WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES
REVISIONISMUS UM DEUTSCHLAND HERUM (1)

Rollstuhlfahrer in den Rhein stürzen - so demonstrierten am 15.Januar sechstausend Menschen gegen die Kahlschlagpolitik auf dem Gesundheitssektor ("Regierung wirft chronisch Kranke über Bord"). Von einem Bonner Ausflugsdampfer wurden Puppen in Rollstühlen ins Wasser gestoßen, sie erinnerten an schwimmende Leichen. Über Bord geworfen zu werden, das verdienen aber auch die maroden Dogmen Bonner Geschichtspäpste aus dem Irrenhaus der Konterrevisionisten. Geschichtsklitterung und Faktenverfälschung sind schlimmer als Kurenstreichung und Medikamentenverteuerung - sie können und sollen vielleicht auch ein Volk um den Verstand bringen.

Selbst ein amerikanischer Kommunismus-Forscher spricht schon von Stalins Generalplan der "Sowjetisierung Europas" ("sovietization of Europe from Germany to the channel"). R C. Raack, emeritierter Geschichtsprofessor der Califomia State University, Verfasser des Standardwerkes

" Stalin's Drive to the West " ("Stalins Drang nach Westen"), Autor zahlreicher Studien in der angesehenen US-Zeitschrift World Affairs, stützt sich auf Moskauer und Nowosibirsker Publikationen russischer Revisionisten - in den Staatsbriefen des Jahrgangs 1996 ausführlich erwähnt.

Raack kritisiert dabei die Totschweige-Taktik amerikanischer und deutscher Blätter, wobei er den Spiegel im Visier hat. Augstein würde immer noch die Phraseologie der Stalinschen Imperialismuspolitik nachplappern, rügt der Amerikaner ("Stalin's reputation is still tenderly guarded in the Spiegel's Hamburg, as well as, it appears, in a number of New York editorial offices"). Augsteins Feldzug gegen die Suworow-Bücher und die Forschungsergebnisse deutscher Revisionisten vergleicht Raack gar mit der Goebbelschen Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz 1933.

Aber wenn es nur ein Augstein wäre…In seiner "Philosophie der Geschichte" erkannte Hegel ein schockierendes historisches Muster - den Verfall und Untergang von Zivilisationen aufgrund einer krankhaften Übersteigerung ihrer eigenen Hauptprinzipien. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind Zerfall und Sturz des kapitalistischen Liberalismus mit seinen Kardinalprinzipien Individualismus, Hedonismus, Konterrevisionismus. Das illustriert die folgende Episode.

Am Nachmittag des 12. Mai 1993 wurde im Freiburger Militärgeschichtlichen Forschungsamt ein Fachgespräch zwischen Viktor Suworow und dem Wissenschaftlichen Direktor Joachim Hoffmann über die Frage des "Präventivkrieges" 1941 von einem Moskauer Fernsehteam aufgenommen. Anwesend neben den Genannten waren der Regisseur Sinelnikow, ein Dolmetscher und sieben russische TV-Operateure. Sinelnikow richtete zunächst das Wort an Hoffmann und erbat dessen Meinung in einer strittigen Angelegenheit, wobei er seine Fassungslosigkeit nicht verbarg.

Er hätte auf seiner Deutschlandreise auch Richard von Weizsäcker, die Gräfin Dönhoff, Egon Bahr, den Grafen von Einsiedel (heute PDS-Bundestagsabgeordneter) und andere Persönlichkeiten der politischen Klasse zum Thema "Präventivkrieg" befragt. Und man hätte ihm geantwortet, daß, selbst wenn Viktor Suworow recht hätte, und Hitler Stalin zuvorgekommen wäre, dies niemals gesagt werden dürfe, weil damit ja Hitler entlastet würde. Was er, Hoffmann, wohl dazu meine.

Dieser antwortete sinngemäß, daß diese Reaktion bezeichnend wäre für die in der Bundesrepublik verbreitete Unmoral. Die Deutschen in ihrem Egoismus merkten schon gar nicht mehr, was sie hier von den Russen eigentlich verlangten. Denn das hieße doch nichts anderes, als daß sie meinten, die Russen könnten ja ruhig mit den stalinistischen Propagandalügen weiter leben, wenn nur sie, die Deutschen, ein Alibi in Hitler hätten. Die negative Erscheinung Hitlers aber brauchten sie, um der Welt - und das auf Kosten der Russen - zu demonstrieren, was für gute und edle Menschen sie doch heute geworden seien.

Im Gedächtnisprotokoll Hoffmanns vom 12. Mai 1993 heißt es ergänzend dazu: "Hitler ist einem mit überwältigenden Kräften vorbereiteten Angriff Stalins erwiesenermaßen nur kurzfristig zuvorgekommen. Das sagt aber natürlich nichts über seine eigenen Kriegsziele in Rußland aus."

Auf dieses Kapitel kommt Hoffmann drei Jahre später zurück, in seiner Stellungnahme in der FAZ vom 11. Mai 1996: "Am 12. Mai 1993 nahm das Moskauer Fernsehen im Militärgeschichtlichen Forschungsamt eine Diskussion zwischen meinem Freunde Viktor Suworow und mir über diese Fragen auf. Der Regisseur erbat eingangs in ziemlicher Fassungslosigkeit von mir eine Erklärung zu dem, was einige prominente deutsche Persönlichkeiten ihm zuvor gesagt hatten, nämlich daß, selbst wenn Viktor Suworow recht hätte und Hitler Stalin zuvorgekommen wäre, dieses niemals gesagt werden dürfe, weil damit ja Hitler entlastet werden würde. Vielleicht ist dies eine Erklärung für die Penetranz, mit der die Verfechter überholter Anschauungen an den längst widerlegten Thesen festhalten."

Es ist kaum zu glauben: bundesrepublikanische Publizisten und Politiker in der Rolle von Geschichtsfälschern mit antideutscher und antirussischer Stoßrichtung.

Könnte man einen Historiker ernst nehmen, der da behaupten wollte, der Einfall der Mongolenheere in Polen und in das Deutsche Reich Mitte des 13.Jahrhunderts wäre von den Staufern provoziert worden? Batu Chan der Befreier Europas, Friedrich II. der Aggressor des Abendlandes? Der stupor mundi ein Frühfaschist, der Mongolenchan ein friedensliebender Präbolschewik? Die Schlacht auf der Wahlstatt bei Liegnitz am 9. April 1241, in der Heinrich II. von Schlesien fiel, ein Unglück für Europa, weil Asien gehindert wurde, bis Aachen, Paris, Madrid vorzustoßen ? Tataren als emanzipatorische Rotarmisten des Mittelalters, christliche deutsche Ritter als Vergewaltiger der christlichen Völker? Mongolisierung zur Rettung des Abendlandes, wie später die Sowjetisierung Ost- und Mitteldeutschlands, als in der Schlacht um Berlin Stalin über Hitler siegte? Batu Chan oder Friedrich II., eine Frage von Fortschritt oder Rückschritt? Die "orientalische Despotie"(Marx) der Mongolen und später der Bolschewiki, ein leider gescheitertes Experiment zur Befreiung und Befriedung des Abendlandes? Auf dieser Wahnsinnsebene bewegen sich die Einsiedel, Bahr, Weizsäcker.

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Politisch ist der Wahnsinn nicht zu erklären, nur pathologisch. Der französische Soziologe Emmanuel Todd behält recht: die politische Klasse Bonns gleicht einem Karzinom, gewuchert aus einem Schuld- und Selbstauslöschungssyndrom. Der Selbsthaß ist die Immunschwäche der Bonner Republik, Furcht vor der Geschichtswahrheit ihre Lebenslüge. Dieses Deutschland ist ohne religiöse Tiefe, vom Konsumismus geschwächt, vom Liberalismus verwüstet, vom Antirevisionismus lächerlich gemacht.

Für amerikanische, englische, russische Geschichtsforscher gilt Joachim Hoffmann als Kronzeuge für die Stalin-Kriegsthese: Deutschland und Westeuropa überfallen, bevor Hitler nach Osten marschiert. Zitiert werden zahlreiche Veröffentlichungen Hoffmanns zum Thema Zweiter Weltkrieg, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, so "Die Rote Armee bis Kriegsbeginn 1941" (Stuttgart 1983) und die "Geschichte der Wlassow-Armee" (Freiburg 1984). Hoffmanns Argumente publiziert auch die führende englische militärgeschichtliche Zeitschrift ROSI (Journal of the Royal United Services Institute for Defence Studies).

Über den Forschungsdrang nordamerikanischer Experten erfährt der interessierte deutsche Leser nichts - dank ZEIT; STERN, SPIEGEL, SZ, FAZ. So erfuhr er auch nichts über den Beitrag von R C. Raack, erschienen in World Affairs, Nr. 159/96, S. 47-54, betitelt "Stalin's Role in the Coming of World War II/The intemational debate goes on". Bestätigt wurden darin nicht nur die Forschungsresultate Joachim Hoffmanns, sondern auch die Staatsbriefe-Artikel "Es war kein Überfall, es war ein Gegenangriff".

Raack sieht es aufgrund aller bisherigen Aktenbunde und Archivrecherchen als erwiesen an, daß die Sowjetarmee im Sommer 1941 Deutschland überfallen wollte. Als "the most important document" aus den Aktenfunden - seitdem vor ca. Fünf Jahren ehemalige Geheimarchive für Geschichtsforscher partiell zugänglich gemacht wurden - bezeichnet Raack den Text der Stalinrede vom 19. August 1939, in der Stalin offen ausgesprochen habe, die beiden fahrenden Kontinentalstaaten Westeuropas, nämlich Deutschland und Frankreich, durch kriegerische Operationen zu bolschewisieren ("using the power of Red Army").

Gleich groß sei die Bedeutung eines Sammelbandes, veröffentlicht 1995 in Moskau, versichert Raack; gemeint ist das 185 Seiten starke Werk "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?", herausgegeben von G. Bordjugow und W. Neweschin (s. Staatsbriefe 8/1996, S. 12). Der Amerikaner bejaht die Frage, wobei er den Zentralbegriff "Angriffskrieg" (im Russischen "nastupatelnaja woina") schärfer akzentuiert, nämlich "a War of Aggression" (S. 51). Nach dem Urteil des Amerikaners war auch Stalin ein "racist", aus ideologischen und kolonialimperialistischen Motiven. Das von Stalin geschaffene GULag-System ist für Raack der Beweis einer geschichtlich singulären Ausrottungs- und Gleichschaltungswut, gerichtet gegen Ethnien, Klassen, Rassen, Kirchen.

Daß diese Sicht nicht von allen amerikanischen Medien geteilt wird, empfindet der Wissenschaftler als "Schande"; daß Zeitschriften seines Landes die Forschungsergebnisse der Revisionisten bagatellisieren oder gar totschweigen, nennt Raack als "censorship" (S. 52) - man wolle die bestürzenden Entdeckungen ("shocking thesis") nicht zur Kenntnis nehmen. Als Beispiele für Totschweigetaktik ("the stillness of reviewers") führt er u. a. Time und Nemszoeek an, The New York Times und The New York Review of Books. Immerhin, so der zürnende Kritiker, ließe sich die Verbreitung der "shocking thesis" in den USA nicht mehr verhindern.

Mit Ironie, ja Häme überschattet Raack die "western useful idiots" speziell in Deutschland. An der Spitze der "nützlichen Idioten" ortet er Rudolf Augstein, dessen Stalin/Hitler-Story der Amerikaner als "Desinformazija" (mit kontraproduktiver Wirkung!) disqualifiziert. Augstein als "master of misinformation" habe, als er die Revisionisten Hoffmann Suworow, Post attackierte (Der Spiegel 6/1996,S. 100-125), ohne es zu wollen, den Revisionismus salonfähig gemacht. Entgegen der Behauptung Augsteins handle es sich nicht um einen rein deutschen Gelehrtenstreit ("Federkrieg"), sondern um ein weltweites Phänomen ("in fact, the discussion is intemational"). Mit seinen Argumenten liege Augstein um Jahrzehnte zurück, der Spiegel gefalle sich als stupi der Repetitor nostalgischer Thesen der sowjetischen Historiographie (S. 49) - anarchronistische Auslegungen, längst widerlegt, ad absurdum geführt. Augstein agiere als Apologet sowjetischer Geschichtslügen ("in defense of the history supplied first by Stalin und his propagandists").

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Der Sturm des Proletariats auf den Kreml, wann findet er statt? "Es bedarf keiner großen Anstrengungen, Arbeiterkolonnen in Marsch zu setzen", verkündete zu Weihnachten Gewerkschaftsführer Schmakow. Noch wichtiger erscheint, im Blick auf die Nach-Jelzin-Ära, die Erstürmung ehemals kommunistischer Geheimarchive durch die Geschichtsforscher. Eroberung und Auswertung würden nicht nur das Weltbild Stalins erschüttern; zur Entlarvung steht an auch das offizielle Geschichtsbild der herrschenden Klasse in der BRDDR Ein Kartenhaus der Fälschungen stürzt zusammen, wenn russische Historiker auftrumpfen. Den jüngsten Erfolg verzeichnete die liberale Wochenzeitung Moskowskije Nowostij (Moskauer Nachrichten) am 24. November 1996. "Die Rolle der Stalinschen Führung bei der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ist bekannt", schreibt Natalja Lebedowa. "Dokumente beweisen, daß mit dem sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt am 23. August 1939 der Regierung der UdSSR freie Hand gegeben wurde, die östlichen Teile Polens zu okkupieren und zu annektieren."

Ein imperialistischer Akt: Am 17. September 1939 überschritt die Sowjetarmee die Grenze, eroberte im Kampf gegen die polnische Armee 190 000 Ouadratkilometer mit einer Bevölkerung von 12 Millionen Menschen, vorwiegend Weißrussen, Ukrainer, Litauer, Juden, Deutsche. ,Jüngst entdeckte man ein Dokument, in dem fixiert worden ist, wie man die ,neuen Länder' sowjetisieren wollte. Es handelt sich um eine Entscheidung des Politbüros der KPdSU vom 1. Oktober 1939, die an dieser Stelle erstmals der Weltöffentlichkeit vorgestellt wird", lesen wir in der genannten Zeitschrift auf Seite 18.

Die Strategie der Sowjetisierung zielte ab auf: Physische Liquidierung aller antikommunistischen Elemente und Führer der alten Ordnung-Festigung der Macht der KPdSU - Militärische und polizeiliche Unterstützung bei der Etablierung sowjetischer Herrschaftsorgane - Entsendung von Agitatoren und Propagandisten aus Weißrußland und der Ukraine - Einführung der Rubel-Währung und der in der WSSR geltenden Lebensmittelpreise ("20 Kopeken für ein Kilogramm Salz, 50 Kopeken für eine 50-Gramm-Machorkapackung") - Zerschlagung der bäuerlichen und kleinstädtischen Privatwirtschaft, Monopolisierung von Handel und Produktion - Bodenreform durch Enteignung der Bauern und Großgrundbesitzer, Überführung der Dorfbevölkerung in Kolchosen beziehungsweise Sowchosen.

Wie das in der Westukraine vor sich ging, zeigte ein Standardwerk des ukrainischen Revisionismus, basierend auf Augenzeugenaussagen und Dokumenten ("Russischer Kolonialismus in der Ukraine", in der Erstfassung schon 1962 in München erschienen). Am 22. September 193 9 besetzten Sowjettruppen die galizische Hauptstadt Lemberg und beschlagnahmten sofort sämtliche Privatbetriebe. In Schulen und Behörden wurde Russisch als Amtssprache eingeführt. Sämtliche ukrainischen Vereine wurden liquidiert, aufgelöst die Wissenschaftliche Schewtschenko-Gesellschaft und ihre Zweige an der Lemberger Universität, Veröffentlichungen konnten nur mehr in Russisch erscheinen. Beschlagnahmt sämtliches Eigentum der Katholischen Kirche des Östlichen Ritus (Unierte), Verbot der Kirchenpresse, Aufnahme der Atheismus-Lehre in den Unterrichtsplan sämtlicher Schulen, Säuberung des Lehrkörpers, Masseneinwanderung von Sowjetpädagogen. Und schließlich: Verhaftung Aburteilung, Erschießung oder Deportation von Persönlichkeiten nationaler und religiöser Parteien, Organisationen, Bewegungen (in der Münchner Ausgabe S. 49 ff.).

Am 31. Dezember vorigen Jahres behauptete Josef Joffe in einem SZ-Leitartikel (betitelt geradezu goldhagenesk "Im Jahre 51 nach Hitler"), in Rußland hätte die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit überhaupt noch nicht begonnen. Das kommt davon, wenn man das Studium der russischen Presse negiert, die Erkenntnisse russischer Historiker ignoriert, die Staatsbriefe boykottiert.


Quelle: Staatsbriefe 8(5) (1997), S. ??

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