teufel das Weihwasser. Dunkelmännertum herrscht, von wissenschaftlicher manpower keine Spur.
Auf eine kleine Anfrage der PDS im Bundestag antwortete die Bundesregierung am 26. Juli, die Vertriebenenzeitschrift Der Schlesier veröffentliche "verfassungsfeindliche" Beiträge, weil diese "revisionistischen Inhalts" seien! Eine Kanthersche Münchhausiade? Wie erklärt man diesen Wahnsinn den mutigen russischen Kriegsforschern?
Der politpsychische Zustand dieser Republik ist feuilletonistisch kaum mehr zu beschreiben, man müßte schon tief in die Diagnosekiste der Pathologie greifen.
Pathologisches spricht aus dem Urteil des schon erwähnten Militärhistorikers Dieter Kürschner (Leipzig), Revisionismus würde nicht nur die "Schuldfragen ganz neu stellen, er bedeute auch eine "Entlastung" der im Namen Hitlers begangenen Kolonialismusverbrechen im Osten. Wer kann, wer will hier schon den Hitlerschen Antislawenwahn entlasten? "Wenn Hitler nur Stalin zuvorkam, dann haben doch 1946 die Falschen auf der Anklagebank von Nürnberg gesessen", meint Kürschner. "Dann kann man doch auch die Existenz des Massenmordes in Frage stellen. So werden die Übergänge von der Kriegsschuld- zur Auschwitzlüge immer fließender." Abgesehen davon, daß auf der Nümberger Anklagebank nicht alle Hauptkriegsschuldigen gesessen haben Kürschner unterstellt den russischen Geschichtsforschern, sie, ausgewiesene Antikommunisten und Antihitleristen, würden mit ihrer wissenschaftlich erhärteten Erkenntnis, daß auch Stalin zu den Hauptschuldigen am Kriegsausbruch zählt, die Opfer ihres eigenen Volkes negieren wollen. Russische Patrioten, die den Vollzug der verbrecherischen Hitlerschen Ostpolitik "entlasten", angeblich etwas derart Ungeheuerliches hat man schon lange nicht gelesen.
V
Am 22. Juni 1996 paradierten über den Roten Platz Jelzins Soldaten unter dem Banner Stalins, an der Mütze den Romanowschen Doppeladler mit drei Kronen. Schizophrenie? Nein, wenn es dem Gedenken an die unglaubliche Opferbereitschaft russischer Landser galt. Ja, wenn damit die Erinnerung an den Oktober einundvierzig ausgetilgt werden sollte, als Stalins Metropole am Rande der Niederlage stand, militärisch und politisch.
Ende Oktober schien für Moskau die Stunde gekommen zu sein. Im Norden war es der thüringisch-hessischen 1. Panzerdivision gelungen, bei Kalinin (heute wieder Twer) die Wolga nach Osten zu überschreiten. Beiderseits der Autobahn nach Moskau stieß die 10. Panzerdivision über die Moskwa; die Badenser und Württemberger wollten die ersten auf dem Roten Platz sein. Nicht Stalins Soldaten, sondern der Schlamm, die "rasputiza", brachte sie siebzig Kilometer vor dem Kreml zum Stehen. Siebzig Kilometer, so weit wie von Nürnberg bis Bamberg. Der T 34 rollte auf breiten Ketten, er war für Schlamm und Schnee richtig konstruiert. Nicht so die deutschen Panzer. Der Panzer IV, das "Arbeitspferd" der deutschen Stahlkette, hatte eine um 20 Zentimeter schmälere Kette. Was 20 Zentimeter mehr oder weniger in der Weltgeschichte ausmachen können "General Schlamm", nicht Generalissimus Stalin, bot ein unüberwindliches Halt. Auch dieser geschichtsmächtige Umstand wird in dem Sammelband "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" erörtert.
Todesmut und Standhaftigkeit der russischen Soldaten, die Vorteile der Deutschen Tapferkeit, Kampfgeist, Opferbereitschaft, überlegene Führung, taktisches und strategisches Können , bestätigt durch Urteile sowjetischer Heerführer. "Die deutschen Truppen kämpften tapfer", berichtete General Sobennikow, der an der kriegsentscheidenden Kursker Schlacht (Hitlers "Unternehmen Zitadelle") und an der sowjetischen Gegenoffensive bei Orel teilgenommen hatte, Juli 1943. Befragt von einem britischen Reporter, der das Kampfgebiet besuchen durfte, was er von den deutschen Soldaten halte, antwortete Sobennikow: "Fast alle hielten aus, und nur ganz wenige ergaben sich. Unter den Gefangenen, die meine Division machte, waren keine älteren Männer, die meisten zwischen zwanzig und dreißig, ausgesuchte Soldaten, gute Soldaten " (W. Sandner, "Schicksalswende im Osten", Rastatt 1982, S. 48).
Als alles schon zu Ende war, April 1945, tobte bei Halbe, einem Ort 40 Kilometer südöstlich von Berlin, die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges. In Halbe, mehrmals erobert und von den Deutschen wieder zurückerobert, türmten sich nach den infernalischen Straßenkämpfen die Leichen: Rotarmisten, Hitlerjungen, Volkssturmmänner, Soldaten des Heeres und der Waffen-SS, Greise, Frauen und Kinder, die auf der Flucht gewesen waren. Im "Kessel von Halbe" starb die 9. Armee. Dreißigtausend durchbrachen den Ring und erreichten die Linien der 12. Armee, fünfzigtausend verbluteten, etwa hunderttausend gerieten schwerverwundet in Gefangenschaft. Und es fielen ca. hunderttausend Sowjetsoldaten in diesen brandenburgischen Wäldern vor den Toren Berlins.
Ein teuer erkaufter Sieg gegen einen bereits am Boden liegenden Gegner, von dem der 68er-Hedonist Axel Dossmann meint, man wisse immer noch nicht, "warum so viele Deutsche noch in den letzten Tagen die Treue bis zur letzten Patrone hielten" (FAZ, 25. Juli 1996). Ja, warum; russische Revisionisten wüßten darauf eine Antwort. Brest-Litowsk, Leningrad, Sewastopol, Stalingrad auf der einen, Stalingrad, Demjansk, Kurlan, Königsberg, Kolberg, Breslau, Halbe auf der anderen Seite die menschliche Tugend Opferbereitschaft entzieht sich jeglicher Ideologie.
VI
In dem Schlüsseldokument "Erwägungen zum strategischen Aufmarschplan der sowjetischen Streitkräfte für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten" vom 15. Mai 1941 steht im Mittelpunkt der Vernichtungsschlag an der Südwest-Eront (Galizien, Wolhynien). Nach den Weisungen des Generalstabs sollte innerhalb von 48 Stunden die deutsche Front in einer Tiefe von hundert Kilometern durchbrochen und die eingefesselten Feindtruppen vernichtet werden. Stalin und der Generalstab rechneten mit einem Sieg; den ca. hundert deutschen Divisionen standen rund 152 sowjetische Stoßdivisionen gegenüber.
Eine Fehlrechnung, denn: Wie die Erfahrungen des Großen Vaterländischen Krieges zeigen, war solch eine Überlegenheit nicht ausreichend. Diese Ansicht vertritt Oberst Wladimir Kiseljew, Militärhistoriker und führender Mitarbeiter am Institut für Kriegsgeschichte im Verteidigungsministerium der Russischen Föderation. Die Unterschätzung der feindlichen Kampfkraft und die Überschätzung der eigenen hätte zu den "tragischen Mißerfolgen" der Jahre 1941 und 1942 geführt; erst ab 1943 sei man in der Lage gewesen, mit einem weitaus größeren zahlenmäßigen Übergewicht den Feind zum Rückzug zu zwingen (S. 81).
Mit anderen Worten: Um die Deutschen zu besiegen, mußte die sowjetische Seite ein Vielfaches, ja ein Zehnfaches an Menschen und Material aufbieten. Oder anders ausgedrückt: Bei einem am 15. Mai 1941 angenommenen Kräfteverhältnis 1,5:1 wäre 1941 Stalins Armee gewiß nicht bis zur Wilhelmstraße, Hitlers Armee dagegen bis zur Gorkij-Straße gekommen.
Der Kiseljew-Beitrag in dem Sammelband ist aus mehreren Gründen markant. Erstens: der Autor bekennt sich als Parteigänger der alten sowjetischen Historikerschule. Zweitens: der Autor bekennt sich zu einem ideologischen Weltbild, in dem es immer noch ein "faschistisches Deutschland", eine "deutsch-faschistische Armee" gibt. Drittens: der Autor bestätigt die Aktivität russischer Revisionisten schon in der Anfangsphase der Perestroika. Viertens: der Autor gibt sich als Gegner Suworows, der russischen Revisionismusschule insgesamt, und der revisionistischen deutschen Geschichtsforscher zu erkennen, negiert jedoch nicht deren Erkenntnisse über einen sowjetischen Überraschungsschlag gegen Deutschland. Fünftens: als einziger in diesem Werk rechtfertigt der Autor den Plan Stalins, den Krieg zu eröffnen, Deutschland zu überfallen, die Wehrmacht zu zerschlagen, die Grenzen der UdSSR nach Westen auszudehnen aus machtpolitischen, wie ideologischen Gründen. Leider sei dieser Plan, resümiert Kiseljew, nicht schon 1941 verwirklicht worden.
An der Existenz des Schlüsseldokuments vom 15. Mai 1941 zu zweifeln, sei sinnlos, bekräftigt Kiseljew; man müsse davon ausgehen, daß der Kriegsplan von Stalin gebilligt wurde. Als Beweis dient ihm die Tatsache, daß alle vom Generalstab vorgeschlagenen Maßnahmen in die Tat umgesetzt wurden:
1. Geheimmobilmachung und Konzentrierung aller Reservearmeen und der Luftwaffe an der Westgrenze. Die Anfang Juni begonnene Mobilisierung der Reserven erfaßte ca. 800 000 Rotarmisten, das Unternehmen lief unter dem Deckwort "Große Übungs- und Lehrgangslager".
2. Aus den Wehrkreisen Baikal, Nordkaukasus, Wolga sowie aus anderen Gebieten Innerrußlands wurden folgende Armeen auf dem Schienenweg nach Westen verschoben: die 16., 19., 20., 21., 22., 24., 28. Sowjetarmee.
3. Spätestens am 10. Juli sollten diese Armeen in Bereitstellungsräumen der bevorstehenden Offensive angelangt sein, von tierwestlichen im Norden bis zum Dnjeprim Süden.
Kiseljew erwähnt ferner die Umstellung der Friedenswirtschaft auf Kriegsproduktion.
Hat Viktor Suworow also doch recht, wenn er Stalins Tag X auf den 6.Juli datiert? Suworow-Gegner Kiseljow nennt Befehle und Operationen, die Suworows Hypothese glaubhaft erscheinen lassen: "Mitte Juni kam es zur vollen Entfaltung des strategischen Aufmarschplanes. Entsprechend den Direktiven des Generalstabs wurden 32 Schützendivisionen der Reserve in die westlichen Grenzbezirke geworfen. Sie bewältigten das in Nachtmärschen, am 1. Juli sollten sie sich 20 bis 80 Kilometer hinter der Grenze befinden. So wurden die in den ,Erwägungen' aufgeführten Maßnahmen realisiert, was ohne die Zustimmung der höchsten politischen Führung, das heißt Stalin, nicht denkbar gewesen wäre" (S. 78).
Also ein uneingeschränktes Ja Stalins zum Erstschlag, Überfall ,Vormarsch? "Von den Offensivvorbereitungen der Roten Armee", schreibt Kiseljew, "zeugen auch die vom Hauptkriegsrat beschlossenen Aufgaben auf partei-politischem Gebiet für Mai und Juni 1941 In Direktiven der Agitprop-Hauptverwaltung der Roten Armee legte man den Hauptakzent auf die Erziehung zu einem alles zermalmenden Angriffskrieg. Alle Rotammisten müssen von dem Bewußtsein durchdrungen sein, daß die mächtig angewachsene politische, ökonomische und militärische Kraft der Sowjetunion uns in den Zustand versetzt hat, eine angreiferische (nastupateljnaja) Außenpolitik durchzusetzen, mit dem Ziel, die Kriegsbrandherde auf dem Territorium des feindlichen Landes zu liqudieren."
Das feindliche Land hieß Deutschland; den Kriegsherd liquidieren, hieß Deutschland liquidieren. "Daraus folgt logisch", bemerkt Kiseljew, "daß sich die Streitkräfte der UdSSR auf den Vormarsch vorbereiteten" (S. 79). Sowohl die Wehrmacht wie auch die Rote Armee hätten sich auf "Vormarsch vorbereitet." Mitte Juni 1941 hatten beide Seiten ihre Kriegsmaschine in Gang gesetzt", die aufzuhalten "politisch nicht mehr möglich" gewesen sei. Auf sowjetischer Seite hätte die "Tragik" darin bestanden, daß man mit Blick auf die Angriffsdoktrin der Roten Armee die klassische Verteidigung "vernachlässigte". Außerdem wären die Angriffsabsichten der Sowjetunion ("Vernichtung der Aufmarschtruppen des Aggressors") hoffnungslos zu spät" in Gang gesetzt worden.
Also früher losschlagen, schon im Frühjahr 1941 oder gar 1940? Nach Kiseljew: ja. Voll und ganz bejaht er, rückblickend, einen totalen Blitzkrieg gegen Deutschland. Schuld an der Tragödie" nach dem 22. Juni trügen Stalin, der geglaubt habe, Hitler würde den Nichtangriffspakt nicht schon im Jahre 1941 verletzen", und der Generalstab, der von einer Überlegenheit der Roten Armee ausgegangen sei. Was heißt, daß man in Moskau die Kampfmoral und die Führungskunst der Wehrmacht falsch eingeschätzt hatte. Womit wir wieder bei Kursk, bei Halbe sind Der deutsche Frontsoldat, dem tapferen Rotarmisten nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen.
VII
Als Befürworter der Suworow-Thesen argumentiert der Kriegshistoriker Michail Nikitin in seinem Beitrag "Beurteilung der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges durch die Sowjetführung/Ideologie-Dokumente vom Mai und Juni 1941" (S. 122 bis 1946). Auslösendes Moment für den kriegerischen Anti-Deutschland-Kurs sei die Stalin-Rede vom 5. Mai 1941 gewesen, die von den politischen und militärischen Führern sofort aufgegriffen und präzisiert worden sei, in Direktiven, Aufmarschanweisungen, propagandistischen Reden. Nikitin erwähnt diesbezügliche Auftritte von Schdanow, Schtscherbakow, Kalinin, Alexandrow, Timoschenko. Im Unterschied zu Kiseljew zitiert Nikitin den deutschen Revisionisten Joachim Hoffmann als verläßlichen geschichtswissenschaftlichen Zeugen (S. 123).
Aufschlußreich eine Feststellung des damaligen Staatspräsidenten Kalinin, wonach zu den Hauptfeinden der Sowjetunion nicht nur die Deutschen Nationalsozialisten" zählten, sondern ebenso die französische und englische Kapitalistenclique" mitsamt den USA, die, so Kalinin, die Welt "aufteilen", die "Weltherrschaft" anstreben und somit "räuberische Ziele" verfolgen würden (S. 125).
Politbüro-Kandidat Schtscherbakow findet verständliche Gründe für die politischen und militärischen Erfolge Deutschlands 1940; die Entente hätte 1918 Deutschland entwaffnet und erniedrigt und eine Gegenreaktion hervorgerufen, manifest geworden in der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933, die sofort eine mächtige Armee mit moderner Kriegstechnik aus dem Boden gestampft hätten. Schtscherbakow spricht, im Einklang mit Stalin, von der "ersten Etappe des neuen Weltkrieges". Franzosen und Briten zu besiegen, wäre den Deutschen leicht gefallen, im Krieg gegen die Rote Armee würden sie jedoch von vornherein die Besiegten sein (S. 127). Und an diesem Krieg zweifelte niemand im Kreml, war es doch der vom Kreml gewollte Krieg. Krieg gegen Deutschland.
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Am 28. Juli feierte Rußland den 300. Geburtstag seiner Marine. Eingeladen zu den Paraden in Königsberg und St. Petersburg waren auch die Deutschen. Vor dem Regierungsgebäude in Königsberg übten Matrosen des Versorgungsschiffes "Donau" des 2. Schnellbootgeschwaders den Vorbeimarsch unter Schwarzrotgold. Beamte schauten verwundert aus den Fenstern, Passanten klatschten Beifall. "Die Deutschen sind wieder dar", sagte lachend ein Polizist zu seinen russischen Landsleuten. Ein Gesicht der Wirklichkeit von heute.
Ein anderes: Am 31. Oktober 1995 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen konterrevisionistischen Bannfluch aus der Feder des FU-Zeithistorikers Wolfgang Wippermann: "Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ist eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik." Die Kriegsschuld abzustreiten, müsse genauso der Ächtung und der Bestrafung ausgesetzt werden wie die sogenannte Auschwitzlüge.
DER FALL GORODETSKY
Zu den bestinformierten militärischen Nachrichtendiensten der Zwischenkriegsepoche zählte das Pariser Deuxieme Bureau. Frühzeitig schon prophezeite es, die Deutschen könnten die Ardennen für den Hauptangriff auswählen. Nach dem Urteil des britischen Kriegshistorikers Alistair Horne besaß das Deuxième Bureau ein exaktes Bild von den deutschen Angriffsplänen ein vollständigeres als das, das Fremde Heere West des OKH von den französischen Streitkräften gewonnen hattet ("Über die Maas, über Scheide und Rhein. Frankreichs Niederlage 1940", Wien-München-Zürich 1969, S. 159). Der französische Geheimdienst kannte den Standort aller deutschen Panzerdivisionen, ihre massive Anhäufung vor den Ardennen und ihre Stoßrichtung längs der Achse Sedan-Abbéville, es beobachtete den Bau von Militärbrücken zwischen Bingen und Bonn und schloß daraus, daß der deutsche Hauptstoß nicht im Norden und auch nicht im Süden durch die Maginotlinie erfolgen würde.
Daß die Deutschen zwischen dem 8. und 10. Mai angreifen werden, mit Sedan als Hauptbewegungsachse, General Maurice Gamelin, Oberbefehlshaber der französischen Armee, ignorierte die Warnungen des eigenen Spionagedienstes. Gamelins Gegenspieler, General Gauché, Chef des Deuxième Bureau, hatte bereits 1935 das französische Oberkommando vor den im Embryonalzustand existierenden deutschen Panzerdivisionen gewarnt. Gleich nach dem Polenfeldzug legte Gauché mehrere Studien vor, in denen das deutsche Erfolgssystem Panzervorstöße mit Luftwaffenunterstützung geschildert wurde. Gauché informierte Gamelin, wie die deutschen Luftangriffe zur fast völligen Lähmung des polnischen Oberkommandos geführt haben, das dadurch unfähig war, die Mobilisierung zu vollenden, Verstärkungen oder Nachschub nach vorne zu bringen oder koordinierte Gegenoffensiven durchzuführen. Gauché wies auch auf die Tatsache hin, daß die Deutschen nicht versucht hatten, Warschau einzunehmen, sondern daß ihr erstes Ziel die völlige Vernichtung der polnischen Armee gewesen sei. Die Reaktion des französischen Oberkommandos? "Wir sind keine Polen, das kann hier nicht passieren" (Horne, S. 119). Ausgerechnet dieser effektiv arbeitende militärische Nachrichtendienst Frankreichs, eine Säule der III. Republik, soll eine antifranzösische "Fälschung" fabriziert haben, nämlich die Stalin-Rede vom 19. August 1939? Das behauptete Gabriel Gorodetsky in der Berliner WELT vom 31. August 1996.
Welchen Grund sollte das patriotische Deuxième Bureau gehabt haben, ein für Frankreichs Interessen negatives Falschdossier in die Weltöffentlichkeit zu lancieren, mit Konsequenzen, die für Frankreichs Verteidigung nicht defätistischer sein konnten? Das ergibt keinen logischen Sinn. Es sei denn, daß man annimmt, sämtliche Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes wären 1939 Kollaborateure Stalins bzw. Hitlers ("fünfte Kolonne") gewesen, einig in dem landesverräterischen Ziel, Frankreichs politische und militärische Niederlage so schnell wie möglich herbeizuführen. Zwar war ein großer Teil der haute Bourgeoisie, deren Schibboleth unter der Volksfront der Ruf "Lieber Hitler als Blum!" gewesen war, antibritisch eingestellt, doch das Offizierskorps des Deuxième Bureau (Nachrichten), Troisième Bureau (Operationen), Quatrième Bureau (Transport und Nachschub) lebte im Glanz der NamenJoffre, Poch, Pétain, Weygand, Poincaré, Clemenceau, wirkte in der Tradition des QuatorzeJuillet und des 9. November 1918 ("Nach Berlin!"), im Geist der Union Sacrée vor Verdun, fasziniert immer noch von la gloire und der amour propre mit ihren poilus, die nicht zur Internationale, sondern zum Marche Lorraine marschierten. Gorodetsky scheinen diese Tatsachen nicht bekannt zu sein.
Der Kratki Kurs galt bis zur Perestroika als Bibel aller linientreuen Kommunisten in der Welt. Kratki Kurs, das steht für "Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)". Obligatorisch auch für den Gegenwartsunterricht an der Schweriner Gerhart-Hauptmann-Oberschule nach 1948, wofür ich Zeuge bin. Kratki Kurs war eine Lügenfibel, gedruckte Desinformation, in der weder Katyn noch die Zusatzprotokolle vom August 1939 vorkamen, vom GULag ganz zu schweigen. Stichworte wie Roter Terror, Weißmeerkanal, Große Säuberung, Bauernholocaust suchte man vergebens. Ob KPRF-Führer Gennadij Sjuganow den Kratki Kurs noch besitzt, ist zweifelhaft, doch einer studiert ihn wohl immer noch der Sowjetologe Gabriel Gorodetsky, Chef des Cummings-Instituts für russische Geschichte an der Universität Tel Aviv. Für ihn ist Stalin immer noch der friedliebende Uncle Joe, der niemals an Eroberung, Annexion, Okkupation gedacht hat.
Gorodetsky, der seinen Vornamen zu Unrecht trägt (Gabriel heißt im Hebräischen "Mann Gotte"), ist für jüngere russische Zeithistoriker ein Unbekannter, auch das Cummings-Institut ist ihnen kein Begriff. Ältere Geschichtsforscher erinnern sich, daß es einen gleichnamigen orthodoxsowjetischen Historiographen gegeben hat, einen Apologeten der Stalinschen Außen- und Kriegspolitik, später ausgewandert. Ein Gabriel Gorodetsky aus Tel Aviv nahm denn auch im letzten Jahr an einer Konferenz altstalinistischer Historiker, wie russische Zeitungen meldeten, in Rußland teil.
Mit einem Konterschlag stalinistischer Antirevisionisten hatte man rechnen müssen. Aber auch damit, daß er aus dem Orient kam, wo bekanntlich das Märchenbuch Tausend und eine Nacht entstanden ist?
Und in Springers WELT? In den Spalten jenes Blattes, das fast vierzig Jahre lang Stalins Westkolonie DDR in Gänsefüßchen zu setzen pflegte? Ein Stalin-Verteidiger in der WELT? Kaum zu glauben. In der WELT vom 16. Juli heuer hatte Osteuropa-Spezialist Carl Gustaf Ströhm festgestellt: "In den sowjetischen Geheimarchiven ist jetzt der Text einer Rede Josef Stalins gefunden worden, der neues Licht auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wirft. Es handelt sich um eine Ansprache, die Stalin am 19. August 1939 vor dem sowjetischen Politbüro in Moskau gehalten hat und in der er klar zu erkennen gab, daß er einen Pakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland schließen werde, um Hitler zum Angriff auf Polen zu ermuntern und damit einen Krieg auszulösen. Sein Kalkül: Würden die Sowjets auf britische und französische Angebote eingehen eine Militärmission der West-Alliierten verhandelte bereits in Moskau , dann würde Hitler Polen nicht angreifen, und der Krieg würde nicht ausbrechen. Der Krieg aber sei notwendig, weil sich der Bolschewismus unter Bedingungen des Friedens nicht nach Westen ausbreiten könne." Es folgten dann die allen Staatsbriefe-Lesern seit März bekannten Hauptargumente Stalins (s. Staatsbriefe 2-3 und 4/1996). Wem außer Gorodetsky mißfiel Ströhms Artikel? Wer oder was setzt die WELT-Redaktion unter Druck, und von wo? Wer veranlagte sieben Wochen später den Abdruck der Gorodetsky-Ente, und warum?
Ganz anders verhielten sich die Herausgeber der international renommierten Fachzeitschrift OSTEUROPA. In Heft 46 (1996) 4, S. 414 f., rezensierte Professor Dr. Wolfgang Kasack, einer der bekanntesten, verdienstvollsten Slavisten, das Suworow-Buch "Der Tag M" (Stuttgart 1995) und resümierte: Ausgehend von der sowjetischen Mobilmachungstheorie untersucht Suworow die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung und bringt in 24 Kapiteln konkrete Zahlen und Daten für die gigantische sowjetische Aufrüstung, die am 19. 8.1939 in einer bis vor kurzem von allen sowjetischen Politikern und Militärführern geleugneten Geheimsitzung des Politbüros eingeleitet wurde. Als Folge der am 1.9.1939 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht und gleichzeitigen Senkung des Einberufungsalters von 21 auf 19 Jahre verfügte Stalin bei einer zweijährigen Dienstpflicht im Sommer 1941 über mehr als fünf Millionen Soldaten, darunter eine Million Fallschirmspringer; er ließ durch extrem verkürzte Ausbildungskurse die Zahl der Flugzeugführer emporschnellen und sorgte allein über eine einzige Tarnorganisation für 121000 zusätzliche Piloten; er stellte im Frühjahr 1941 mehr Panzerdivisionen auf, als es jemals in sämtlichen Staaten der Welt gegeben hatte; er erhöhte die Feldartillerieregimenter von 144 auf 314, ebenfalls mehr als in allen Streitkräften der Welt zusammen."
Zur Ehre der WELT sei gesagt, daß in den Ausgaben vom 12. und 13. September eine Reihe von richtigstellenden Leserbriefen erscheinen durfte.
Fest steht: der Entdecker einer angeblichen Fälschung ist selbst ein Fälscher, ein schlechter dazu. So legt er das Datum der Pariser Falsifikation auf den 23. Dezember 1939 fest. Nachgewiesenermaßen berichtete über den Inhalt der Geheimrede Stalins die französische Nachrichtenagentur Havas bereits im September 1939, kurz nach der Unterzeichnung des Molotow/Ribbentrop-Paktes. Aufgrund der Havas-Veröffentlichung, im gleichen Monat auch in einer schweizerischen Zeitschrift erschienen (Revue de droite international, Genf, Nr. 3, Juli-September 1939, S.247 ff.), sah sich Stalin zu einem "Dementi" im PRAWDA-Interview vom 30. November 1939 gezwungen, also Wochen vor dem ominösen "23. Dezember". War Stalin ein Hellseher? Wer also hat hier was oder wen gefälscht? Stimmt demnach Gorodetskys Zeitrechnung weder mit dem Julianischen noch mit dem Gregorianischen Kalender überein? Vielleicht mit dem ptolemäischen Weltbild?
In der Sowjetunion wurde weder die Stalin-Rede noch der Havas-Text veröffentlicht, auch nicht der Artikel aus der Genfer Zeitschrift, doch enthielt Stalins "Dementi" einige den Ableugner entlarvende Zitate aus dem Havas-Text. Nach Ansicht russischer Revisionisten war es Stalin selbst, der Havas seinen Redetext zuspielen ließ, offenkundig mit dem Ziel, den bezüglich der Landstreitkräfte mächtigsten Gegner Deutschlands in "Desorganisazija" zu stürzen: Frankreich.
Eine französische Kopie der Stalin-Rede entdeckte die Historikerin Tamara Buschujewa in einem Moskauer Geheimarchiv, jetzt "Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Sammlungen", Registernummer 7/1/1223. Das renommierte Literaturmagazin Nowij Mir (Neue Welt) publizierte den Redetext 1994 in Heft 12. Selbst jene Historiker, die nicht der russischen Revisionismusschule angehören, bezweifeln nicht die Authentizität dieses Dokuments. Kennzeichnend hierfür das Urteil des unseren Lesern bekannten Zeitgeschichtlers Anatolij Iwanow, Autor des Buches "Logik des Alptraums" (Moskau 1993, Berlin 1995). Iwanow gehört zu den radikalsten Kritikern des russischen Chefrevisionisten Alexander Suworow. Dennoch zweifelt auch er nicht an der Glaubwürdigkeit der Stalin-Rede vom 19. August 1939. Im tonangebenden intellektuellen Organ der Monarchisten-Bewegung schrieb er: "Glaubwürdige Informationen über den Auftritt Stalins hat es lange Zeit nicht gegeben, und alle Versuche einer hypothetischen Rekonstruktion bezeichnete man als 'billige antikommunistische Fälschung'. Nun aber, da uns der Text vorliegt, kann man seine Glaubwürdigkeit nicht abstreiten. Ausgehend von der damaligen internationalen Lage, wie Stalin sie sah, muß man feststellen: Ja, das können seine Worte gewesen sein, so kann Stalin gesprochen haben." (Russkij Westnik, Moskau, Nr. 2325, S. 13).
Im übrigen ist Iwanow der Meinung, daß nicht im August 1939 die Weichen zum sowjetisch-deutschen Krieg gestellt wurden, sondern im November 1940, als Molotow bei seinem Berlin-Besuch freie Hand für Finnland und den Balkan forderte, was von Hitler nicht hingenommen werden konnte. Iwanow gibt zu, daß sich Stalin seit dem 15. Mai 1941 auf einen "Präventivschlag" gegen Deutschland vorbereitet habe ("falls Hitler als erster angreifen würde").
Wie es dem auch sei, Stalins Strategie-Rede vom 19. August enthüllte einen aggressiven Charakter. So sprach er von den positiven Aspekten eines europäischen Erschöpfungskrieges, in den die UdSSR in einem für sie günstigen Moment eingreifen wollte. Als Initialzündung diente Stalin der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt, der Hitlers Krieg gegen Polen auslöste und die Kriegserklärung Frankreichs und Englands zur Folge hatte. Für den Fall einer raschen Niederlage Deutschlands rechnete Stalin mit einer "Sowjetisierung" einschließlich der Etablierung einer "kommunistischen Regierung", gefährdet allerdings durch eine Intervention der siegreichen kapitalistischen Mächte, die ein kommunistisches Deutschland niemals dulden würden. Für den Fall einer raschen Niederlage Frankreichs prophezeite Stalin auch für dieses Land eine "Sowjetisierung".
Stalin: "Gleichzeitig müssen wir eine aktive kommunistische Propaganda führen, besonders im anglo-sächsischen Block, und hier vorrangig in Frankreich. Wir müssen darauf vorbereitet sein, daß die Partei in diesen Ländern während des Krieges gezwungen sein wird, sich von ihrer legalen Tätigkeit zu verabschieden und in den Untergrund zu gehen. Wir sind uns im klaren darüber, daß diese Arbeit viele Opfer fordern wird, aber unsere französischen Genossen werden keine Bedenken hegen. Zu ihren Aufgaben werden in erster Linie die Zersetzung und Demoralisierung der Armee gehören. Wenn diese vorbereitende Tätigkeit in gebührender Form ausgeführt wird, ist die Sicherheit eines sowjetischen Deutschland gewährleistet, und das wiederum wird einer Sowjetisierung Frankreichs förderlich sein." (Zitiert aus der französischsprachigen Fassung, entdeckt von Tamara Buschujewa im ehemals geheimen Beutefonds des Sonderarchivs der UdSSR, F 7, op 1, d. 1223, erstmals in Russisch veröffentlicht in Nowij Mir 12/1994.)
Stalin irrte sich nicht ein weiterer Beweis für die Echtheit seiner 19. August-Rede. Der Nichtangriffspakt mit Hitler stürzte die KP in eine Krise, entfremdete sie der III. Republik, beschleunigte die Demoralisierung von Gesellschaft und Armee.
1922, als die KPD 218 000 Mitglieder zählte, hatte die französische Partei 60 000. Ende 1937 hatte sie die Zahl von 340 000 erreicht. Damit war die KPF die stärkste kommunistische Partei der westlichen Welt. Die Partei war nicht nur an Mitgliederzahl gewachsen, sondern auch an Schlagkraft. Beide Faktoren halfen ihr, den Schock des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes zu überstehen und ihrer Offensive gegen die nationalen Kriegsanstrengungen Frankreichs 1939/ 40 Gewicht zu verleihen. In der patriotisch gesinnten Öffentlichkeit galt sie als Stalins Kolonne der "Drückeberger" (embusque). "In einer Fabrik, die die 2,5-Flak herstellte, wurden durch einen Sabotageakt über 200 Rohre zerstört, die normale Ausstattung von vier Divisionen" (Horne, S. 106).
Am 27. September 1939, wenige Wochen nach dem Bekanntwerden der Stalin-Rede, verfügte die Pariser Regierung die Auflösung der KPF. L'Humanité wurde verboten; Jugendliche, die kommunistische Flugblätter verteilt hatten, verurteilte man zu Gefängnisstrafen. Zwischen dem 5. und 10. Oktober wurden 35 KP-Abgeordnete verhaftet. Maurice Thorez, der aus der Armee desertiert war, um der Verhaftung zu entgehen, verlor die Staatsbürgerschaft. Zusammen mit den Kommunisten verhaftete die Polizei "verdächtige" Deutsche, darunter Flüchtlinge aus Hitlers Konzentrationslagern. Arthur Koestler, der ebenfalls verhaftet wurde, berichtete, die französischen KZ seien sogar "noch unter dem Niveau derer" gewesen, aus denen er in Deutschland geflohen war (Horne, S. 104).
Wie Stalin vorausgesehen hatte, trug die Unterdrückung der KPF tatsächlich dazu bei, die Reihen ihrer Parteigänger fester zu schließen. Sozialistenführer Leon Blum meinte, daß nichts der KPF einen größeren Dienst erweise als das Verbot von L'Humanité und der übrigen Parteipresse. Von seinem Asyl in Belgien leitete Thorez die Partei weiter, deren Propaganda-Offensive niemals zuvor wirkungsvoller gewesen war. Kettenbriefe machten in den Bunkern und Schützengräben die Runde, es gab sogar eine Untergrundausgabe der L'Humanité, die speziell für die Armee bestimmt war. In den Fronteinheiten machte sich der Kommunismus unter den Mannschaften und bei Unteroffizieren breit, während er für das Offizierskorps und das Deuxième Bureau der "Feind im Innern" blieb.
Am 1. Oktober 1939 erhielt Edouard Herriot, damals Präsident der Nationalversammlung, einen Offenen Brief von verhafteten kommunistischen Funktionären, die als Parlamentsabgeordnete darauf drangen, die Regierung sollte Hitlers Friedensvorschläge ernsthaft prüfen. Damit formulierten sie Stalins August-Anweisungen für die KPF: Untergrabung der Kriegsmoral, Desorientierung und innere Auflösung der französischen Armee. Wenig später wurde ein Manifest von Komintern-Sekretär Dimitroff, das die Beendigung des "Raubkrieges" verlangte, von Rüstungsbetrieb zu Rüstungsbetrieb weitergegeben, in der Etappe und an der Front verteilt. Am 9. November 1939 (Waffenstillstandstag) fragten kommunistische Flugblätter: "Wer in Frankreich will für die Wiederherstellung eines Polen unter der Herrschaft von reaktionären Obristen kämpfen?" Auf Flugblättern, die in Rüstungsfabriken auftauchten, las man: "Vive Stalin! Vive Hitler!"
Zur gleichen Zeit warfen Görings Flugzeuge Flugblätter mit Molotows Rede vom 31. Oktober ab, in der sich der sowjetische Außenminister mit den deutschen Friedensvorschlägen identifiziert hatte. Der Todfeind des französischen Proletariats sei die anglo-französische Bourgeoisie, trommelte die Untergrund-KP in ihren Flugblättern: "Fort mit dieser Regierung des Unglücks und der Unterwürfigkeit gegenüber den Bankiers der Londoner City." Wasser auf die Desorganisazija-Mühlen Stalins. Noch am 1. Mai 1940, als Hitlers Blitz unmittelbar bevorstand, starteten die französischen Kommunisten eine Großoffensive gegen den "imperialistischen Krieg" und beschuldigten die Pariser Regierung, Frankreich zu einem "englischen Dominion" degradiert zu haben. Stalins August-Saat war aufgegangen.
Ohne Stalins Strategie-Rede vom 19. August 1939 wären alle diese Prozesse nicht eingetreten. Eine Rede indes, die bis heute viele Fragen offenläßt. Ausdrücklich wurde im Staatsbriefe-Dossier auf den "Komplex von Widersprüchen, Unklarheiten, Selbsttäuschungen in der Rede Stalins" hingewiesen (4/1996, S. 11).
Um auf den Märchenerzähler aus dem Orient zurückzukommen: Gorodetsky verwickelt sich in Widersprüche über Widersprüche. Eine Politbüro-Sitzung habe am 19. August 1939 zwar stattgefunden, doch ohne den angeblich gefälschten Vortrag Stalins. Gorodetsky erwähnt ein sogenanntes Sonderarchiv in Moskau, vergißt jedoch zu erläutern, um welches es sich handelt, besaß doch seinerzeit jede Staats- und Parteiinstitution (Zentralkomitee, Politbüro, Geheimdienst, NKWD, Streitkräfte etc.) ein Sonderarchiv für Geheimakten. Ferner beruft sich dieser Fälscher auf den politisch wenig glaubwürdigen Spionagering Rote Kapelle; danach soll Hitler schon im September 1939 (!) geplant haben, "die Ukraine zu besetzen".
Völlig absurd klingt die Erklärung Gorodetskys, die sogenannte Fälschung im Deuxième Bureau hätte der "Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen gegen die Sowjetunion" gedient. Gemeint ist der Fall Finnland. Das Gegenteil ist wahr. Der militärische Geheimdienst hatte von Anfang an vor dem "finnischen Abenteuer" gewarnt, zumal solche Pläne geeignet waren, die UdSSR aktiv an Hitlers Seite in den Krieg zu ziehen, eine Torheit, die vom nationalfranzösischen Standpunkt schwerlich zu überbieten gewesen wäre.
Der Hintergrund: Als Stalins Forderungen auf Konzessionen zur Sicherung des Landwegs nach Leningrad abgelehnt wurden, griff er am 30. November 1939 Finnland an. Im französischen Bürgertum erreichten die Anti-Volksfront-Emotionen einen neuen Siedepunkt. In den Kirchen betete man für Marschall Mannerheim, Damen strickten Westen für finnische Soldaten, in der Oper fanden Festvorstellungen zugunsten der Finnen statt. Als die Finnen der Stalinschen Kriegsmaschine Niederlagen bereiteten, beschäftigten sich die Kriegsplaner in Paris und London mit Interventionsplänen. Ein Expeditionskorps, im norwegischen Hafen Narvik gelandet, sollte den Finnen durch einen Marsch über Nordschweden zu Hilfe kommen und gleichzeitig Hitler einen tödlichen Schlag versetzen, indem man Deutschland des schwedischen Erzes beraubte. Am 15. Januar 1940 schrieb Gamelin an Daladier und schlug ihm die Schaffung einer "skandinavischen Front" vor. Zuerst begrüßte Chamberlain die Möglichkeit, "zwei Raubvögel mit einem Steinwurf zu töten". Inzwischen lehnten die norwegische und die schwedische Regierung eine Expedition durch ihr Gebiet kategorisch ab. Die Briten bekamen kalte Füße. Anfang März war der parlamentarische Druck in Paris aber so stark geworden, daß Daladier, ohne London zu konsultieren, die Finnen informierte, Frankreich sei bereit, den Einwand der Norweger und Schweden hinwegzufegen. Am 11. März sagte er zu Halifax, er werde zurücktreten, wenn England nicht mitmache. Einem Krieg mit der Sowjetunion entging der Ministerpräsident des "drôle de guerre", als am 13. März Finnland Frieden mit Moskau schloß.
Am anderen Ende des europäischen Kriegstheaters hatte General Maxime Weygand, Oberbefehlshaber der französischen Orient-Armee, mit Plänen gespielt, die noch irrealer waren als das skandinavische Abenteuer. Weygand wollte die Türkei und Griechenland in den Krieg ziehen, die Salonikifront des Ersten Weltkrieges reaktivieren und mit hundert Balkandivisionen gegen Hitlers "weichen Unterleib" marschieren. Doch weder Türken noch Griechen gingen in die französische Falle. Dann spielte Weygand die finnische Karte aus Krieg gegen die Sowjetunion, mitten im Krieg mit Deutschland. Weygand schrieb an Gamelin, drängte zur Invasion Finnlands: "Ich halte es für wesentlich, der Sowjetunion in Finnland und anderswo das Rückgrat zu brechen." Von diesem Orienttroupier, der am 15. Mai 1940, als Frankreich schon verloren war, zum Oberkommandierenden einer sich auflösenden Armee in der Heimat ernannt wurde, stammt die Idee, mit französischen Bombern, die von Damaskus aus starten sollten, Baku und die kaukasischen Ölfelder anzugreifen, die sowohl die Wehrmacht wie die Rote Armee in Karelien mit Benzin belieferten. Dabei muß man bedenken, daß auf Weygands syrischen Basen nur klapprige Doppeldecker standen.
Vor solchen Potjomkinschen Plänen warnte eindringlich das Deuxième Bureau, denn nicht in Karelien und nicht im Kaukasus würde sich das Schicksal Frankreichs entscheiden, sondern in den Ardennen, an der Maas bei Sedan. Professor Gorodetsky dreht die Fakten einfach um.
Der Fall Gorodetsky ist keine Einzelerscheinung. Wie ein internationaler Wanderzirkus nomadisiert eine Fälscherbrigade im Westen. Den jüngsten Knüller lieferte die US-Amerikanerin Linda Chavez, UNO-Sonderberichterstatterin für "Massenvergewaltigung von Frauen". In einer 30-Seiten-Dokumentation behauptet sie, deutsche Soldaten hätten in beiden Weltkriegen "systematisch Frauen vergewaltigt". Die Sowjetarmee wird nicht erwähnt, und nicht das Schreckensjahr 1945 (Hubert Wetzel in der Süddeutschen Zeitung vom 31. August 1996). Bei der SZ hatte das eine Flut von Leserbriefen zur Folge, bislang wurden ca. zehn veröffentlicht. Auf Richtigstellung oder Kommentar der SZ-Redaktion wartet man wohl vergebens. SPIEGELkilz an ihrer Spitze weiß, wie man so etwas verebben läßt.
Der Revisionismus windet sich nur auf Schleichwegen durch den deutschen Mediendschungel. Typisch hierfür eine dreispaltige Buchbesprechung des Israeli Nachum Orland in der Frankfurter Allgemeinen vom 4. September, S. 9, betitelt: "Was Himmler sich dachte. Yehuda Bauer setzt neue Maßstäbe für das Verständnis des Nationalsozialismus." Da nicht bekannt ist, ob Rezensent Nachum Orland und der verantwortliche FAZ-Redakteur bereits unter Volksverhetzungs-Anklage stehen, verzichte ich auf eine Wiedergabe des Artikelinhalts und beschränke mich auf die bibliographische Angabe, die mehr aussagt, als die pc-Zensur erlaubt: Yehuda Bauer, "Freikauf von Juden. Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945", aus dem Englischen von Klaus Binder und Jeremy Gaines. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 464 Seiten, 56,- Mark. (An den Richtertischen des Goldhagen-Tribunals entdeckte man Yehuda Bauer und Nachum Orland natürlich nicht.)