WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (1)
Die Wanderausstellung des privaten Hamburger Instituts für Sozialforschung - Fälschung oder Wahrheit? Propaganda oder Wissenschaft? Alles echt und korrekt, aber nur provokativ arrangiert, meint das Deutsche Historische Museum Berlin. Sein stellvertretender Generaldirektor, Dieter Vorsteher, spricht von "Generalisierung", dem Fehlen von Hintergrundinformationen zum Zweiten Weltkrieg, von schmalbrüstiger Schau" (WELT am 17. März).
So behaupten die Aussteller, an den "Verbrechen der Wehrmacht" sei auch die 6. Armee beteiligt gewesen. 6. Armee, ein Synonym für Stalingrad.
Ober die Schlacht um Stalingrad sind zahllose Werke erschienen, aus deutscher wie sowjetischer bzw. russischer Feder. Memoiren, Tagebücher, kriegsgeschichtliche Untersuchungen, Fronterinnerungen der Landser, Romane. Rechtfertigungsliteratur, Anklageliteratur. Die allermeisten Werke berücksichtigen nur den militärischen Aspekt. Doch was geschah im Hinterland der 6. Armee, in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten zwischen Donez, Don, Wolga, was speziell in der Region Stalingrad? Die teils russische, teils ukrainische Bevölkerung, wie verhielt sie sich, auf wessen Seite schlug sie sich 1942/1943?
Geschichte vom Geschehen vor Ort, Etappen-Geschichte, Geschichte von Menschen in Dörfern, Städten, Arbeitersiedlungen - gibt es das?
Bürgermeister, die in freier und direkter Wahl von den Dorfbewohnern ernannt werden, ohne Einmischung der Wehrmacht - Komsomolzen aus der Arbeiterjugend, die sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht oder Hilfspolizei melden - Bauern, die die Auflösung der Kolchosen in die eigene Hand nehmen und den Boden unter sich aufteilen, unterstützt von deutschen Soldaten - Kosaken, die ihre traditionellen Verbände wiedergründen - Ehemalige Parteimitglieder, die mit den Deutschen zusammenarbeiten und in Selbstverwaltungsorgane aufrücken - Gläubige, die von der Wehrmacht ihre orthodoxen Kirchen, religiösen Schätze, selbst ihr Gemeindeeigentum zurückerhalten.
So unglaublich es klingen mag, all das hat es gegeben in den dramatischen Sommermonaten des Jahres 1942. Darüber berichten zwei russische Wissenschaftler der jüngeren Generation. Ein sensationeller Befund über die andere Seite von Stalingrad, bislang noch in keiner Ausstellung gezeigt. Die Verfasser dieser sensationellen Dokumentation sind A. Epifanow und V. Lomow, letzterer Professor am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte des Staates und des Rechts im heutigen Wolgograd. Aus Stalingrad stammt der Zeithistoriker Epifanow, in der Glasnost-Ära Geschichtspädagoge für Untersuchungsrichter des damaligen sowjetischen Innenministeriums (MWD).
Beide Autoren stützen sich ausschließlich auf authentische Angaben. Im wesentlichen sind das Berichte und Briefe der NKWD-Verwaltungen des Stalingrader Gebietes und des Gebietskomitees der KPdSU nach 1942. Diese Dokumente galten bis 1991 als geheim und dienten während der Sowjetzeit zu Nachforschungszwecken der beteiligten Behörden, also Geheimpolizei, Justiz, Innenministerium. In deutscher Übersetzung erschien der Epifanow/Lomow-Report in "Die Tragödie der deutscben Kiiegsgefangenen in Stalingrad1942 bis 1956" herausgegeben vom BIBLIO-Verlag, Osnabrück Herbst 1996.
In der Einleitung zum Kapitel 8, Seite 131, schreiben Epifanow und Lomow: Die von der sowjetischen Propaganda verbreiteten Darstellungen des Besatzungsregimes der deutschen Wehrmacht, die nach ihrem tatsächlichen Charakter nichts mit Greueltaten und Verbrechen zu tun hatte, waren "eines der verlogenen Themen der traditionellen sowjetischen Geschichtsschreibung über den 2. Weltkrieg. Das gleiche kann man auch über die wahre Art, die Tiefe und den ganzen Umfang der Kollaborationsbereitschaft vieler sowjetischer Bürger mit den Okkupanten der besetzten Gebiete der UdSSR feststellen ( ). Die Aufklärung hat nicht nur der historischen Wahrheit und der Objektivität zu dienen, sondern auch der moralischen Befreiung von den negativen Erscheinungen, die unter den Bedingungen des Stalinschen Totalitarismus hervortraten."
Die Forschungsresultate der beiden russischen Historiker (die ihre Texte vermutlich noch in der Glasnost-Ära geschrieben haben, wie die heute antiquierte Terminologie verrät) geben Aufschluß über die soziale Herkunft jener Mehrheiten der russischen bzw. ukrainischen Bevölkerung, die in den Wehrmachtssoldaten ihre Befreier erblickten und die folglich zur freiwilligen Zusammenarbeit entschlossen waren: 1. die von der Sowjetmacht enteigneten, diskriminierten Bauern aller Schichten; 2. ehemalige Weißgardisten und ihre Nachkommen; 3. die Kosakenschaft; 4. bekennende rechtgläubige Christen, vor allem Priester und Frauen; 5. von der Stalinschen Verfolgung Betroffene, Terroropfer der dreißiger Jahre wie ehemalige GULag-Häftlinge; 6. antibolsdiewitisch ausgerichtete Jugendliche aus der Arbeiterklasse (S. 140,149).
Und ihre Motive? Anhand der Untersuchungsunterlagen des NK\VD kristallisieren sich drei Hauptbeweggründe heraus: Abgrundtiefer, militanter Haß auf die arbeiter- und bauernfeindliche Politik der Bolschewiki, Wille zur Selbstbefreiung mit Hilfe der Wehrmacht, Überzeugung von der Unbesiegbarkeit der deutschen Armee. Laut Epifanow und Lomow erkannte die Bevölkerungsmehrheit im Bolschewismus (nicht nur im Stalinismus!) einen permanenten Vernichtungskrieg gegen die eigene nationale Identität und Existenz - Russentum, Kosakentum, Ukrainertum.
Die Motive waren ethischer und ethnischer Art. "Ein Aufbrechen der wahren Gefühle des Volkes gegenüber der Macht war nur in den Jahren des sowjetisch-deutschen Krieges möglich", bemerkte Alexander Solschenizyn in seinem immer noch lesenswerten Essay "Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts, erstmals erschienen 1994 in der Moskauer Literaturzeitschrift Nowij Mir (Neue Welt), Heft 7. Und wie deutlich zeigten sie sich!: allein im Sommer 1941 in den über drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, die sich bereitwillig ergeben hatten, 1943-44 in den ganzen Karawanen von Menschen, die freiwillig den zurückgehenden deutschen Truppen folgten, so als wären es die eigenen Soldaten Während der ersten Monate des Krieges hätte die Sowjetmacht leicht zusammenbrechen können (Deutsch bei Piper München, 1994, S. 119).
Aber nicht nur in den ersten Kriegsmonaten des Jahres 1941, auch noch in den letzten Monaten des Jahres 1942, wie dies Epifanow und Lomow authentisch nachweisen, deren Forschungsresultate die demagogische Ausstellung "Vernichungskrieg - Verbrechen der Wehnnacht 1941-1944 "nicht nur ergänzen, korrigieren, sondern widerlegen, vom wissenschaftlichen Standpunkt, in Inhalt und Tendenz.
Ganz ohne Berücksichtigung des militärischen Aspekts ist eine Erklärung dieses Phänomens unmöglich. Das Schlüsselereignis ist die Schlacht bei Kalatsch zwischen dem 20. Juli und 8. August 1942. Brennpunkte der Schlacht zwischen Don und Tschir waren Kremenskaja, Tschirskaja, Morosowskaja, Potiernkinskaja, Millerowo, Kalatsch. In dieser Kesselschlacht kapitulierten ca. 75 000 Rotarmisten, zerschlagen die 1. sowjetische Panzerarmee, die 62. und 64. Sowjetarmee. Die Folge war die Eroberung der Landbrücke zwischen Don und Wolga. Daran beteiligt waren die Ostpreußen der 24. Panzerdivision, die Westfalen der 16. Pz. D., die Sachsen der 14. Pz. D., die Niedersachsen der 71. Infanteriedivision. Im Brennpunkt der Schlacht kämpften die 3. Berlinbrandenburgische Panzergrenadierdivision, die Danziger und Westpreußen der 60. 1. D. (mot.).
Ende August 1942 hatten die Wehrmachtstruppen 16 Landbezirke des Stalingrader Gebietes und folgende Stadtviertel von Stalingrad besetzt: Traktorenwerk, Ermanwerk, Woroschilowsk, Roter Oktober, Rote Barrikade, Dzerschinski. Auf diesem Territorium lebten vor der Besetzung 525 000 Stadtbewohner und 260 000 Dorfeinwohner, insgesamt 785 000 Menschen. Die meisten waren nicht evakuiert worden. Insgesamt sechs Monate befand sich die Wehrmacht auf Stalingrader Gebiet. Epifanow: "In dieser Zeit gelang es den Deutschen, das gesamte System der Organe für Besatzung und Verwaltung aufzubauen. Besonders tief und verzweigt war das System der am Don liegenden Bezirke" (S. 131).
Zu den ersten Maßnahmen nach der deutschen Eroberung zählten die Abhaltung von Dorfversammlungen, auf denen die Dorfältesten gewählt wurden, die Aufstellung einer russischen Hilfspolizei, die Öffnung von Kirchen, die Wiederbelebung des religiösen Lebens mit Gottesdiensten, Taufen, Eheschließungen - und arbeitsfreien Sonntagen. In einigen ländlichen Bezirken duldete die Wehrmacht die Auflösung der Staatsgüter (Kolchosen, Sowchosen) und die Gründung privater Bauernbetriebe.
Die russischen Autoren verschweigen nicht Partisanenerschießungen - detailliert geschildert -, Razzien, Verhaftungen von Juden und andere Strafaktionen" (S. 133 f). Für Diebstahl und Brandstiftung wurden Geldstrafen verhängt, oder es erfolgte eine zeitweilige "Inhaftnahme" (Epifanow, S. 135). Trotz dieser "Repressionsmaßnahmen" der Besatzungsbehörden erfaßte die "Kollaborationsbereitschaft" auch die einstigen Träger des sowjetischen Regimes - Komsomolzen und Kommunisten, darunter altgediente Parteimitglieder.
Dazu heißt es auf den Seiten 141 und 150: "Die deutschen Besatzer führten gegen die verbliebenen Kommunisten und Komsomolzen keine offenen Repressalien durch, sie vesuchten sie eher in die Verwaltungsarbeit und in Ämter zu ziehen. Das NKWD mußte feststellen, daß die meisten von ihnen den Deutschen aktiv halfen Ein erheblicher Teil der Mädchen, darunter auch viele Komsomolmitglieder, lebten mit deutschen Offizieren und Soldaten zusammen, und ein Teil floh beim Zurückweichen der deutschen Armee und schloß sich deren Truppen an. Vom NKWD wurden auch viele Fälle von offiziellen Eheschließungen mit deutschen Offizieren festgestellt Die Jugendlichen arbeiteten gerne in den deutschen Kommandanturen, bei der Polizei, in den Dorfverwaltungen und in anderen Verwaltungs- und Wirtschaftsämtern ( ). Im Dezember 1942 wurde im Woroschilowsker Bezirk die antisowjetische Organisation 'Nationaler Arbeiterverein der neuen Generation' entdeckt In diese Organisation waren hauptsächlich Jugendliche aus dem Kreis der Komsomolzen aufgenommen worden. Das Hauptkontingent stellten Jugendliche der 8. bis 10. Klassen der Mittelschulen und die lese- und schreibkundigen Jugendlichen des Sowjetapparates. Die meisten Teilnehmer waren tatsächlich Komsomolzen."
Sergej Lomow zitiert aus einem geheimen Sonderbericht der NKWD-Leitung des Stalingrader Gebietes vom 15. April 1943: "Es ist beachtenswert, daß anstatt von Massenrepressalien die Deutschen gerade die Komsomolzen zu antisowjetischer Propaganda heranziehen. Dabei betreiben die Besatzer eine Politik der Annäherung zu jugendlichen und Komsomolzen. Besonders in den am Don liegenden Bezirken unterstreichen die Besatzer den Unterschied zwischen 'Kosakenjugend' und 'Sowjetjugend' sowie die Kampfeslust der ersteren und die Mißachtung ihrer positiven freiheitlichen Eigenschaften durch die Sowjetmacht ( ). Im Bezirk Kotelnikow wurde ab Anfang September 1942 das faschistische Blatt 'Kotelnikowsker Neuigkeiten' herausgegeben. Es wurde ein Sonderaufruf an die Jugendlichen gerichtet, freiwillig der deutschen Armee beizutreten. Als Ergebnis dieser Kampagne traten über 50 Jugendliche im Bezirk Kotelnikow in die deutsche Armee ein In der Stadt Stalingrad befanden sich für Wach- und Konvoidienste Einheiten mit 800 ukrainischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren ( ). Die meisten Jugendlichen zeigten sich unter dem Einfluß der Propaganda der Besatzer als nicht standfest und zu feige; sie gingen einfach auf die Seite des Feindes über. Allein 50 Prozent der Komsomolzen, die auf dem besetzten Gebiet verblieben waren, arbeiteten in den Verwaltungsorganen, vorwiegend in den deutschen Kommandanturen, Bezirks- oder Dorfverwaltungen Viele der konterrevolutionären Elemente aus dem Kreis der Jugendlichen gingen ins Hinterland und dort zu den Okkupanten über, und mehr als 50 Prozent aller Komsomolzen haben demonstrativ ihre Mitgliedsbücher verbrannt" (S. 149, 153, 154).
Was damals konterrevolutionär und was revolutionär war, hat die jüngste Geschichte mit dem Untergang des vorletzten Kolonialimperiums und der zweiten Weltmacht beantwortet. Warum die Sowjetunion an sich selbst zugrunde ging, im Inneren zerfiel, das hatten schon jene proletarischen Stalingrader Komsomolzen gewußt, 1942, für die es kein nationaler Verrat war, auf die Seite der Eroberer zu treten. Die welthistorische Wende von 1991, die Russische Augustrevolution, eine frühe, vom Wind der Geschichte fast verwehte Spur der untergegangenen, mythenlebendigen 6. Armee, die in der deutschenfeindlichen Wehrmachtsausstellung als "Verbrecherorganisation" am Pranger steht.
In der Passage "Schlußfolgerungen" des erwähnten Geheimdossiers, unterschrieben vom NKWD-Kommissar Woronin und Major Filippow, wird noch einmal das ziemlich große Ausmaß der Zusammenarbeit zwischen Komsomoljugend und Wehrmacht hervorgehoben, natürlich in der Sprache der stalinistischen Geheimpolizei: Das Benehmen der meisten Jugendlichen, die im Hinterland des Feindes verblieben sind, war negativ. Einige beschritten sogar den Weg des Verrats. Das negative Verhalten der Jugendlichen zeigt sich in der mangelnden ideologischen Standhaftigkeit, in der Beteiligung und Mitarbeit in den Verwaltungsorganen der Besatzer, in intimen und anderen Beziehungen zu den Offizieren und Soldaten des Gegners. Die festen Beziehungen der meisten weiblichen Jugendlichen zu den Soldaten und Offizieren des Gegners basieren zu einem großen Teil auf dem Einfluß und der Haltung der profaschistisch gesinnten Elemente unter den Erwachsenen. Das Benehmen der Intelligenzler unter den jugendlichen (Schüler, Lehrlinge, Lehrer u. a.) war maßgebend für die Schicht der Jugendlichen aus dem Kreis der Arbeiter und Bauern, die nicht so standhaft waren, was auch andere Jugendliche sehr beeinflußte. Die Hauptursache solchen Benehmens der Jugendlichen waren mangelnde Standfestigkeit, Schwanken und Zweifeln an der Rückkehr und dem Sieg der Roten Armee. Dieses Zweifeln und die mangelnde Standfestigkeit wurden den Jugendlichen durch folgende Umstände eingeflößt: a) eine zu lange Besatzungszeit in den Bezirken des Stalingrader Gebietes, die am Don liegen; b) die gute technische Ausrüstung und die mustergültige Disziplin der deutschen Wehrmacht; c) die aktive Propaganda der Besatzer über die Unbesiegbarkeit der deutschen Armee und die bevorstehende Zerschlagung der Roten Armee" (S. 157). Ausdrücklich heißt es, deutschfreundliches Benehmen und prodeutsche Haltung im Privaten wie im Politischen seien typisch gewesen bei den "meisten" Jugendlichen in den besetzten Bezirken Stalingrads und des Stalingrader Gebietes.
Die Strafe war hart. Nach der Wiederbesetzung der Donprovinzen durch die Sowjetarmee herrschte blanker Terror, russisch "istreblenije" (Ausrottung). Epifanow: "Die Sowjetbürger, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, wurden gnadenlos von den Sturmtruppen der Roten Armee vernichtet. In den Berichten der örtlichen NKWD-Organe konnte man lesen, daß die Verhafteten ohne Gerichtsverfahren von Sonderabteilungen der Truppenteile erschossen wurden." (S. 143). Die Verfolgung der Familienangehörigen basierte auf Sippenhaft. Eltern, Geschwister, Ehegatten und Kinder wurden deportiert oder in den GULag gesteckt. Das war nach den bolschewistischen Genozidfeldzügen von 1917-21, 1928-33, 1936-39 die vierte Vernichtungswelle in der Heimat des Donkosakentums.
Bei einer Podiumsdiskussion anläßlich der Münchner Ausstellung, moderiert von SZ-Ressortchef Heribert Prantl, sagte Ralph Giordano, die Bundeswehr müsse die Geschichte der Wehrmacht im Osten "mit den Augen der Leidtragenden sehen" (SZ vom 20. März). Meinte Giordano jene Teile des russischen, ukrainischen, kosakischen Volkes, die, gezeichnet vom Leid einer fünfundzwanzigjährigen kommunistischen Vernichtungsherrschaft, 1941/42 in den deutschen Wehrmachtssoldaten eben nicht Verbrecher sahen, sondern ihre Befreier? Gewiß meinte der frühere Kommunist das nicht, und so darf man auch nicht darauf hoffen, Giordano könnte eine Ausstellung über "Vernicbtungskrieg - Verbrechen der Roten Armee, KPdSU und des NKWD " verlangen. Eine derartige Ausstellung könnte auch lauten: "Die Wehrmacht in den Augen der Leidtragenden." Welche, das haben die russischen Historiker Epifanow und Lomow ermittelt.
Auf der Podiumsdiskussion, veranstaltet von der SPD-nahen Neuen Richtervereinigung, erklärte Hans-Ernst Böttcher, Präsident des Landgerichts Lübeck, die Bundeswehr habe sich von Anfang an "entgegen allem, was verlangt ist, in ihrer Realität als Nachfolgerin der Wehrmacht gefühlt". Für die Traditionsbildung sei die Wehrmacht ein Vorbild gewesen. Das war einmal, für die Bundeswehr der Rühe-Ara mit ihren Kasernenumbenennungen stimmt es gewiß nicht mehr.
Angenommen, die Wehrmacht wäre am 22. Juni 1941 in ein Land friedlichen, blühenden sozialistischen Aufbaus eingefallen, ein Grenzgebiet ohne Kasernen, Panzeransammlungen, Flugplätze, ein Staat mit einer pazifistischen Führung, die keinerlei Aggressionsabsichten hegte. Angenommen, die Soldaten dieses Landes hätten in keinem einzigen Fall den Weg der Kapitulation oder Desertion beschritten, wären weder übergelaufen noch zurückgegangen. Angenommen, die Verteidiger dieses Landes wären 1941 von einem Sieg zum anderen Sieg marschiert. Angenommen, die Bauern dieses Landes hätten die Invasoren weder mit Salz und Brot noch mit Ikonen empfangen. Angenommen, daß all dies stattgefunden hat, würde der ARD-Film "Paulus" vom 2. Februar 1997 die Wahrheit widerspiegeln.
Nur - das "Angenommen" ist ein Märchen. Zum Nachteil, zum Schaden des Filmemachers Henry Köhler hat sich seine Paulus-Geschichte in der Kriegsgeschichte ganz anders zugetragen. Köhler wollte das Porträt eines deutschen Generalfeldmarschalls aufzeigen; was im ARD herauskam, war ein Musterexemplar totaler Geschichtsfälschung - was bei ARD gar nichts Neues wäre. Die Stalin kommen und gehen, die deutsche Fälscherwerkstatt bleibt.
Im Mittelpunkt die Schlacht um Stalingrad, die ja bekanntlich nicht der militärstrategische Wendepunkt des Ostkrieges gewesen ist, auch wenn ein Geschichtsdilettant das Gegenteil behauptet.
Zitiert Henry Köhler aus den Memoiren der Sowjet-Marschälle Tschuikow, Rokossowski, Jereinenko, Schukow? Nein. Werden Werke des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Freiburg beziehungsweise Potsdam herangezogen? Nein. Offeriert Köhler renommierte russische, deutsche, britische Kriegshistoriker als Kommentatoren der Stalingrad-Schlacht? Nein. Weder Hoffmann noch Nolte, Post, Maser, Topitsch, Jäckel, Meyer, Heiber.
Als "Zeitzeugen" läßt Köhler eine der zwielichtigsten Figuren aus der Propagandaszene der Stalinschen Ära, Lew Besumenki auftreten. Ehrenburgs Genosse von der Feder, von der heutigen russischen Historikerzunft verspottet, beziehungsweise geächtet, darf als Greis über herrliche Stalinsche Siege salbadern, gesponsert von ARD.
Über herausragende russische Revisionisten hatte der ARD-Filmemacher anscheinend keine Kenntnis. Zu diesen zählt eben der junge Historiker A. Epifanow, Ko-Autor des Buches Die Tragödie der deutschen Kriegsgefangenen in Stalingrad 1942 bis 1956« Dozent für Ausbildung von Untersuchungsrichtern im russischen Innenministerium mit einer Schlüsselstellung im Geschichtsunterricht für Justizbeamte.
Kein Wunder, daß Henry Köhler die folgende Tatsache unterschlägt: Nach den in amerikanischen Archiven befindlichen Kriegstagebüchern der 6. Armee befanden sich Mitte Dezember 1942 ca. 230 000 Wehrmachtssoldaten und Verbündete im Kessel, darunter 13 000 Rumänen und ca. 20 000 russische Überläufer beziehungsweise Gefangene, die bis zum tragischen Ende der 6. Armee als "Hilfswillige" (Hiwis) an deutscher Seite aushielten. Munitionsträger, Sanitäter, Schützen, auch Frauen.
Der ARD-Film vom 2. Februar 1997 wäre vor 1953 sicher mit einem Stalinpreis ausgezeichnet worden. Die Fakten sind jedem russischen Offiziersschüler von 1997 bekannt. Auch einem Alexander Lebed. Der Fall von Stalingrad schien Anfang Oktober 1942 besiegelt gewesen zu sein, als General Lopatin seine 62. Armee aus Stalingrad zurücknehmen wollte, weil er, die schrecklichen Verluste vor Augen, nur ihre Vernichtung sah. Stalingrad hätte also auch zu einem ,,Stalingrad" für Stalin werden können. Lopatin wurde von Stalins Politoberkommissar Chruschtschow abgesetzt; sein Nachfolger wurde der Sibirjake Wassilij Tschuikow; Mitte November 1942 verteidigte dieser nur noch ein Zehntel des Stadtgebietes.
In seinen Erinnerungen "Am Anfang des Weges " (Moskau 1959) bestätigt der spätere Marschall Tschuikow, daß noch Ende Januar 1943 von Paulus sieben Sowjetarmeen vollauf gebunden wurden, Stalins letztes Aufgebot, 60 Großverbände der Sowjetarmee (mit 85 Prozent aller Panzertruppen), die durch den Endkampf der 6. Armee gehindert wurden, Rostow zu erobern und den Südflügel der deutschen Ostfront (Kaukausus) zum Einsturz zu bringen.
Ob das Opfer der 6. Armee rückschauend im Sinne einer politischen Wertung des Ostkrieges richtig war, ist eine andere Frage; daß Henry K. diese Frage nicht einmal im Ansatz stellt, degradiert seinen Paulus-Film zu einem spätstalinistischen Machwerk. Die ARD-Verantwortlichen scheinen beim Jahr 1991 stehengeblieben zu sein. Heute lernen russische Kadetten in Moskau, Twer, Tula, Sankt Petersburg, was Härte, Standhaftigkeit, Todesmut bedeuten können. Am Beispiel der deutschen 6. Armee.
Der amerikanische Historiker Jacob Heilbrunn, Mitherausgeber der linksliberalen The New Republic, zitierte in der Oktober/November-Nummer der Zeitschrift Foreign Affairs Robert von Rimscha, Ko-Autor des Buches "Political correctness in Deutschland". Rimscha habe ihm gegenüber, berichtet Heilbrunn, den Durchbruch des Geschichtsrevisionismus und eine Epoche revisionistischer Veröffentlichungen vorausgesagt ("in the next 20 to 30 years there will be a flood of revisionist books. I am sure of it"). Für Heilbrunn ein Unglück historischen Ausmaßes, aber nicht nur für ihn.
Die Mehrheit bundesrepublikanischer Historiker und ihrer publizistischen Sekundanten erblickt in der anwachsenden Flut revisionistischer Schriften - in deutscher, russischer, ukrainischer, englischer Sprache - eine existentielle Bedrohung.
Das Ende ihrer Dogmen und Doktrinen. "Eine moralisch, wissenschaftlich und politisch kompromittierte 'Zeitgeschichtsschreibung' steht heute vor ihrem, von dem österreichischen Sozialphilosophen Professor Ernst Topitsch vorausgesagten 'Cannae'", urteilt einer der führenden Kriegsursachenforscher, Joachim Hoffmann, Wissenschaftlicher Direktor a. D. im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA), Verfasser des Buches, Stalins Vernichtungskrieg 1941-19451, 1995, mittlerweile in 3. Auflage.
Quelle: Staatsbriefe 8(4) (1997), S. 11-14