WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS UM DEUTSCHLAND HERUM (2)

Josef Joffes Behauptung, in Rußland hätte die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit noch nicht begonnen, saugt ihre Ignoranz vielleicht auch aus dem factum brutum, daß sie nicht nach Wunschdenken verläuft. Hier vier Beispiele:

1. In der Moskauer Nesawissimaja Gaseta (Unabhängige Zeitung) vom 28. Dezember 1996 ermunterte Prof. Dr. Bons Sokolow die Zeitgeschichtler seines Landes, sich verstärkt dem "Problem der sowjetischen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung 1944/45" zu Widmen. Als Vorbild nennt Sokolow den frühverstorbenen "talentierten" Historiker Pawel Knyschewskij, der mit seinem Buch "Dobytscha" ("Die Beute") als erster das düstere Kapitel aufgegriffen hatte. Sokolow, einer der führenden Revisionisten Rußlands (Staatsbriefe 8/1996, S. 12), benutzt den Begriff "swerstwo", im Deutschen Bestialität, Greueltat.

2. Elena Moiseiewna Rschewskaja, im Krieg Chefdolmetscherin im Stab der 1. Weißrussischen Front, charakterisiert in ihrem 1996 erschienenen Erinnerungsband "Posleslowije" ("Nachwort") Stalin als einen Tyrannen, der auch nach dem Kriege Aggressionsabsichten hegte und auf den dritten Weltkrieg zusteuerte. "Stalin fühlte sich weder vor der Geschichte, noch vor dem Volk oder der Menschheit verantwortlich." Schukow soll er gefürchtet und gehaßt haben, erfüllt von einem Gedanken: den Marschall politisch zu vernichten. Obgleich Stalin über den Tod Hitlers bestens informiert gewesen ist, soll er den Marschall immer wieder zynisch insistiert haben: "Na, wo ist denn dein Hitler?" Aber auch am Berlin Erstürmer entdeckt die Rschewskaja finstere, abstoßende Seiten eines gespaltenen Charakters: grausam, gnadenlos im Umgang mit seinen Soldaten, ohne Schonung der Truppe, ein Menschenverächter par excellence (Literaturnaja Gaseta vom 27. November 1996, Druschba narodow 12/96).

3. "Warum hat unsere Armee nicht ihre Toten beigesetzt, warum ist die ständig wiederholte Losung 'Niemand und nichts ist vergessen', zu Spott verkommen", fragt Nikolaj Nikulin, ein ehemaliger Frontoffizier der Wolchow-Kesselschlachten 1942. "Jahrzehntelang prägte die Propaganda den Köpfen ein, daß die sowjetische Armee die beste der Welt sei, daß sie auf fremden Territorien und mit wenig Verlusten kämpfen würde. Die Millionen Gefallenen auf den Schlachtfeldern paßten nicht in dieses Bild… Bis heute sind keine genauen Zahlen unserer Verluste genannt worden. 1945 hat man von über sieben Millionen gesprochen, dann von über 20 und jetzt von über 27. Ob diese Zahl die letzte ist?" (In der Kirischewer Zeitung Fakel vom 20. Mai 1995)

4. Anatolij Rubinow recherchiert die Hintergründe der sowjetischen Volkszählung vom Jahre 1937 Der Zeithistoriker stößt auf Widersprüche und Fälschungen, die seiner Ansicht nach nur einem Zweck dienen sollten: das wahre Ausmaß des bolschewistischen Genozids im Verlaufe nur eines Jahrzehnts zu verschleiern. "Bei der Volkszählung im Jahre 1926 hatte man noch 194 Ethnien registriert, 1937 waren davon nur… 109 übriggeblieben. Auf dem XVII. Parteikongreß im Jahre 1934 hatte sich Stalin damit gebrüstet, daß das glückliche Leben in der Sowjetunion zu einer rasanten Vermehrung der Bevölkerung führe, für 1937 prophezeite er ein Anwachsen von 168 auf 180 Millionen. Als dann die ersten Resultate der Volkszählung im Kreml eintrafen, streng geheim natürlich, zeigte sich, daß die Bevölkerungszahl sich entgegen allen Plänen des Führers und Lehrers verringert hatte. In der Nacht vom 5. zum 6. Januar 1937 mußte Stalin zur Kenntnis nehmen, daß in der UdSSR nicht die geplanten 180 Millionen lebten, sondern nur 162…" Innerhalb von zweieinhalb Jahren waren sechs Millionen Menschenleben spurlos "verschwunden" - spurlos gewiß nicht für die Geheimpolizei (GPU beziehungsweise NKWD), die das Verschwinden besorgt hatte, und dabei stand die Große Säuberung noch bevor. Aushungerung oder Ermordung von sechs Millionen in exakt 28 Monaten, das war selbst für bolschewistische Rekordmaßstäbe eine Superzahl. Stalin rächte sich an den Toten, indem er ihnen prominente Genossen hinzufügte, so Iwan Adamowitsch Krowali, Vorsitzender des Zentralen Statistischen Amtes. Noch im Januar 1937 verhaftet und erschossen wegen "…negativer Auswertung des Bevölkerungszuwachses" (Literaturnaja Gaseta, Nr. 48/96, S. 13).

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Laut Steven Rosefielde muß man unter Berücksichtigung aller bisher zugänglichen Archivunterlagen davon ausgehen, daß in den Jahren 1930 bis 1936 durch politische - nationale, soziale, religiöse - Verfolgungen rund 8,8 Millionen Sowjetbürger gestorben sind, in der sich anschließenden Welikaja Tschistka etwa 1,2 Millionen. Diese zehn Millionen Massenmord-Opfer, ermittelt durch einen führenden amerikanischen Slavisten und Kommunismus-Forscher, stellen ein Vielfaches dessen dar, was hierzulande antifaschistische Verharmloser des bolschewistischen Terrors angeben (Europe-Asia Studies, Bd. 48, Heft 6).

Man kann mit Sicherheit annehmen, daß ein spezielles Institut in der BRDDR die jüngsten Erkenntnisse russischer und amerikanischer Revisionisten noch immer negiert: das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg, kurz MGFA. Bis 1968 ein im großen und ganzen anerkanntes Team objektiver Geschichtsforscher, mutierte das MGFA unter der Leitung von Manfred Messerschmidt zu einer "roten Zelle" (Rüdiger Proske). Der stalinistische Antifaschismus gewann unter Messerschmidt die Funktion einer Ideologie, deren Zweck darin bestand, die "verbrecherische Wehrmacht" zu entlarven. Rüdiger Proske konstatiert "pathologischen Verfolgungswahn" (Staatsbriefe 12/1996). Zu den willfährigen Vollstreckern des Messerschmidt-Kurses zählen laut Proske die MGFA-Funktionäre Dr. Wilhelm Deist, Dr. Jürgen Förster, Dr. Bernd Wegner, Prof. Volkmann, Gerd R. Ueberschär, Wolfgang Wette, Peter Steinbach. Trotz unübersehbarer Niederlagen halten sie stramm an ihren Vorsätzen fest.

Eine Niederlage brachte ihnen selbst Augsteins Nachrichtenmagazin bei. Aus einer GULag-Reportage von Christian Neef in Nr. 49/1996 erfahren wir geschichtlich Singuläres über den Massenmord Stalins im Fernen Osten. In der ostsibirischen Gold- und Uran-Region Kolyma starben die Gefangenen schneller als Eintagsfliegen. Die den Tag überlebt hatten, mußten ihren erschossenen oder verhungerten oder erfrorenen Leidensgenossen Gräber in den Frostboden sprengen, die Häftlingsnummer auf einem Konservendeckel blieb einzige Erinnerung. Frauen und Männer gruben sich mit bloßen Händen in den Berg, 50 bis 60 krepierten pro Tag. Drei Millionen starben in drei Jahren, lange vor dem Krieg, lange vor Auschwitz. Spiegel-Korrespondent Christian Neef. "Der unbarmherzige Wind hat viele Schädel freigescheuert, die meisten mit Einschußloch. Mitunter ist die Schädeldecke geöffnet - Sanitäter entnahmen den wegen mangelnder Arbeitsleistung, Aufsässigkeit oder Entkräftung zu Tode Gekommenen zuallerletzt noch das Gehirn: zu wissenschaftlichen Zwecken" (S. 176).

Manfred Messerschmidt hat über die militärgeschichtlichen wie polizeigeschichtlichen Millionenmassaker Stalins keine einzige Zeile veröffentlicht. Die Verbrechen der Sowjetskaja Armija, für diesen Historiker ein Tabu, für die Heer und Reemtsma ohnehin. Verbrechen gab es nur bei der Wehrmacht, nicht bei den Gegnern der Wehrmacht: Rote Armee, GPU, NKWI), GUR, SMERSCH, KGB.

[Die Erkenntnis,] Daß Stalin 1945 Frankreich mit Hilfe seiner kommunistischen Kollaborateure okkupieren wollte, verdanken wir einem französischen Geschichtsforscher, Prof. Dr. Stéphane Courtois. "Wäre die Landung der Alliierten ein paar Monate später angesetzt worden, hätte die Sowjetunion Frankreich besetzt" (FAZ vom 5. Dezember 1996, S. 37).

Wer ist Courtois? Der heute 41jährige gehörte 1968 zu den weit linksstehenden Intellektuellen Frankreichs, die sich am Maoismus ausrichteten. Erst durch den Kontakt mit der Ex-Kommunistin Annie Kriegel, deren Assistent er wurde, löste sich der junge Historiker aus den Bindungen an den kommunistischen "Antifaschismus". Courtois, inzwischen Dozent an den Universitäten Paris und Nanterre, Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique und Herausgeber der Zeitschrift "Communisme", gilt in West und Ost als herausragender Kenner der Geschichte der UdSSR und KPdSU. Stalins Geheimrede vom 19. August 1939 wertet der französische Revisionist als eine Kriegerklärung an Deutschland, den "Westen".

Stéphane Courtois in einem sensationellen Zeitungsinterview vom September 1996: Was ich bei Reisen nach Rußland und bei Einsicht in die Archive des Politbüros der KPdSU in Erfahrung bringen konnte, überzeugt mich jetzt schon zu 99 Prozent. Ich sage, diese Rede ist echt (…). Seit dem Fiasko von 1923 war er (Stalin) überzeugt davon, daß nur ein weiterer Weltkrieg den Sieg der Revolution in Europa bringen würde… Dies erweisen die Funde in den heute zugänglichen Archiven, aus denen hervorgeht, daß der Aufbau des 'Sozialismus in einem Lande' und die Fünfjahrespläne nichts anderes bedeuteten als die Schaffung des militärischen Werkzeugs… Nach 1933 baute Stalin seine Strategie des doppelten Spieles weiter aus: Einerseits schürte er die sogenannte Antifaschistische Bewegung in Westeuropa und unterstützte die Front Populaire in Frankreich sowie die spanische Republik; andererseits kam er insgeheim Hitler entgegen, um wirtschaftliche Vorteile zu erringen… Nach dem 15. März 1939 war Hitler immer nur der Antragsteller und Stalin der Schiedsrichter. Es besteht jetzt keinerlei Zweifel mehr, daß Stalin 1939 auf den Krieg gesetzt hat (…). Die späteren Fehldeutungen Stalins liegen darin begründet, daß man sein Konzept zur Weltrevolution nicht ernst genommen hat. Im übrigen sollte man nicht vergessen, daß die Geschichte außerhalb Rußlands überwiegend von Trotzkisten geschrieben wird, die Stalin lediglich Größenwahnsinn zuschreiben. Ich sage aber im Gegenteil, Stalin hat durchdacht, daß er einen Pakt mit Hitler schließen mußte. Seine Vorschläge wurden zudem gebilligt, denn weder aus der Führungsriege der Sowjetunion noch von der Komintern wurde dagegen opponiert. Allerdings wurde Stalin, der mit einem langen Krieg im Westen Europas rechnete, von der plötzlichen Niederlage Frankreichs überrascht. Aber schon Ende 1941 und spätestens seit Stalingrad konnte sein Drang nach Westen neue Hoffnungen schöpfen" (Das Ostpreußenblatt, Nr. 39/1996).

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Nach Mitterrands Verteidigungsminister Charles Hernu ist in Frankreich eine weitere Figur der französischen Linken der Lüge und Spionage bezichtigt worden.

1950/51 war der tschechische Schriftsteller Artur London zusammen mit seiner Frau, einer Französin, als Geheimagent für diverse Nachrichtendienste des Ostblocks tätig. Sein Spionagenetz baute er in Paris auf. Beweise hierfür entdeckte Karel Bartosek in Geheimarchiven der untergegangenen CSSR. Der Tscheche Bartosek, einstmals Mitglied der 'Charta 77' und vor über zwanzig Jahren als Politflüchtling nach Frankreich gekommen, publizierte die Entlarvung in seinem kürzlich erschienenen Buch Les Aveux des Archives: Prague-Paris-Prague" (Editions du Seuil).

Die gesamte politische Biographie Londons stellt sich als gefälscht heraus (eine böhmische Parallele zum Fall Hermlin). So ist erwiesen, daß London nicht zu den Soldaten der Interbrigaden gehörte, sondern im Spanischen Bürgerkrieg bei der physischen Liquidierung von Trotzkisten, Anarchisten und anderen Antistalinisten mitgewirkt hat, als Komplize des NKWD.

Das alles hat Artur London in seinem autobiographischen Buch "L'Aveux" ("Das Geständnis") unterschlagen. Nachdem er in Ungnade gefallen war, gab er sich als "humaner Kommunist" aus. Das Buch verfilmte der linke griechische Regisseur Constantin Costa-Gavras mit Yves Montand in der Hauptrolle. Buch und Film verklären den Henker Artur London zu einem Opfer des Stalinismus, Film und Buch sind bis heute Kulturgegenstände der linksintellektuellen Mythologie - der antifaschistische Held als erster Dissident.

Stéphane Courtois hält es für ein Charakteristikum der Geschichte des linken Antifaschismus, daß Opfer zuvor selber Täter waren und die Henker schließlich zu Opfern wurden. Nachzutragen bleibt, daß der in Hollywood lebende Filme-Macher Costa-Gavras, der mit dem Anti-Obristen-Opus "Z" Weltruhm erlangte, neue Götzen gefunden hat, die Scientologists; zu den Unterzeichnern des Offenen Briefes an Kohl, abgedruckt in der International Herald Tribune, gehört auch der Kommunist Costa-Gavras.

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Ein Antifaschist der ersten Stunde war der Tscheche Ota Filip, der wohl berühmteste Romancier böhmischer Literatur; seit 1974 lebt der heute 66jährige in Bayern. So rechnet er nun ab: "Zum Zeitpunkt der antideutschen Exzesse war die Republik offiziell eine Demokratie. Aber eine 'Demokratie', die es zuläßt, daß Menschen massenweise getötet werden, kann keine Demokratie sein - sie ist Terrorherrschaft. Wir kommen deshalb nicht um die Feststellung herum, daß die Tschechen 1945 ihre nicht vom ganzen Volk erkämpfte Demokratie nicht verkraftet haben. Hier liegt ein Versagen des ganzen tschechischen Volkes vor. Man kann durchaus sagen, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen mit all ihren bestialischen Begleiterscheinungen von der gesamten öffentlichen Meinung des Landes getragen wurde."

Der Romancier als Revisionist. Unter dem Kommunismus arbeitete Ota Filip als Zeitungs- und Rundfunkjournalist, der Preßburger und Prager Frühling von 1968 bedeutete für ihn ein Damaskus, aus dem Antifaschisten wurde ein Antikommunist. 1969 kam er ins Gefängnis - "wegen Unterwühlung der sozialistischen Gesellschaft". Die Vertreibungsverbrechen erklärt dieser tschechische Revisionist mit einem nationalen Trauma: Feigheit, Opportunismus, Barbarei. Aus dem kollektiven Sadismus resultiert Kollektivschuld: "Im Leben eines jeden Volkes gibt es Augenblicke, in denen es seine Pflicht ist, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen. Die Tschechen haben das nie getan, und diese Tatsache lastet wie ein Trauma auf ihnen. Wenn Sie sich die historischen Denkmäler ansehen, dann werden Sie nie auf 'Siegessäulen' stoßen. Alle unsere Denkmäler sind Denkmäler unserer Niederlagen (…). Weder 1918, noch 1945 haben wir unsere Freiheit selbst erkämpft, sie ist uns zum größten Teil geschenkt worden." (DIE WELT, 28.10.96). Im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg oder in der Redaktion der Hamburger ZEIT hätte der Tscheche Ota Filip keinen Stuhl.

Kürzlich startete DIE ZEIT eine Hetzkampagne gegen "ehemalige Hitlerjungen". Der Hintergrund: Im März 1946 kam es durch Vermittlung des damaligen Landesdirektors für Justiz, Kultus, Erziehung und Kunst, Carlo Schmid, in Tübingen zu einem Treffen zwischen hohen HJ-Führern und dem französischen Besatzungsoffizier Henri Humblot. Dieser war Mitglied der KPF und Jugendoffizier der französischen Militärregierung von Südwürttemberg-Hohenzollern. Die Absicht des Franzosen: die Wiedereingliederung einer jungen deutschen Kriegsgeneration, verleumdet, politisch heimatlos geworden, vom KZ bedroht. Henri Humblot bewahrte die Ex-Nationalsozialisten vor Inhaftierung und Ausgrenzung, gab den Anstoß zur Gründung des "Internationalen Bundes", der heute in Deutschland ca. 13 000 Mitarbeiter auf dem Jugend- und Bildungssektor beschäftigt. Lange Zeit war Otto Würschinger der Hauptgeschäftsführer im IB.

Als Humblot Anfang November 1996 achtzigjährig in seinem Heimatort Guerchy starb, erinnerte der IB in einer Traueranzeige an die Vertrauenstat des ehemaligen französischen Jugendoffiziers. Worauf ein gewisser Maußhardt in der ZEIT vom 29. November denunzierend schrieb: "Noch 1979 dankte Würschinger in einem Buch den 'Jungen und Mädeln, die ihr Leben für Deutschland gaben', und schwärmte von der HJ als einer Organisation, 'die der jungen Generation Freiräume in ihrer Entwicklung gab'." Wußte Henri Humblot von dessen Vergangenheit? Natürlich. Gerade deshalb vertraute er dem Deutschen.

Vor ca. zehn Jahren lernte ich in einem Heim des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Otto Würschinger kennen, einen Oberpfälzer. Würschinger war im April 1945 Kampfkommandant der HJ im Berliner Regierungsviertel, Abschnitt Heerstraße und Pichelsdorfer Brücken. Der Auftrag: Offenhaltung für die Entsatzarmee Wenck. Unter Würschinger kämpften Fünfzehnjährige Hitlerjungen aus den Wehrertüchtigungslagern, drittes und letztes Aufgebot des Volkssturms. Viele Panzerfäuste, wenige Karabiner und Maschinenpistolen. Noch jüngere, Knaben, wollen mitkämpfen am letzten Frontabschnitt. Sie werden abgewiesen. Mädchen, den Befreiern nach erniedrigenden Qualen entronnen, melden sich beim Kampfkommandanten und bitten um Waffen, betteln um ein Gewehr. Sie dürfen bleiben, aber ohne Waffen. Sie helfen in den Verwundetennestern und improvisieren die Versorgung. Eine junge Ärztin der Reichsjugendführung, eine Volksdeutsche aus der Ukraine, leitet den Verbandsplatz im zerbombten Gebäude der RJE. Beim Bergen von Verwundeten reißt ihr eine Sprenggranate aus einem T 34 beide Beine ab. Die Frau, den Namen hat man vergessen, wählt den Freitod aus der Hand eines Kameraden. Über 140 sowjetische Panzer bleiben abgeschossen in der Tiefenzone des dünn von Jungen gehaltenen Abschnitts liegen. Ohne Fanfaren, ohne Fahnen besiegeln die Überlebenden das Ende des Dritten Reiches mit einer symbolträchtigen Tat. In der Nacht, da alles verloren ist, lösen sie sich aus ihren Stellungen, aus Deckungslöchern unter Panzerwracks, scharen sich um die Mädchen, nehmen sie in ihre Mitte, immer ein Mädchen zwischen zwei Jungen, und folgen den Sicherungstrupps in nächtelangem Marsch durch die sowjetischen Linien und das besetzte Hinterland. Im märkischen Sand verliert sich ihre Spur. Auch diese Fakten wird man im Militärgeschichtlichen Forschungsamt vergeblich suchen. Der Geist der Messerschmidt-Schule ist ein anderer - weder heroisch noch historisch. Ota Filip irrt: Feigheit und Opportunismus kennzeichnen nicht nur das tschechische Trauma.

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Weitere revisionistische Bresche in Amerika schlagen Samuel Huntington und Emmanuel Todd in Frankreich. Der Amerikaner kehrt das universelle Alleingeltungsdogma des kapitalistischen Parlamentarismus auf den Müllhaufen der Geschichte, der Franzose diagnostiziert die Bonner Europhilie als Wahngebilde einer Klasse, die ihr eigenes Volk haßt und dessen Auslöschung plant.

Verwunderung und Erschrecken zugleich ruft der Bestsellererfolg eines Samuel Huntington in der Bonner Nomenklatura hervor. "The Clash of Civilisations" titelte sich sein Essay von 1993, erschienen in der US-Zeitschrift Foreign Affairs, jetzt in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Der Kampf der Kulturen" (Europa Verlag, München und Wien). Das Buch des amerikanischen Politologen ist nicht nur deshalb eine faszinierende Lektüre, weil Huntington einen Weltkrieg im Jahre 2010 prophezeit; er prognostiziert auch einen Zusammenprall zwischen der liberalistischen Welt des "Westens" und der metaphysischen Welt des "Ostens", womit Rußland gemeint ist.

Huntingtons Argumente haben Überzeugungskraft. An die Stelle der ideologischen und ökonomischen Konfrontation tritt gegenwärtig und in der Zukunft die Auseinandersetzung der Kulturkreise mit eigenständigen Wertordnungen und Heilserwartungen. Der Dritte Weltkrieg wird, Huntington zufolge, zwischen sieben Kulturkreisen stattfinden. Er unterscheidet einen westlichen Kulturkreis, einen islamischen, einen jüdisch-mosaischen, einen chinesisch-konfuzianischen, einen hinduistischen, einen lateinamerikanischen und einen afrikanischen.

In diesem Punkt bedarf es einer Korrektur. Huntington spricht von der "westlichen" Welt, meint aber die Vereinigten Staaten mit ihrem explosiven Amalgam von (geplatztem) melting pot und (totalitärer) political correctness, wobei er die Unterschiede der "westlichen" Kulturen, etwa den zwischen Amerika und Europa, übergeht. Huntington übersieht die Einmaligkeit des deutschen Kulturkreises, der keineswegs dem "Westen" zugerechnet werden darf. Oder hält es ihn nicht mehr für existent? An der Schnittstelle zwischen dem orthodox-slawischen Osten und einem atheistisch-liberalistischen Westen jedenfalls tendiert deutsche Kultur" mental und spirituell eher zum Osten hin.

Dennoch muß den Hauptthesen Huntingtons gerade aus deutscher Sicht zugestimmt werden, zumal sie sich im philosophischen Kern mit Herders geistesrevolutionärer Erkenntnis von den Völkern als "Gedanken Gottes" decken. Einmalig, unvergleichbar, unverwechselbar. Multikulturelle Koexistenz sei ein gescheitertes Experiment, daher ein Phantom, sagt diese größte Figur in der Politologen-Generation des heutigen Amerika, Berater diverser Präsidenten. Jede Kultur ist gleich wertvoll; keine hat das Recht, sich über die andere zu erheben - und schon gar nicht der Westen, der Hort des Kolonialismus und Kosmopolitismus, des Imperialismus und Hedonismus. Jede Kultur will Unabhängigkeit, nicht Vermischung. "Die Schlachtfelder der Zukunft liegen entlang der kulturellen Fronten."

Seinen Landsleuten rät der Harvard-Professor: "Wir müssen die Flut der Immigranten eindämmen, weg von der Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft." Dem Volk eines Solschenizyn und Lebed verheißt er Hoffnung: Alle Kulturen wollen moderner werden, aber das heißt nicht, daß sie verwestlichen wollen. Wenn Russen Coca-Cola trinken, werden sie deswegen nicht automatisch 'amerikanisch'." Und ins Stammbuch der Bonner Euromanen und Natonostalgiker: "Die Vorstellung, daß wir anderen Kulturkreisen unser westliches Wertesystem, unsere Institutionen gewaltsam aufdrängen sollten, ist falsch und womöglich sogar unmoralisch" (Huntington in einem Spiegel-Interview 48/1996).

Emmanuel Todd, Historiker und Soziologe, bezichtigt die Bundesdeutschen der Euromanie. Manie ist ein anderes Wort für Sucht, Geisteskrankheit. Ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende sei die Vergangenheitsbewältigung Religion geworden, der Euro ein Ersatzgott, die unheilige Dreieinigkeit von Schuld, Sühne, Bußfertigkeit ein Systemdogma, und die Hoffnung, mit Maastricht die deutsche Eigenstaatlichkeit zum Verschwinden zu bringen, die raison d'être der Herrschenden in Bonn. Die Deutschen lebten mit ihren Schuldgefühlen, unfähig, ihre legitimen nationalen Interessen zu bestimmen und durchzusetzen.

So spricht nur ein Revisionist, ein Mythenzerstörer, ein Legendenentzauberer. Der den Sozialisten nahestehende Todd (er war einer der ganz wenigen Linksintellektuellen, die bereits in den siebziger Jahren den Zusammenbruch der Sowjetunion vorausgesagt hatten) nennt den deutschen Schuldkomplex "neurotisch", "diffus", "obskur", schwachsinnig". Nationaler Selbsthaß und nationaler Selbstzerstörungsdrang würden sich bei den Deutschen von heute aus einem Bewußtsein perverser Scham speisen, "überhaupt zu existieren". Von Grass ist das Diktum bekannt, die Wiedervereinigung mache Auschwitz in Deutschland wieder möglich.

Dem Maastricht-Experiment eines asozialen Neoliberalismus auf der Grundlage der Mißachtung "nationaler Besonderheiten" gibt Todd keine Chance: "Für mich ist Europa ein verfallenes Konzept (…). Die Franzosen spüren, daß die europäische Idee am Scheitern ist (…).Wir befinden uns in einer historischen Lage, in der alle bisher gültigen Werte zusammenbrechen und die Bezugspunkte verschwinden. In Paris hat der Zweifel am Euro jetzt auch die germanophilsten Vertreter der Elite erreicht. Viele Intellektuelle machen mobil. Man erkennt die Gefahr, daß die europäische Währung zu einer Katastrophe führen könnte (…). Die Welt ist brutaler geworden. Die Nationen, die sich mit schwierigen Problemen auseinandersetzen müssen, driften erneut auseinander. Das ist der historische Prozeß, in dem Wir uns befinden. Und genau in diesem Moment versucht man, die Staaten und Völker aneinanderzuketten" (FAZ-Feuilleton, 16. Dezember 1996). Die Euromanen gebärden sich, sagt Todd, genauso "idiotisch" und "fahrlässig" wie die Herrscher in Europa zwischen den beiden Weltkriegen (DIE ZEIT, 20.12.96).

In der Anti-Maastricht-Bewegung Frankreichs agieren heute die bekanntesten Publizisten, Schriftsteller, Soziologen, Zeithistonker des sozialistischen, des linksnationalen, des antiamerikanischen Lagers - Max Gallo, Pierre Bourdieu, Alain Touraine, Jean-François Kahn, Régis Debray, Gilles Perrault, Edmonde Charles-Roux, Philippe de Saint-Robert, Jean-Claude Guillebaud - für Jürg Altwegg von der Frankfurter Allgemeinen eine Avantgarde der intellektuellen "Linkspatrioten" (DIE ZEIT, 10.12.96).

Max Gallo, Regierungssprecher unter Mitterrand, erblickt in der Konstruktion eines Einheitsstaates Europa die "Auslöschung" des ureigenen Wesens der Franzosen (Der Spiegel 51/1996). Pierre Bourdieu, Doyen der französischen Soziologie, spricht im Blick auf Maastricht von einem wahnwitzigen Abenteuer, das zum "Triumph eines ungebremsten, zynischen Kapitalismus" führe, in den Schlund eines nihilistischen Monetarismus, wie er in Amerika bereits existiere. Bourdieu gegenüber dem Spiegel: "In den USA geht der Verfall des fürsorglichen Staats - einen wirklichen Wohlfahrtsstaat gab es dort ja nie - mit dem Entstehen eines Polizeistaats einher. Kaliformen wendet seit zwei Jahren mehr für Gefängnisse auf als für das Bildungswesen… Waren Sie mal im Ghetto von Chicago? Ich schon. Es ist eines der barbarischsten Orte der Menschheit. Außer den Konzentrationslagern gibt es zweifellos nichts Schlimmeres" (50/1996). Eines Tages werde der wildgewordene Kapitalismus à la Maastricht die Völker auf die Barrikaden treiben, prophezeit Alain Touraine.

Im oberpfälzischen Geisling wurden vor dreihundert Jahren Frauen des Dorfes von der katholischen Kirche verdächtigt, mit der Hölle im Bunde zu stehen. Bei der Folter sollen sie Augen gemacht haben, "als wenn sie von dem leidigen Teufel wahrhaft besessen wären". Zum Schluß wurden die Gemarterten erdrosselt und dann auf den Scheiterhaufen geworfen. Noch heute sind in der Gegend die "Geislinger Hexen" sprichwörtlich.

Geschichtliche Lügen haben lange Beine. Am 9. Mai in Moskau, bei der Militärparade auf dem Roten Platz, behauptete Jelzin, die Rote Armee habe vor 52 Jahren nicht nur die von der Wehrmacht besetzten Länder Osteuropas befreit, sondern auch das deutsche Volk. Der "Sieg über Hitler-Deutschland" habe, sagte Jelzin, "die Überzeugung in die Größe Rußlands gestärkt". Eine Lüge reihte sich an die andere. Ein russischer Demokrat mit bolschewistischem Hirn und stalinistischem Knochenmark. Jelzins Rede, natürlich vom Lenin-Mausoleum herab, wirkte so überzeugend wie die Annahme, in Gelsling würden immer noch Hexen auf dem Besenstiel reiten.

Jelzin spricht vom "Hitler-Deutschland", die Begriffe "Stalin-Rußland" und "Stalin-Armee" meidet er wie der Teufel das Weihwasser. (1992 ließ sich Jelzin taufen.) Nach dem Urteil des Patrioten und Christen Solschenizyn war der 9. Mai 1945 ein Triumph der Stalinschen Diktatur, ein Sieg des bolschewistischen Nero und eine Niederlage des russischen Volkes. Eine Bartholomäusnacht auch der Baltikumsvölker, die nach Meinung Jelzins 1945 zu den "Befreiten" gezählt haben sollen.

So erinnerte sich der estnische Außenminister Toomas Hendrik Ilves: "Die deutsche Besetzung war im Vergleich zur sowjetischen mild. Während meines Studiums stieß ich auf ein deutsches Militärhandbuch. Hochinteressant war ein kleines Lexikon am Ende des Buches. Dort waren die ersten Wörter: 'bitte', danke', 'Entschuldigung' und so weiter. Es gibt ein ähnliches Handbuch der sowjetischen Besatzungstruppen. Da heißt das erste Wort: 'Hände hoch!'"

Davon abgesehen, Hexen und Teufel gibt es tatsächlich, nur mit dem organisatorischen Unterschied, daß sie sich nicht am Blocksberg oder in Geisling versammeln, sondern in Berlin-Karlshorst, im "Deutsch-Russischen Museum", dem einzigen dieser Art in der Welt. Heuer feierte man hier den 52. Jahrestag der "Kapitulation des faschistischen Deutschland". Sieben Jahre nach der Selbstauflösung der DDR fand hier ein Siegesmeeting der "deutsch-sowjetischen Freundschaft" statt, mit stalinpreisgekrönten Hymnen vom "großen vaterländischen Krieg,"'. Nein, das ist kein Hexenwitz. Als in der Podiumsdiskussion die Moderatorin den Wörtern "Verlierern" und "Gewinnem" ein "sogenannt" voranstellte, zischte der Saal. Gabriel Gorodetzky befand sich nicht unter den Stalin- bzw. Satansanbetern in Karlshorst. Aber sein Geist treibt um. Und wieder in Springers WELT! Als ob ein Reinfall nicht schon genug gewesen wäre…

Für den Rückfall sorgte in der WELT-Ausgabe vom 10. Mal Sven Felix Kellerhoff, dem es nur vordergründig um Hintergründiges des Heß-Fluges vor 56 Jahren, in seiner Rezension des Werkes: Rainer F. Schmidt, Rudolf Heß. Botengang eines Toren?, Düsseldorf 1997, ging. Der Clou dieser Rezension besteht in dem Versuch, die Ergebnisse des modernen Geschichtsrevisionismus - insbesondere in bezug auf den sowjetisch-deutschen Krieg - ad absurdum zu führen.

Ein gescheiterter Versuch, denn Stalin als einen friedensliebenden, vertrauensseligen, kompromißbereiten, deutschfreundlichen, ums Wohl der Sowjetbürger besorgten Landesvater hinzustellen, fiele heute selbst Rußlands Altkommunisten nicht mehr ein. Aber einem Sven Felix Kellerhoff! Die Beweise für die "Präventivkrieg"-These seien jetzt endgültig widerlegt, behauptet er forsch, indem er den Heß-Flug zum Anlaß für die Stalin'sche Kriegsplanung stempelte. Was leicht zu widerlegen ist. jüngste Forschungsresultate russischer Zeitgeschichtler untermauern die Analyse der von Kellerhoff heftig attackierten deutschen Revisionisten Hoffmann, Maser, Topitsch, Gillessen, Post. In einer dreiteiligen Serie zitierten STAATSBRIEFE im Jahre 1996 (Nr. 8, 9-10, 11) aus dem Wissenschaftlichen Standardwerk "Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler?" mit zwölf Beiträgen namhafter Militärhistoriker, Moskau 1995. Bezeichnenderweise ist dieses Werk bislang in der WELT nicht vorgestellt worden, obgleich der Springer-Presse Rezensenten mit Russischkenntnissen zur Verfügung stehen.

In diesem Buch berichtete Bons Sokolow detailliert vom Plan eines Überfalles auf Deutschland (ausgearbeitet lange vor dem Heß-Flug!), den Stalin im Juli 1941 beginnen wollte. Die Mobilisierungs-, Dislozierungs- und Offensivdirektiven des Generalstabs waren am 15. Mai 1941 von Stalin gebilligt worden. Als Hitler losschlug, am 22. Juni 1941, befand sich die Rote Armee noch in der Aufmarschphase. Sie war zu diesem Zeitpunkt weder zu blitzartigen Angriffsoperationen noch zu einer effektiven hinhaltenden Verteidigung fähig.

Die Episode Rudolf Heß bildete 1941 nur eine Fußnote der Geschichte, auf die Aggressionsabsichten, Kriegspläne, Westerweiterungs-Ambitionen Stalins und seines Generalstabs hatte sie keinen Einfluß. Als des "Führers Stellvertreter" nach England flog, standen Stalins Panzerkeile bereits an Memel, Düna, Bug, Pruth und Dnjestr, mit laufenden Motoren. In dem genannten russischen Revisionismuswerk, basierend auf Entdeckungen in bislang geheimen Archivakten, wird der Fall Heß nicht ein einziges Mal erwähnt.

Ob Präventivkrieg oder Gegenangriff, auch Hitlers Entschluß zum Losschlagen stand mit der Affäre Heß in keinem ursächlichen Zusammenhang, weder militärisch noch politisch. Die Ursachen sind andere. Der neuerliche Schuß gegen die revisionistische Forschung erweist sich jetzt schon als Rohrkrepierer. Nach dem Fall Gorodetzky nun ein Fall Kellerhoff; wie wird sich diesmal die WELT aus dem Schlamassel ziehen?

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Der Hexensabbat tanzt weiter - es darf nicht sein, was wirklich war.

In der letzten DDR-Verfassung war das "unwiderrufliche Bündnis mit der Sowjetunion" niedergeschrieben. Das erinnert an die politische Schizophrenie der Bonner, ihre Amerikahörigkeit und Revisionismusangst. Kohl, Joffe, Messerschmidt scheinen das Frankfurter Weltblatt nicht mehr zu lesen. Als Ende 1996 der verstorbene Mussolini-Biograph Renzo De Felice von der Zeitschrift LIBERAL zum "Mann des Jahres" gekürt wurde, also das italienische Pendant eines Ernst Nolte oder François Furet, schrieb das FAZ-Feuilleton, in Wahrheit habe man damit nicht einen Mann, sondern eine "Haltung des Jahres" gewählt: den Revisionismus. Es sei plötzlich chic, progressiv, postmodern, als Revisionist zu gelten. Man kommt aus dem Fazstaunen nicht heraus: "Galt es bis vor kurzem als größtmögliche Injurie, die in der Zunft zu vergeben war, als 'Revisionist' bezeichnet zu werden, so scheint das Etikett 'Revisionist' jetzt zum Qualitätszeichen zu werden" (20. Dezember 1996).

Wer hätte gedacht, daß Jahre nach dem bundesrepublikanischen "Historikerstreit" der mythenstürzende Revisionismus wider alle polltical correctness sich auf internationaler Siegesstraße befindet.

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In Umkehrung der Tatsachen behauptet die neue Klasse westlicher Kremlastrologen, Revisionisten in Rußland wären Spätstalinisten und UdSSR-Nostalgiker, während die Demokraten, also die Liberalismus-Anhänger, als Antirevisionisten agieren würden. Man stellt damit die Realität auf den Kopf. Die Erforscher der Ursprünge und Verbrechen des Bolschewismus als Befürworter, gar Wegbereiter des kapitalistischen Experiments in Rußland hinzustellen, bedeutet für diese eine persönliche Beleidigung. Sind es doch gerade die Revisionisten, die vor dem amerikanischen Wirtschaftsimperialismus, dem Rußlandhaß eines maßlosen darwinistischen Kapitalismus warnen. "Kämpfen und suchen, finden und sich nicht ergeben." Mit diesem Satz schließt Kawerins Roman "Zwei Kapitäne", geschrieben während des Krieges. Das Motto könnte von einem dissidentischen Schriftsteller der Siebziger stammen, geschrieben im Archigulag.

1973 drehte Marco Ferreri "La grande bouffe", der Film machte den Italiener weltberühmt. Ein kinolukullischer Orgasmus nach der frivolen Devise des Ançien régime: Nach uns die Sintflut. Vier Luxusexemplare der Spezies Bourgeois beschließen, sich zu Tode zu fressen und zu begatten. "Das große Fressen" sollte an die 120 Tage von Sodom erinnern und der Konsumgesellschaft einen Spiegel vorhalten. "Das große Fressen" als Selbstenthüllung eines nihilistischen Liberalismus in einer Gesellschaft der Gnadenlosigkeit, Amoralität. Nicht wenige Intellektuelle im nachkommunistischen Rußland sehen sich heute mit solcher Sodomiterei konfrontiert. Diese für viele niederschmetternde Erkenntnis markiert den psychologischen Hintergrund des Phänomens russischer Historikerstreit". Was soll revidiert werden: nur die Geschichte der Vergangenheit, die sozialistische Ikonostase des Untergegangenen?

Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo, wahrlich kein Kommunist, hat für den Rußland okkupierenden westlichen Kapitalismus nur Verachtung übrig, der Sieger im Kalten Krieg ist ihm in seiner "Marx-Saga" nur eine dekadente, inhumane Gesellschaft, ein globales Sodom. Eigentlich habe Marx gesiegt, meint der Spanier. Marxens Gesellschaftsideologie sei zwar widerlegt worden, bestätigt werde aber seine Kapitalismuskritik angesichts eines bedingungslosen Monetarismus mit Gewinn-Maximierung auf Kosten des Menschen. Diese Ansicht bekräftigen russische Revisionisten, indem sie auf die innere Verwandtschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus hinweisen.

Die Sinnkrise der Intelligenzija rührt aus der lebensgeschichtlich-aktuellen Erfahrung, daß der neue Kapitalismus eben kein Gegenbild zum alten Kommunismus ist. Seit der Gaidar-Ära im Jahre 1992 hat sich das westliche Gesellschaftsmodell als Gegenbild zu Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Selbstentfremdung ad absurdum geführt. Was auf den Trümmern des Alten etabliert wurde, erweist sich als eine Diktatur der Unbarmherzigkeit, Korruption, Kriminalität, sozialen Spaltung, der Armut und Untergangsangst hier, des Zynismus und Verbrechens dort.

Den sozialen Absturz bekommen besonders die russischen Dörfer und Provinzstädte zu spüren, in denen ca. siebzig Prozent der Bevölkerung leben. Diskutiert wird allen Ernstes die Evakuierung der Einwohner der von GULag-Sklaven errichteten Geisterstädte in Sibirien und im hohen Norden, da sie nicht mehr versorgt werden können. Selbst Industriestädte im Moskauer Umland sind zum Sterben verurteilt, das traditionsreiche Textilzentrum Iwanowo zum Beispiel. Die Arbeitslosenquote in der 500 000-Einwohner-Stadt beträgt neunzig Prozent, geschlossen die Forschungsabteilungen in den einst renommierten Hochschulen. "Nirgendwo sonst habe ich so viele apathische, leere Gesichter gesehen wie bei meinem letzten Besuch in der Heimatstadt Iwanowo", notiert der Publizist Alexander Agelew. "Das Schlimmste ist, wenn nicht ohne Stolz berichtet wird, wie man es geschafft habe, einen weiteren Monat zu überleben" (Snamja, 10/1996).

Das antiwestliche Ressentiment sei heute lebendiger denn je, konstatiert Rußlandexperte Josef Riedmiller in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Februar 1997. "Es ist nicht auszuschließen, daß Konzeptionen von 'westlichem Verrat' in Rußland abermals virulent werden." Hatten die Slawophilen des 19. Jahrhunderts dem Westen vorgeworfen, das katholische Abendland habe die orthodoxen Ostslawen während der Mongolenherrschaft im Stich gelassen, so sind es heute die Neoslawophilen (wie Solschenizyn einer ist), in deren Publikationen "Verrat" ertönt, bezogen auf die amerikanisch-kapitalistische Fremdherrschaft. In der aktuellen Umfrage einer liberalen Moskauer Tageszeitung betrachten 53 Prozent es als Fehler für Rußland, den "westlichen Weg" zu gehen, 72 Prozent der Befragten ziehen "Stärke, Stabilität, Ordnung" der Demokratie vor, 48 Prozent wünschen statt Kapitalismus den "Sozialismus" (doch für 53 Prozent wäre es nicht wünschenswert, wenn die Kommunisten wieder an die Macht kämen) (Segodnja, 25. Januar 1997).

Das Wort "Kapitalismus" hat in Rußland einen aggressiven Klang. Nach der täglichen Erfahrung der meisten Russen verbindet sich das Etikett "Marktwirtschaft" mit erbarmungslosem Existenzkampf, mit der Verachtung traditioneller Gemeinschaftswerte, mit der Abdankung des Staates vor der Macht des Geldes, mit Einflußnahme des Auslands auf nationale, innerrussische Belange. Die kritische Intelligenzija verwendet für dieses Feindbild den Begriff "Liberalismus". Sie kann sich auf Stimmen im Westen stützen.

"Es gibt das Problem des Liberalismus (der sich nicht mit einer bestimmten Partei deckt), er könnte im Europa des Fortschritts und des Wohlstandes geradezu eine Immunschwäche der Politik werden", prophezeit schon vor Jahren Kurt Krenn, einer der profiliertesten Bischöfe Österreichs. "Alles endet in Selbstaufgabe des Staates und seiner Idee… In Zeiten der Prüfung entwickelt sich der Liberalismus zu einer Art Gift, weil keine Transparenz spürbar ist" (Die Presse, Wien, 14. März 1992). Nach dem Urteil des Propstes von Herzogenburg, Maximilian Fürsinn, ist Europa heute zu einem geistentleerten Kontinent geworden. "Ohne religiöse Tiefe, von der Aufklärung verwüstet, vom Liberalismus geschwächt, von Konsumismus lächerlich gemacht" (Die Aula, Graz 1/97).

Der amerikanische Philosoph und Jurist Robert H. Bork, Richter am Appellationsgericht und zeitweise geschäftsführender Justizminister, gegenwärtig Mitarbeiter des konservativen American Enterprise Institute, sieht die westliche Welt durch einen totalitären Liberalismus in ein "neues Gomorrha" schlittern ("Sloucking Towards Gomorrha. Liberalism and American Decline ", New York 1996). Symptome des Verfalls sind nach Bork: Steigende Kriminalitäts- und Abtreibungsraten, eine von Sex, Gewalt, Verbrechen, Lustgewinn dominierte Medienkultur, Radikalisierung des Individualismus, die propagierte Legalisierung von Selbstmord-Beihilfe und Euthanasie, eine allgemeine sittliche und intellektuelle Verlausung. An allem sei ein gottloser Selbstverwirklichungswahn schuld, ein Liberalismus zum Tode hin.

Anklagen wie diese könnten auch von der Kritischen Intelligenija stammen, vor allem seitens der Geschichtsrevisionisten, die ihre Aufgabe auch darin sehen, nach den seelischen Verwüstungen im Kommunismus einem neuen Ansturm seelischer Entwurzelung - diesmal unter anderen ideologischen Vorzeichen - entgegenzuwirken. Inzwischen hat die Invasion der westlich-kapitalistischen Massen"kultur" dazu geführt, daß man sich in staatlichen wie privaten Medien auf russische, teilweise sogar auf "sowjethumanistische" Traditionen besinnt, siehe Kawerins "Zwei Kapitäne". Das hat eine regelrechte Renaissance monarchischer, kosakischer, soldatischer, sozialistisch-volkstümlicher Ideale ausgelöst - alte Weltkriegs- und Historienfilme sind in Jelzins Fernsehen keine Seltenheit. Rußland, eine große Familie, eine heilige Gemeinschaft, ein unzerstörbares Wir. Selbst jene Fernsehstationen, die von amerikanischem Reklamegeld leben, zeigen keine Hemmungen, "herrliche" Sowjetlieder und Serien über eine "klassenlose" Volksgemeinschaft auszustrahlen.

Zu den geistigen Abwehrreaktionen zählt die Wiederbesinnung auf die "russische Philosophie", eine Philosophie des rechtgläubigen, nationalen oder imperialen Personalismus. Es gibt einen antidemokratischen Affekt. Er sieht im Westen eine spirituell und metaphysisch ausgebrannte Welt, ohne eine tragende Idee, eine entchristlichte Welt. Alle großen Ordnungen wurden durch eine Idee geschaffen. Das war seinerzeit das transzendierende Reich der Staufer oder das preußische Staatsethos der fridenzianischen Epoche. An die Stelle dieser Ordnungsideen sei, behauptet die identitätssuchende Intelligenz im nachkommunistischen Rußland, nur eine negative Schöpferkraft getreten.

Eine Geisteswende durch einen europäischen Superstaat oder eine Währungsunion erwartet die Intelligenzija nicht. "Brücken bauen zwischen den Völkern können nur heilige Menschen, von Gott Besessene", sagt Dostojewskij. Einer Gesellschaft, in der das Maß nicht der Mensch, sondern der Markt ist, sind Heilige und Heiliges fremd. Beim Bau des "Hauses Europa" (Kohl) ist Mammon der Götze. Diese Idee ist den Russen so fremd wie die Vorstellung, man könnte einen europäischen Bundesstaat nach dem Modell Nordamerikas schaffen.

Die Bonner Vision ist in Rußland noch nie geteilt worden. Die Nation und das Reich sind unverzichtbare Ordnungselemente der denkenden Klasse in Rußland. Der im Westen hochstilisierte Neue-Welt-Begriff "Globalismus", im Grunde eine Schreckensvision, ist ein fundamentaler Gegner des nationalen Imperativs der Russen - der Deutschen sowieso. Globalismus führe, europäisch gesehen, zur "Desolidarisierung" der Nationen, ersetze die völkischen Gemeinschaften durch anationale Gesellschaften, schreibt sogar Herbert Kremp in der Welt vom 12. Mai 1997. Globalismus agiere als "neue Internationale, deren Einfluß, noch mehr als der der verflossenen, auf der Unfaßbarkeit beruht." Unfaßbarkeit, ein anderes Wort für Absurdität, Utopie.

Vom Internationalismus jeglicher Art, ob kommunistischen oder kapitalistischen Ursprungs, hat das schwergeprüfte russische Volk genug. Diese Erkenntnis vereint alle Kontrahenten im "russischen Historikerstreit". Im Gegensatz zum deutschen.


Quelle: Staatsbriefe 8(6) (1997), S. 16-23


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