WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (3)

"Manchmal verschwinden Staaten auf Nimmerwiedersehen, ohne Spuren zu hinterlassen." Guilietto Chiesa, Moskau-Korrespondent der Turiner Tageszeitung La Stampa, münzt das auf Rußland. Das Rußland Jetzins, der Mafia, der Oligarchie, eines machtlosen Parlaments und eines führerlosen Elendsvolkes. "Leb wohl, Rußland" heißt Chiesas Buch, russisch und deutsch. Das Ende der russischen Demokratie prophezeit der Italiener, das Ende der russischen Nation und russischen Geschichte.

Die Agonie der Demokratie in Rußland prognostizieren auch andere, dazu bedarf es keiner prophetischen Gaben. Aber das Ende der russischen Geschichte? Chiesa ist Sensationsjournalist, kein Historiker. Sonst wüßte er, daß ein möglicher Geschichtsbruch von ganz anderen Faktoren bestimmt wird, zum Beispiel vom Willen der politischen Klasse und der Intelligenz, Rußlands Verhältnis zum Erbe gulagistischer Politik in bezug auf die Deutschen zu klären –schonungslos offen, ehrlich, selbstkritisch, historisch korrekt. Die tragischen Seiten im deutsch-russischen Geschichtsbuch, das sind Hitlers Slawenhaß und sein Kolonialwahn im Osten, sind Stalins Deutschlandhaß und sein Wahn der "kollektiven Strafmaßnahmen".

Mit Zustimmung der westlichen Siegermächte wurden nach der Kapitulation innerhalb der Sowjetunion ca. 800 000 Deutsche zwangsumgesiedelt, nach Sibirien, Innerasien, in die Polarzone. Ca. 100 000 haben den Genozidkrieg nicht überlebt. Als kollektive Strafe bezeichnet wurden die Verurteilungen von ca. 100 000 deutschen Kriegsgefangenen zu jahrelanger Sklavenarbeit. Von ethnischen Säuberungen in Ostdeutschland waren mindestens 12 Millionen betroffen. Die Zahl der von der Roten Armee ermordeten Deutschen, meist Frauen und Kinder, wird auf eine halbe Million geschätzt, die der Verschleppten auf mehr als eine Million.

Eine Ethnozidmaßnahme folgte der anderen. In Mitteldeutschland übernahm Stalin die von Hitler hinterlassenen Konzentrationslager und ließ sie in Vernichtungslager umwandeln, getarnt als "Speziallager". Vernichtung durch Hunger. Zwischen 1945 und 1950 gingen Hunderttausende durch die Hölle, ca. 160 000 verließen sie als Leichen. Man lese den Zeugenbericht von Gisela Gneist in der Deutschen Militärzeitschrift Nr. 4 /96 ("Lager des Grauens"). Aus einer Gruppe von Wittenberger Jungen und Mädchen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren wurden, nach unbeschreiblichen Folterungen, neunjugendliche zum Tode durch Erschießen und die übrigen zwanzig zu zehn Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Letztere verhungerten im KZ Sachsenhausen; die Todeskandidaten verbrachten bis zur Exekution viele Monate in Dunkelzellen.

"Als vormaliger GULag-Insasse, NKWD Güstrow 1946 war ich zu zehn Jahren verurteilt", erinnert sich Dr. Rudolf Radtke aus Bad Kreuznach. "Neben mir saß Werner Sommerfeld, jünger als ich, zum Tode verurteilt und in Güstrow erschossen… Es ging um einen in den Köpfen der KGB-Offiziere erfundenen Krieg, England war der erdachte Gegner… In Güstrow wurden etwa zehn Prozent der Jugendlichen zum Tode verurteilt und, von bisher drei bekannten Begnadigungsfällen abgesehen, erschossen. Im NKWD-Keller zu Müritz, der Güstrow vorgelagert war, gelang wahrscheinlich zwei Jugendlichen der Suizid, mit Läusepulver. Die Rate der Todesurteile in Potsdam und in anderen NKWD-Kellern war um ein Vielfaches höher, bis zu siebzig Prozent schätzungsweise. Etwa zehn Prozent der zu Freiheitsstrafen verurteilten Jugendlichen, ausgehend von der Zahl der Verhafteten, wurden von Ärzten als transportfähig nach Sibirien aussortiert." (FAZ vom 4. Juni 1997)

Im Hungerlager Buchenwald vegetierten ca. 30 000 Deutsche, Stalins Geheimpolizei ließ zwischen 1945 und 1950 ca. 7 000 regelrecht krepieren. Für dieses Verbrechen hat sich die demokratische Regierung Rußlands bis heute nicht entschuldigt. Nicht der Präsident, nicht die Duma, nicht der Verteidigungsminister. Zur Ehre eines Teiles der Roten Armee sei gesagt, daß nicht alle Frontkämpfer den Pogromaufrufen eines Ilja Ehrenburg gefolgt sind.

"Rotarmist" sei nicht gleich "Rotarmist" gewesen, bemerkt der deutsche Mitautor Erwin Peter in dem schon zitierten Buch über Stalins Kriegsgefangene. "Gerade die Fronttruppen verhielten sich häufig menschlicher als der Troß (wenngleich viele asiatische Soldaten der Roten Armee aufgrund ihrer geschichtlichen Überlieferung die Frauen des besiegten Feindes ohne Frage als Beute sahen), und immer wieder stößt man auf Berichte, wonach Fronttruppen die deutsche Bevölkerung vor den nachrückenden Einheiten warnten und zur Flucht aufforderten" (S. 264).

Entschuldigt hat sich ein Patriarch. Um Vergebung bat Rußlands oberster Kirchenführer die Deutschen in Deutschlands Hauptstadt am 21. November 1995 in einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom. Es dürfe nicht mit Schweigen übergangen werden, sagte Alexij II., daß die DDR von der Sowjetunion installiert worden sei und daß "viele meiner Landsleute diesen kommunistischen Staat durch ihre falsche Handlungsweise gestützt haben". Viele Deutsche hätten darunter zu leiden gehabt. Dafür wolle er sich beim deutschen Volk entschuldigen.

Der Patriarch – ein gebürtiger Deutsch-Russe aus dem Baltikum, dessen Vater Rettiger hieß –bewies Mut zum Revisionismus, bestätigte er doch die auch von Egon Krenz zugebene Tatsache, daß die SED eine von der KPdSU angeleitete und abhängige Partei gewesen war. Heute sollten die Deutschen und die Völker der untergegangenen Sowjetunion "für immer die tragischen Seiten in ihren Beziehungen umblättern", forderte 1995 das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche. Aus der Vergangenheit von Deutschen und Russen sei nur das Beste zu behalten, die geistliche und politische Zusammenarbeit, die gemeinsamen Erfolge auf dem Gebiet von Kultur und Wissenschaft. "Gebe Gott, daß niemals mehr zwischen uns eine verderbliche Feindschaft aufkomme!"

Der Appell des Patriarchen verhallte nahezu wirkungslos in Rußland. Schlimmer noch: die herrschende Oligarchie leugnet die Verbrechen der Stalinschen Deutschlandpolitik, und abscheulicher noch: sie stuft die Eingesperrten und Ermordeten im mitteldeutschen GULag als "Verbrecher" ein. Für die Deutschen, die nach 1945 ohne Anklage und Gerichtsurteil verfolgt wurden, gilt das russische Rehabilitierungsgesetz von 1991 bzw. 1992 nach wie vor nicht.

Dies betrifft, wie schon erwähnt, ca. 200 000 Deutsche, in russischer Auslegung "administrativ verfolgte Ausländer". Rehabilitiert wurden nach 1991 sage und schreibe 200 Personen. Nicht rehabilitiert ein damals 15 Jahre alter Junge, weil er im Winter einem Rotarmisten einen Mantel gestohlen hatte und dafür zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. 200 von 200 000 – im November 1995 untersagte ein Jelzin-Ukas auch diese Praxis, und seitdem hat es keine Rehabilitierung sogenannter administrativ Verfolgter gegeben.

Seit 1994 gibt es innerhalb der russischen Militärstaatsanwaltschaft eine Abteilung für die Rehabilitierung ausländischer Staatsbürger, größtenteils Deutsche. Geleitet wird die Abteilung von Generalmajor Wladimir Kupez. Ihm stehen ca. 50 000 Verwaltungsakte des sowjetischen Geheimdienstes zur Verfügung, derzeit im Russischen Staatsarchiv gelagert. In den allerseltensten Fällen werden Rehabilitierungen ausgesprochen. Markus Wehner in der FAZ: "Besonders unter den deutschen Kriegsgefangenen wurden auch solche verurteilt, die tatsächlich Kriegsverbrechen begangen hatten. So wurde beispielsweise im Januar 1946 der ehemalige Befehlshaber der deutschen Garnison in Welikije Luki zum Tode durch Erhängen verurteilt. In Welikije Luki waren 60 000 Zivilisten und Kriegsgefangene umgebracht worden, etwa 42 000 Personen nach Deutschland deportiert worden, was zum großen Teil unter dem Befehl des später gehenkten Garnisonschefs geschehen war. In diesem Fall lehnte die Militärstaatsanwaltschaft eine Rehabilitierung ab" (24. Juni 1997).

Eine glatte Lüge. Markus Wehner müßte es eigentlich wissen. Welikije Luki war ein gulagistischer Racheakt. Der russische Kriegsforscher Alexander Epifanow bemerkt dazu: "Der von den Russen in einem Schauprozeß gehängte Oberstleutnant von Sass war der Verteidiger von Welikije Luki. Mit lediglich einem verstärkten Regiment leistete er der russischen Übermacht von einigen Divisionen mehrere Wochen lang heldenhaften Widerstand. Er fügte in diesem Abwehrkampf mit seinen Soldaten den russischen Divisionen sehr hohe Verluste bei. Dies dürfte wahrscheinlich auch allein der Grund gewesen sein, weshalb man ihn zum Tode durch den Strang verurteilte" ("Stalins Kriegsgefangene", Graz 1997, S. 269). Und an anderer Stelle: "Tausende Kriegsgefangene wurden mit langjährigen Lagerstrafen oder sogar mit dem Tode bestraft, ohne daß entsprechende Schuldbeweise vorlagen. Noch heute tragen Überlebende und Tote ungerechtfertigt das Brandmal eines Kriegsverbrechers" (S. 277).

Die Schlacht um Welikije Luki war kein Ruhmesblatt der Roten Armee. Mit Teilen der norddeutschen 83. Infanteriedivision verteidigte Oberstleutnant von Sass den Verkehrsknotenpunkt – "Stadt im Sumpf" – gegen die Stoßarmeen von Generaloberst Jeremenko und General Purkajew. Ein Jahr lang, vom Januar 1942 bis zum Januar 1943. Ein kleines Stalingrad. 7 500 deutsche Soldaten gegen eine zehnfache Übermacht. Nahkampf mit Spaten, Bajonett und Handgranate. Die meisten der 30 000 Einwohner waren geflohen, zurück geblieben nur solche Russen, die lieber unter den "Eroberern" als unter den "Befreiern" leben wollten. Und ein baltisches Freiwilligenbataillon, gebildet aus Esten, die geschlossen von der Roten Armee übergelaufen waren.

Zitadelle und Bahnhof, im Januar ’43 die letzten deutschen Festungen. Zwanzig Soldaten mußten sich täglich eine Büchse Fleisch teilen, für zehn Mann gab es täglich nur ein Brot. Trinkwasser mußte aus einem Leichenteich geholt werden. Es herrschte Diphtherie. Am 16. Januar ’43 wagten 180 Todgeweihte den Ausbruch: "In Gefangenschaft gehen wir nicht!"

Zurück blieben die Schwerverwundeten, die man nach dem Krieg aus den Gefangenenlagern holte und in Welikije Luki vor ein Standgericht stellte. Einen von jedem Dienstgrad verurteilte ein Militärtribunal zum Tode durch den Strang: Einen General, einen Oberst, einen Oberstleutnant, einen Major, einen Hauptmann, einen Oberleutnant, einen Leutnant, einen Feldwebel, einen Unteroffizier, einen Obergefreiten, einen Gefreiten und einen Schützen. Dazu Regimentskommandeure, Kompanieführer, Ortskommandanten, Reichsbahnbeamte, einfache Soldaten. Am 29. Januar 1946 wurden die Deutschen auf dem Leninplatz von Welikije Luki in öffentlicher Massenveranstaltung gehenkt. Keinen russischen Hiwi und keinen estnischen Freiwilligen, denn die hatten sich vor der Erstürmung selbst den Tod gegeben, mit der letzten Patrone.

Hängen, erschießen, von jeder Abteilung einen: das war Stalinsches Prinzip. "Kollektive Strafmaßnahmen" auf bolschewistisch. Am 6. August 1930 schrieb Stalin an Molotow: "Es geht also darum: a) den Apparat des Volkskommissariats für Finanzen und der Staatsbank ohne Rücksicht gründlich zu säubern, b) unbedingt zwei, drei Dutzend Schädlinge aus diesen Apparaten zu erschießen, darunter zehn Kassierer verschiedener Art… Kondratjew, Groman und einige andere Halunken müssen unbedingt erschossen werden. Die ganze Gruppe der Schädlinge in der Fleischindustrie muß man unbedingt erschießen und in der Presse darüber berichten" (Aus: "Stalin – Briefe an Molotow 1925-1936", hrsg. v. Oleg Naumow und Oleg Chlewnjuk, aus dem Russischen, Berlin 1996).

Politisch wird Rußland als Staat und Nation wohl nicht untergehen. Moralisch allerdings kann es sich selbst zum Tode verurteilen und aus der Geschichte streichen, wenn es am GULagismus und am Antigermanismus festhält. Wenn es die Wahrheit über Welikije Luki in seinen Geschichtsbüchern verschweigt. Wenn es den Genozid in Ost- und Mitteldeutschland als Sieg über den Faschismus zu feiern fortfährt.

Rußlands politische Elite sollte sich kein Beispiel an der Pseudoelite Deutschlands nehmen. "Wir haben Umgang mit zwei unterschiedlichen Verbrechen", formuliert Rikola Gunnar Lüttgenau die Schizophrenie der Bannoffiziellen. Nach Ansicht des Vize-Direktors der Gedenkstätte Buchenwald gibt es einen ideologischen Unterschied zwischen dem Krepieren in einem Hitler-KZ und in einem Stalin-KZ (Die Welt vom 25.Juli 1997). Wer verhungerte und durch wessen Befehl? Es kommt demnach auf den ideologischen Standort des Henkers an. Wer den GULag verdammt, kann kein Antifaschist sein. Folglich war die Buchenwald-Massaker 1945-50 nur ein "nachgeordneter" (Lüttgenau). Wehe einem Rußland, das sich diesem Neusprech anschließen sollte.

In Welikije Luki steht ein Denkmal des Rotammisten Alexander Matrossow vom 254. Garde-Schützenregiment. Er verdiente sich den Titel "Held der Sowjetunion" mit dem Einsatz seines Lebens. Matrossow stürzte sich in eine deutsche Bunkerscharte und klammerte sich an den MG-Lauf. Der Tote deckte den Sturmlauf seiner Kompanie.

Ein Denkmal für den deutschen Oberstleutnant von Sass wäre heute wohl nicht denkbar in Welikije Luki. Einiges aber können russische Patrioten, denen es um die Rettung des russischen Rußland geht, von dem Gehenkten lernen. Daß nichts mehr zählt im Leben eines Soldaten als Tapferkeit, Kameradschaft und Todesverachtung. Verteidigung bis zum letzten. Gäbe es diese Tugenden im Volk der Lebed und Solschenizyn nicht mehr, Rußland wäre im 21. Jahrhundert tatsächlich am Ende. Hoffnung besteht, daß auch ein v. Sass rehabilitiert wird, wie vor ihm ein Helmuth von Pannwitz.

Am 23. April 1996 rehabilitierte der russische Generalstaatsanwalt den deutschen General, der von einem stalinistischen Tribunal wegen "Kriegsverbrechen" verurteilt worden war, auf Anordnung des Kriegsverbrechers im Kreml, 16. Januar 1947. Tod durch den Strang. Helmuth von Pannwitz, eine deutsch-slawische Freiheitslegende, der "große Pan", wie er von seinen Kosaken gerufen wurde, ein Schlesier, der berühmteste Reiterführer des Zweiten Weltkrieges, ein Aristokrat von der Grenze mit zwei soldatischen Vaterländern Deutschland und Rußland.

Der letzte Waräger. Ulanenoffizier im Ersten Weltkrieg, Kommandeur der 1. Kosaken-Kavallerie-Division, später Oberbefehlshaber des XV. Waffen-SS-Kosaken-Kavallerie-Korps, Oberster Feldataman aller Kosakenheere, Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub. Nach der Kapitulation gerieten Pannwitz und die ihm anvertrauten ca. 30 000 Kosaken in Kärnten in englische Gefangenschaft. Die Briten lieferten die Kosaken entgegen den getroffenen Vereinbarungen am 9. Mai 1945 an die Rote Armee aus. Pannwitz begab sich freiwillig in sowjetische Gefangenschaft. Von seinen Kosaken wollte er sich nicht trennen. Im Januar 1947 wurde er in Moskau zum Galgen geführt. Auf Befehl Stalins. In der Urteilsbegründung wurde ihm die Erschießung von fünfzehn Partisanen zur Last gelegt. Ein vorgeschobener Grund. Vernichten wollte Stalin das Ideal einer deutsch-russischen Waffenbrüderschaft und die Idee eines freien Kosakentums.

Am 16. Januar 1947 meldete Ulbrichts ADN aus Moskau: "Vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR fand ein Prozeß gegen die verhafteten Agenten des deutschen Spionagedienstes statt. Angeklagt waren: der Führer weißgardistischer Truppenteile während des Bürgerkrieges 1918-1921, Ataman P. N. Krasnow, der Generalleutnant der Weißen Armee A. B. Skuro, der Kommandeur der ‘Wilden Division’ und Generalmajor der Weißen Armee Sultan Girej Klytsch, der Generalmajor der Weißen Armee S. N. Krasnow, der Generalmajor der Weißen Armee T. I. Domanow und der SS-General der deutschen Armee Helmuth von Pannwitz. Sie waren als Agenten des deutschen Spionagedienstes tätig gewesen, kämpften während des Zweiten Weltkrieges mit den von ihnen zusammengestellten weißgardistischen Truppenteilen gegen die Sowjetunion und übten eine aktive Spionage-, Diversions- und Terrortätigkeit gegen die Sowjetunion aus… Gemäß §1 des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 19. April 1943 verurteilte das Militärkollegium sämtliche Angeklagten zum Tode durch den Strang. Das Urteil ist bereits vollstreckt worden."

49 Jahre später. Das Urteil gegen Pannwitz sei unbegründet, erklärt Rußlands Generalstaatsanwalt. "Es liegen keine Beweise vor, daß von Pannwitz oder die ihm unterstellten Einheiten Greueltaten oder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung oder die gefangengenommenen Rotarmisten zugelassen haben." Natürlich beinhaltet die Rehabilitierung des Deutschen auch den ideologischen Freispruch der antibolschewistischen Kosaken und ihrer Führer (die beiden Krasnow, Sultan Girej, die Weißgardistengeneräle Domanow, Skuro).

Ein Triumph des Revisionismus, dieser 23. April 1996. Ein Signal an Deutsche und Russen.

Rehabilitierung und Wiedergeburt des Kosakentums erleben seit dem Untergang der Sowjetunion stürmische Höhepunkte. Pjotr Krasnow und anderen Atamanen werden Denkmäler errichtet, der Ausstoß an Biographien ist gewaltig. Es gibt wieder (bewaffnete!) Kosakenheere, Atamane (zum Teil zerstritten, zum Teil verbündet), Selbstverwaltungsorgane, eine eigenständige Kosaken-Kultur mit Schulen, Radiostationen, Presse, Buchverlagen.

Eine Hauptforderung der Atamane, Mobilisierung und Aufstellung von autonomen Kosakenregimentern (mit schweren Waffen) und ihre spätere Eingliederung in die Elite einer russischen Nationalarmee, hat Jelzin bis heute nicht erfüllt, wohl aus Furcht vor "Separatismus" und vor militärischen Gegenkadern im Falle eines Bürgerkrieges. Anders als 1905 und 1917, würden die Kosaken heute auf der Seite der nationalen und sozialen Revolution kämpfen. Alexander Lebed, geboren in einer Staniza bei Nowotscherkaskam Unterlauf des Don, entstammt einer Donkosakenfamilie. Bei der letzten Präsidentschaftswahl, Sommer 1996, wurde Lebed von sämtlichen Atamanen und Kosakenheeren propagandistisch unterstützt.

Unter Pannwitz kämpften Kosaken vom Don, Kuban, Terek, Ural, aus Sibirien und Fernost. Unter deutschen und kosakischen Offizieren. Eine Vision für das deutsch-russische Waffenbündnis im 21. Jahrhundert. In einem Kosakenlied heißt es: "Wer im Kampf um die Freiheit fällt,/ der stirbt nicht,/ um ihn klagen Himmel und Erde,/ Tier und Natur,/ und die Sänger singen Lieder auf ihn."

Daß Stalin der größte Schlächter der Menschheitsgeschichte war, revisionistische Recherchen über das Jahr 1937, als die Große Säuberung ihrem Höhepunkt zusteuerte, beweisen es. Daß die bolschewistische Massenvernichtung, planmäßig organisiert und exekutiert, zwanzig Jahre zuvor begonnen hatte, dokumentiert eine aufsehenerregende Ausstellung im Moskauer Museum für Privatsammlungen. Erstmals wurde in Rußland das Archiv des Weißgardistenoffiziers Nikolaj Alexejewitsch Sokolow der Öffentlichkeit gezeigt. Sokolow diente in der Weißen Armee des Admirals Koltschak und wurde von diesem, nach der Eroberung von Jekaterinburg Sommer 1918, mit der Untersuchung der Ermordung der Zarenfamilie beauftragt. Nach einer Odyssee durch Europa (Deutschland, Liechtenstein, England) landete das Sokolow-Archiv wieder in Rußland. Hunderttausende sahen die Ausstellung bis Ende Oktober. Es bestätigt anschaulich die Forschungsresultate russischer Revisionisten über Lenins Oktoberputsch 1917, die Proklamierung des Roten Terrors, die Massakrierung der Zarenfamilie, die Eliminierung des Bauerntums und Bürgertums, des Adels und der Intelligenzija, die vieltausendfachen Geiselerschießungen, die Legalisierung des Konzentrationslager-Systems, das sich später zum GULag auswucherte.

Führt man sich die grauenvolle Bilanz des Vernichtungskrieges gegen die eigene Bevölkerung vor Augen, wird einem die Wahrheit der Solschenizyn-These von 1994 bewußt: daß ein Aufbrechen der wahren Gefühle der terrorisierten Völker gegenüber der Sowjetdiktatur nur in den Jahren des "sowjetisch-deutschen Krieges" möglich war ,,Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts" in Nowij mir, Heft 7,1994, deutsch bei Piper, München, S. 119).

Den Thesen Solschenizyns können sich nun deutsche Bolschewismus-Forscher nicht länger verschließen. "Immer mehr Menschen begannen, das Regime zu hassen und ihm ihre innere Gefolgschaft aufzukündigen", schreibt Markus Wehnerin der FAZ vom 30.August 1997. Er untersucht die Haßgefühle der unterdrückten Völker am Vorabend des 22. Juni 1941. Allein bei der Zwangskollektivierung zwischen 1928 und 1933 krepierten mindestens zehn Millionen Dorfbewohner, die meisten in der Ukraine, am Don und Kuban. Welchen Grund hätten die Überlebenden der staatsterroristischen Massaker gehabt, nach dem 22. Juni Stalin zu verteidigen, die Sowjetunion zu retten, ihr Blut für die Henker zu vergießen?

Ob "Barbarossa" ein Angriffskrieg, Präventivschlag, ein Gegenangriff oder ein Überfall war, aus der Sicht der unterdrückten Völker und Klassen bot der 22. Juni die letzte Chance, sich mit fremder Hilfe von einem in der Menschheitsgeschichte einmaligen Genozidregime zu befreien – lieber die deutschen Landser als die bolschewistischen Kommissare. Solschenizyn erinnert an die über drei Millionen Rotammisten, die sich "bereitwillig" im Sommer 1941 den Deutschen ergaben. In der Doppelschlacht von Brjansk und Wjasma vor den Toren Moskaus – ein Mega-Cannae – liefen 600 000 Russen und Ukrainer zu den Eroberern über, Oktober 1941.

Die immer noch andauernde Debatte im russischen wie deutschen Historikerstreit über die "Präventivkriegsthese" gewinnt damit eine ganz neue Deutungsdimension. Aus moralischer wie realpolitischer Sicht war die Zerstörung des Stalinschen GULag-Imperiums 1941 gerechtfertigt, unabhängig davon, wer die militärische Exekution vollzog.

Daß Stalin nach Wjasma und Brjansk die Schlacht um Moskau als verloren ansah und deshalb die Flucht in die Wolgastadt Kujbyschew – heute wieder Samara – in die Wege leitete, russischen Revisionisten ist das kein Staatsgeheimnis mehr. In Samara existiert heute ein Museum mit dem bombensicheren Rückzugsbunker Stalins. Der Völkerverächter wußte, daß "seine" Völker nicht mehr auf seiner Seite standen. Als Roman Herzog im heurigen Sommer Samara besuchte, weigerte er sich, den Bunker zu sehen. Wollte er nicht mit der historischen Wahrheit konfrontiert werden?

In einem Punkt irrt Markus Wehner. Die Enthauptung der Roten Armee im Jahre 1937 war an den militärischen und psychologischen Niederlagen von 1941 ursächlich nicht schuld, gehörten doch die Liquidierten einer in der Bevölkerung verhaßten Kaste an, der Kaste der "Bürgerkriegshelden", als marxistisch-leninistische Internationalen mitschuldig geworden an der Bürger-, Bauern- und Arbeiterverfolgung nach 1917. An ihren Händen klebte das Blut von Millionen. Den Aufbau des GULag-Systems hatten sie nicht nur geduldet, sondern praktisch gefördert. Die Mehrheit der 1937 erschossenen Militärführer bestand nicht aus ethnischen Russen, vielmehr aus russophoben Nichtrussen, vonJakirbis Eideman, Feldman, Alksnis, Uborewicz, Putna, Schmid, Gamarnik. Welcher slawische Muschik hätte für sie am 22. Juni sein Blut opfern wollen ? Erst viel später, im November 1941, vollzog der Georgier die Wende vom kommunistischen Internationalismus zum großrussischen Nationalismus, allerdings unter Beibehaltung des GULag-Syndroms.

Die politische Klasse in der Bonner Republik lebt immer noch mit ihren Geschichtslügen, darum ihr Haß auf den Revisionismus. Einen Beleg für die antifaschistische Lebenslüge findet man bei dem einst führenden SPD-Ideologen Erhard Eppler. Vergleiche zwischen Hitlerismus und Stalinismus, so Eppler 1987, würden den "ganz entscheidenden Unterschied" zwischen beiden Ideologien unberücksichtigt lassen, sei doch der Leninismus "ursprünglich aus einem humanistischen Ansatz entstanden". Als Beleg für den Humanismus im Gulagismus führte Eppler die Behauptung an, der Bolschewismus habe seine Greueltaten mit schlechtem Gewissen vollbracht, wörtlich: "in den schrecklichsten Zeiten Stalins blieb innerhalb der kommunistischen Parteien, vor allem in der Sowjetunion, immer noch ein Rest schlechten Gewissens." Dieses bolschewistische Gewissen aber, so der schwäbische Pietist, sei "der Stachel" eines Humanismus, "der sich vergewaltigt und entwürdigt fühlte". (Die Zitate stammen aus Epplers Rede beim Evangelischen Kirchentag 1987, nachzulesen in der von Gerhard Rein herausgegebenen Dokumentation "Deutsche Dialoge. Anstöße zu einem neuen Denken", Berlin 1987.) Mit "schlechtem Gewissen" singuläre Greuel vollbracht – der deutsche Sozialdemokrat Eppler scheint kein einziges Werk sowjetischer Tatzeugen gelesen zu haben.

Vernichtend widerlegt wird Eppler durch die berühmteste britische Autorin der Gegenwart, Doris Lessing ("Das fünfte Kind"). Nach dem Krieg trat sie in die englische KP ein. Heute urteilt die 78jährige: "Unsere Kultur ist zutiefst masochistisch. In der Partei zu bleiben mit ihrer Identifizierung, also mit Leiden, Revolution und Blut und der Redensart, schließlich könne man kein Omelett zubereiten, ohne Eier zu zerschlagen und so weiter – es war zweifellos die Anziehungskraft von Gewalt und Leiden, was uns fesselte… Wir haben noch nicht genügend analysiert, warum jener Teil der Gesellschaft, der sich für den humansten hielt, das wahrscheinlich brutalste Regime unterstützte, das die Welt je gekannt hat. Es muß irgendeinen psychologischen Grund dafür geben, rational ist es nicht zu erklären." (DIE WELT, 8. September 1997).

In ihrer Autobiographie ("Unter der Hand", "Schritte im Schattens") begründete Doris Lessing ihre Zentralthese, wonach Stalins Verbrechen grauenhafter und zahlreicher gewesen sind als die von Hitler. Auf die Frage des WELT-Korrespondenten Alfred Starkmann, ob ein Verbrechen den Holocaust überhaupt übertreffen könne, antwortet Doris Lessing mit Ja, indem sie vergleicht: "…bei Stalin gab es überhaupt nichts Unüberlegtes. Er hat bewußt die Hungersnot in der Ukraine herbeigeführt, der schätzungsweise neun Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ich kann verstehen, daß manch einer sagt, das sei nicht so schlimm wie die systematische Einrichtung von Todeslagern. Trotzdem, ich bin Leuten begegnet, die Bescheid wußten, was in der Sowjetunion vor sich ging. Ganze Landstriche hungerten, es gab Kannibalismus – organisiert von unserem lieben Freund Comrade Joe. Jetzt gelangt eine Menge Material aus Rußland zu uns, ich habe einiges davon gesehen. Ich will nicht übertreiben, aber Stalin hätte Hitler noch einiges lehren können…"


Quelle: Staatsbriefe 8(10) (1997), S. 12-15

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