WOLFGANG STRAUSS / RUSSLAND, DU HAST ES BESSER
Die gegenwärtigen Attacken Solschenizyns, Lebeds, Kunjajews gegen das regierungshörige Staatsfernsehen entbehren nicht der Grundlage. Als einen "Informationskrieg gegen die Bevölkerung" bezeichnen es die unabhängigen Gewerkschaften, daß das Fernsehen es einfach ignoriert, wenn nach dem offiziell erklärten Ende des Kumpelstreiks ein Drittel aller Kohlengruben noch immer stillsteht. Daß alte Leute, die monatelang ihre Renten nicht bekommen, den Schienenweg zwischen Moskau und St. Petersburg und die Transsibirische Eisenbahn blockieren, erfährt man nicht aus dem Fernsehen.
Objektiv falsch dagegen ist, von einer Beschränkung der Presse- und Druckfreiheit zu sprechen. Für russische Zeitungen und Buchverlage existieren keine Tabus, keine Verbots-Lügen. Sie kümmern sich überhaupt nicht um Duma-Resolutionen oder Ukase des Informationsministeriums. Der Konkurrenzkampf auf dem weiten Feld der "weißen Flekken" tobt unerbittlich, er verleiht selbst dem Geschichtsrevisionismus ständig neuen Auftrieb. "Den heutigen Machthabern ist es egal, was da von wem und wo gedruckt wird, sie speien auf alle Bücher", sagt der 54jährige Wladimiur Bukowskij, ein berühmter Dissident der Siebziger, heute in England lebend (Novoje Wremja, Nr. 48/1996, S. 46).
Rußland kennt keine Verbotszonen in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Als im Oktober 1995 die Moskowsskije Nowostij und die Iswestija berichteten, der Generalstaatsanwalt habe ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet (Nr. 16-123666), das die Ermordung der Zarenfamilie im Jahre 1918 erneut aufrollen soll, wurde bekannt, daß die Staatsanwaltschaft eine Version der Ermordung ausgearbeitet hatte, wonach ",Juden den Zaren gemartert und einen Ritualmord verübt" hätten. Die Staatsanwaltschaft Rußlands hatte in diesem Zusammenhang den Patriarchen Alexij II. um Amtshilfe gebeten. "Soll der Patriarch etwa in Sachen jüdischer Rituale Auskunft geben können?", fragt erzürnt Wadim Bjelozerkowskij, ein Sacharow-Anhänger (in: "Was geschieht mit Rußland?", Bergisch Gladbach 1996, S. 275). Und die Presse-Reaktion in Sachen "Ritualmord 1918?" Wütende Aufschreie, der Ruf nach dem Kadi? Nichts von dem. Dabei muß man wissen, daß in der Redaktion des erwähnten linksliberalen Wochenblattes Moskowskije Nowostij prominente russische Staatsbürger jüdischer Nationalität arbeiten Alexander Weinstein, Wladimir Brodezki, Alexander Gelman, Michail Schulman, Alexander Kabakow.
Ein Bestseller auf Dauerflamme ist das Buch des Briten Robert Wilton "The Last Days of the Romanovs. How Tsar Nicholas II and Russias Imperial Family were Murdered". Im englischen Original, in Übersetzungen, in Kopien kursiert das Werk, erstmals 1920 in London publiziert, in Rußland. Die französische Übersetzung kam 1921 heraus, die erste russische 1923 in Berlin, neu aufgelegt 1993 vom Institute for Historical Review in den USA. Aus dem auf Augenzeugenaussagen basierenden Bericht des Briten geht hervor, daß das Exekutionskommando vom 17. Juli 1918 aus Letten, Ungarn und Juden bestand; ihm gehörte kein Russe an. Im Anhang der Ausgabe von 1993 (Appendix D) wird die ethnische Zusammensetzung der 556 wichtigsten Parteiführer für den Zeitraum 1918-19 wie folgt aufgelistet: 17 Russen, zwei Ukrainer, 11 Armenier, 35 Letten und Litauer, 15 Deutsche, ein Ungar, 10 Georgier, drei Polen, drei Finnen, ein Tscheche, ein Mittelasiate, 457 Juden (S. 185).
Aufgeheizt wird die Debatte über die "nichtrussischen Wurzeln" von "Revolution und Terror" durch zwei Moskauer Publikationen in russischer Sprache, die, thematisch gewertet, nicht nur vordergründig mit dem Trauma von 1918 verbunden sind.
Im Verlag der Zeitschrift ATAKA erschien soeben die russische Übersetzung von "Les mythes fondateurs de la politque israélienne" ("Die Gründungsmythen der israelischen Politik"). Autor ist der einstige KPF-Chefideologe Roger Garaudy. Aus Protest gegen die Besetzung der CSSR im Jahre 1968 trat der Resistance-Franzose aus der Partei aus, von seinen ehemaligen Genossen als "Revisionist" angeprangert. Bekannt wurde das Buch, in dem der Ex-Kommunist die heißen Eisen "Völkermord", "Holocaust" kommentiert unkonventionell, das heißt wider die Logik der political correctness und die "Mythologie des zionistischen Fundamentalismus" kritisiert, durch einen fünfseitigen Solidaritätsbrief des Abbé Pierre, der in Frankreich seit vierzig Jahren als Schutzengel der Obdachlosen verehrt wird. Abbé Pierre beklagte in seinem Brief an Garaudy jene Kritiker, "die Deine Forschung nicht respektieren und lieben". Garaudys Werk wurde inzwischen ins Italienische, Spanische, Arabische übersetzt. Übrigens: Zeitschrift und Verlag ATAKA, Moskau, gehören zum "Russischen Antifaschistischen Zentrum".
Die andere Revisionismusschrift ähnlichen Inhalts sie sorgt derzeit in Rußland für Furore erschien als "Spezialausgabe" (Nr.32-34) im Verlag der monarchoneoslawophilen Wochenzeitung Russkij Westnik (Russischer Bote), gegründet vom Internationalen Fonds Slawischer Sprache und Kultur. Betitelt "Der Mythos vom Holocaust. Die Wahrheit über das Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg" und verfaßt von Jürgen Graf, wurde das Reportmanuskript vom Institute for Historical Review, Los Angeles, den Moskauer Geschichtsrevisionisten zur Verfügung gestellt. In Deutschland ist das Buch, das auch den Fall Germar Rudolf ausführlich erwähnt, verboten.
Für die russische Ausgabe zeichnet der Geschichtswissenschaftler und Kriegshistoriker Oleg Platonow verantwortlich; von ihm stammt auch die Einführung. Platonow erinnert daran, daß als Folge der verbrecherischen Ostpolitik Hitlers "mehr Slawen als Juden umgekommen sind". Erwähnt werden im Vorwort "27 Millionen Sowjetbürger" und "9 Millionen Deutsche", getötet während des Zweiten Weltkrieges. Oleg Platonow auf Seite 2: "Die Schöpfer des Holocaust-Mythos verkleinern vielhundertfach die Opfer des russischen Volkes. So wird in der Enzyklopädie des Holocaust behauptet, daß in den deutschen Lagern drei Millionen Juden getötet wurden, und außerdem einige zig tausend Zigeuner und sowjetische Kriegsgefangene. In Wirklichkeit jedoch betrug die Zahl der in den deutschen Lagern umgekommenen Kriegsgefangenen, in der Mehrzahl Russen, nicht weniger als 3,3 Millionen Menschen. Der Mythos vom Holocaust beleidigt das Gedenken an Millionen Russen, Todesopfer einer neuen Weltordnung. Schlimmer noch, nicht eine einzige Zeile der Enzyklopädie des Holocaust erwähnt die vielen Millionen Genozid-Opfer im russischen Volk in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1917, umgebracht unter der Verantwortung jüdischer Jührer (der Bolschewiki)."
Bis heute sind weder Verbots- noch Strafanträge gegen die Herausgeber der genannten Publikationen gestellt worden. Anlaß für Mark Tartakowskij vom Nachrichtenmagazin Nowoje Wremja (Neue Zeit), Parallelen zu ziehen zwischen dem Auserwähltheitsanspruch "orthodoxer Judaisten" und "russischer Patrioten"; mit den letzteren sind die Vertreter einer neo-imperialistischen Richtung gemeint. Unter der Überschrift "Propheten und Patrioten. Erwiderung auf den jüdischen Gott und russische Nationalisten" erschien Tartakowskijs Essay in Nr. 48/1996. Die Betonung einer "russischen Zivilisation" oder "russischen Sendung" decke sich, philosophisch oder ideologisch betrachtet, mit dem jüdischen Dogma vom "auserwählten Volk" ("isbranni narod"), schreibt Tartakowskij. Beide Strömungen würden sich im heutigen Rußland gegenseitig hochschaukeln, in der Atmosphäre eines Kulturkrieges mit religiöser Substanz und imperialer Zielsetzung.
Für Gegner des Geschichtsrevisionismus bestünde zumindest formal die Möglichkeit, sich auf einen Präsidentenukas von 1993 zu berufen, der die "Aufstachelung zum zwischennationalen Haß" verbietet, russisch "rasschiganije meschnationalnoj nenawistij". Auch so ein Propagandastück Jelzins, ohne juristische Fundierung, über das sich die Duma lustig gemacht hat, so bei der Schildbürgerdebatte "Was ist Faschismus". Nur formal, denn in der Realität hat jeder Redakteur, Schriftsteller, Historiker seine eigene Meinung über "Aufstachelung". Jetzins Ukase sind nicht mehr zu zählen, die allermeisten modern in den Archiven so auch dieser Ukas. Ihre parlamentarische Immunität haben weder Sjuganow noch Schirinowskij verloren; der erstere ruft zur Wiederherstellung des Vielvölkerimperiums unter russischer Hegemonie auf, der andere hat aus seiner Ukrainophobie und seinem Tschetschenenhaß nie ein Hehl gemacht.
Besetzung der Ukraine und des Baltikums, Rückeroberung der Krim, Hetze gegen den Islam und die Moslemvölker, das alles, dargeboten in den Duma-Reden und Presseorganen der Neo-Panslawisten, fällt tatsächlich unter "Aufstachelung zum Völkerhaß".
Als das ukrainische Massenblatt Wetscherni Kijiw (Kiew am Abend) das Thema "BabiJar" aufgriff, reagierte die Moskauer Literaturnaja Gaseta (Literaturzeitung) mit einem Artikel ihres Kiew-Korrespondenten Sergej Kiseljew, der an Ukrainerfeindschaft kaum mehr zu überbieten ist (Nr. 49 vom 4. Dezember 1996).
Man hat in Rußland nach 70 Jahren Bolschewismus und vielen Tätern im Gegensatz zu Deutschland, das 12 vergleichbare Jahre aufzuarbeiten hat, schnell und gründlich begriffen, daß eine Erforschung und Erörterung solcher Dinge in unbehinderter Freiheit auf ungeschmälerter Breite vor sich gehen muß, damit die Atmosphäre nicht für eine lange Zeit vergiftet werde. Rußland, Du hast es besser, würde Goethe heute sagen.