WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (2)
Omarska und Keraterm waren Vernichtungslager, betrieben mit der Absicht, die Gefangenen zu töten. Sie erhielten einmal am Tag eine Hungerration. Das Trinkwasser war verschmutzt. Jeden Tag wurden Gefangene geschlagen und getötet. Nachts Hinrichtungen. Zur Folterung wurden Metallstangen, Kabel, Messer, Gewehrkolben verwandt. Im Frauenlager Trnopolje wurden Kinder, Mädchen, Mütter vergewaltigt. Das geschah nicht in der Sowjetunion, nicht zu Stalins Zeiten. Das fand statt im nordbosnischen Verwaltungsbezirk Prijedor, 1992, 39 Jahre nach Stalins Tod. Die Täter waren Serben. Es gibt Zeugen. Hunderte von Überlebenden. Die Massenvernichtung im GULag bezeugen Akten der Täter. Protokolle, Gerichtsurteile, Anordnungen, Meldungen, Todeslisten. Millionen Schriftstücke, die für den Nachgeborenen das Maß des Vorstellbaren sprengen. Gelagert sind die Dokumente in Geheimarchiven ehemaliger Sowjetinstitutionen. Unvorstellbar wie der Inhalt der Schreckensakten ist deren Behandlung heute.
Da existiert ein Archivdienst der Russischen Föderation (Rosarchiv), untergebracht in den Verwaltungsgebäuden des Präsidenten am Alten Platz in Moskau. Doch der Zugang zu GULag-Dokumenten ist reglementiert Zensur findet statt. Die Archive der ZK-Abteilungen, über zwanzig, ließ Jelzin 1992 zu einem einzigen Archiv zusammenführen. Es nennt sich jetzt "Zentrum zur Aufbewahrung zeitgenössischer Dokumentation". Die Aktensäle der meisten ZK-Abteilungen sind gesperrt. Stalins persönliches angegliedert dem Präsidialarchiv Jelzins, bleibt verschlossen. "Nichts deutet darauf hin, daß man sie bald freigeben wird, im Gegenteil: Kontrolle und Beschränkungen nehmen in den russischen Archiven zu", konstatiert der auf Rußland spezialisierte Revisionismusforscher Markus Wehner. "Die goldenen Zeiten für die Forscher sind vorbei, ein neuer Formalismus triumphiert (FAZ vom 17. Juli 1997).
Anders in der Ukraine, wo dem Ausloten der Abgründe keine Grenzen gesetzt sind. Das ukrainische Archivgesetz von 1993 garantiert jedem Ukrainer Zugang zu den geheimen Aktenbeständen und schreibt zudem eine Gleichbehandlung von In- und Ausländern vor. Kostenlos, abgesehen von den Kopie-Gebühren, bis zu 14 Mark pro Seite.
Zurück zu Rußland. Für die restriktive Behandlung von Dokumenten einer Macht, die im August 1991 den tödlichen Kollaps erlitt, gibt es mehrere Grunde, abgesehen davon, daß das allgemeine Chaos auch das Archivwesen infiziert hat, wo es sich in Schlamperei, Korruption, Diebstahl, Bürokratismus äußert. "Was die Bürokratie angeht, so hat Rosarchiv die Kommunisten schon eingeholt und teilweise übertroffen", schildert Direktor Mansur Muhamedschanow die niederschmetternde Erkenntnis der Archivleiter. Er selbst verwaltet ein Sonderarchiv, das Beutedokumente aus 18 Ländern sowie die Personalakten der deutschen Kriegsgefangenen beherbergt.
Es fehlen nicht nur wissenschaftlich geschulte Mitarbeiter, um die Anfragen aus dem Ausland zu beantworten, man hat nicht einmal Umschläge und Briefmarken, um die Auslandspost abzusenden. Der Direktor haust in einer fünfstöckigen Ruine im Norden Moskaus, abgesperrt mit verrosteten Metallzäunen, damit die herabstürzenden Außenfenster Passanten nicht erschlagen.
Ein anderer Grund ist die Furcht der in Verbrechen verstrickten alten Nomenklatura vor Entlarvung, und zu ihr gehört ja auch Jelzin. Auf seine Anordnung hin dürfen ZK-Dokumente, die nicht alter als dreißig Jahre sind, nicht herausgegeben werden. Im schon erwähnten Präsidialarchiv Jelzins befanden sich Dokumente diverser Schlüsselkommissionen des Politbüros, einschließlich der Personalakten wichtiger Parteiführer. 20 000 Akten wurden bisher an andere Archive abgegeben, doch hatte man sie vor der Übergabe "gesäubert", und selbst in diesem Zustand stehen die den Historikern nicht zur Verfügung.
Ein dritter Grund: die immer noch grassierende Spionagemanie, besonders ausgeprägt im Umfeld von Außenminister Primakow, der die Dokumente im Archiv des sowjetischen Außenministeriums wie goldene Eier hütet und die Recherchen in- wie ausländischer Revisionisten behindert (im Blick auf Stalins kriegstreiberisches Doppelspiel 1939-40 von gravierender Bedeutung).
Viertens schließlich die Sperrung von Zuschüssen aus dem Staatshaushalt. Für die Zahlung der Betriebskosten fehlt den Archiven ebenso das Geld wie für Gehalter und Reparaturen, von modernen Anlagen für die Feuersicherheit ganz zu schweigen. Das Computer-Zeitalter beginnt erst in hundert Jahren. Recherchen- und Kopierauftrage können nicht mehr erfüllt werden. Etwa 20 Milliarden Rubel Schulden hat Rosarchiv, also wurden die Lifte abgestellt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter entlassen. Jetzt arbeiten Rentner, die gerade soviel verdienen, um die Monatskarte für Metro und Bus zu bezahlen. Ausländische Hilfe u. a. 500 000 Mark vom Bundesarchiv zum Kopieren von Dokumenten wurde veruntreut, versickerte im Mafiasumpf; in Deutschland erhielt man nicht eine einzige Kopie.
Zu einer Änderung der chaotischen Archivpraxis fehlt dem Jelzin-Regime der politische Wille. Zu dieser Einsicht gelangt der Schriftsteller Wladimir Bukowskij, in den siebziger Jahren ein bekannter Dissident. Nach einem Besuch der Lubjanka schreibt er: "Die Archive waren das Innerste des KGB, das Herz des Drachen, verborgen unter sieben Siegeln. Den Drachen konnte nur derjenige toten, der bis dorthin vordrang. Jelzin, der gleich nach dem Putsch einen Ukas über die Übergabe der KGB-Archive an die Russische Archivverwaltung erließ, verlor anscheinend jegliches Interesse an der Sache (wie übrigens auch an allen anderen Belangen des Landes). Eine zwischenbehördliche Kommission für die Übergabe der Archive wurde gebildet, in der die Mitarbeitet des KGB mit wichtigen Mienen die Probleme der Übergabe erörterten, aber selbstverständlich nicht lösen konnten. Eine Kommission mit dem General und Historiker Dmitri Wolkognow wurde eingesetzt. Man brauchte doch eine rechtliche Basis, ein Gesetz. Wie sollte es ohne Gesetz gehen? Es war ja kein einfaches Problem, ob alles für 30 oder 70 Jahre der Geheimhaltung unterliegen sollte. So begannen die Mühlen der Bürokratie zu mahlen, und sie mahlen heute noch. Bis heute sind die Dokumente nicht übergeben worden. Unterdessen entstanden um die Archive herum irgend welche geheimnisvollen kommerziellen Einrichtungen. Ein lebhafter Handel mit den Dokumenten begann, aber nur mit solchen, deren Veröffentlichung für den KGB von Vorteil war, und nur durch diejenigen, die dem KGB genehm sind" ("Abrechnung mit Moskau. Das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens", Bergisch Gladbach 1996, S. 92).
Für den objektiven Historiker nicht nachvollziehbar: Die Nachfolgeorganisation der wohl schlimmsten Geheimpolizei der Moderne weigert sich beharrlich, das Jahrhundertverbrechen GULag anhand der Archivunterlagen zu enthüllen, und das im Einverständnis mit dem Staatsoberhaupt eines demokratischen Rußland im Jahre 7 nach dem Krach der bolschewistischen Diktatur. Bislang hat jede Revolution in Europa mit den Trägern und mit dem Geist des gestürzten Regimes radikal aufgeräumt, physisch, ideologisch, ordnungspolitisch. Nur der August einundneunzig macht eine Ausnahme; liegt Rußland doch nicht in Europa?
Wundern muß man sich da, daß aus diesem Labyrinth, das die Russen selbst als "bardak" bezeichnen (Hurenhaus), noch etwas an die Öffentlichkeit transportiert werden kann. Erschwerte Zugange zu den Archiven, Jelzins Ukase, verbotene Zonen für Revisionisten, mafiose Manipulationen des Alt-KGB so undurchlässig sind die Mauern nicht. Sie bestehen nicht aus stalinistischem Beton. Ernsthafte, mutige Geschichtsforscher finden immer noch ein Schlupfloch zur Wahrheitsfindung, zumal gegen Bestechung kein Altbolschewik immun ist. Der Dollar dient als Sesam-öffne-Dich. Dem Ansturm der Revisionisten halten die Baufälligen Archivburgen nicht stand. Jüngstes Beispiel: ein Dokumentarwerk des Deutschen Erwin Peter und des Russen Alexander Epifanow über "Stalins Kriegsgefangene", im Untertitel: "Ihr Schicksal in Erinnerungen und nach russischen Archiven" (Graz 1997). Dabei handelt es sich um ehemals geheime Archive des NKWD bzw. MGB, des sowjetischen Justizministeriums, der Roten Armee.
Mitautor Dr. Alexander Epifanow ist unseren Lesern kein Unbekannter (Staatsbriefe 5/1997). Der heute 43-jahrige war vor 1991 Untersuchungsrichter der Militärstaatsanwaltschaft und hat derzeit einen Lehrstuhl an der Wologograder Juristischen Hochschule. Aufsehen erregte hierzulande der Historiker durch einen tabubrechenden Beitrag in dem Werk "Die Tragödie der deutschen Kriegsgefangenen in Stalingrad 1942-1955" erschienen im Biblio-Verlag, Osnabruck 1996. Erstmalig in der russischen Kriegsforschung schilderte Epifanow das gewaltige Ausmaß der freiwilligen Zusammenarbeit zwischen der russischen, ukrainischen und kosakischen Zivilbevölkerung und der 6. Armee im Dongebiet.
Ein Jahr später schreibt Epifanow im Kriegsgefangenen-Buch des Stocker-Verlages, Graz: "Vor allem zu Anfang war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht groß, nicht zuletzt durch die beginnende Aufteilung der Kolchosen und die freie Betätigung für die orthodoxe Kirche. Außer ehemaligen Kulaken, Angehörigen nationaler Minderheiten wie den Kosaken, oder Personen, die aus sonstigen Gründen unter der Sowjetmacht zu leiden hatten, waren es gerade jugendliche und Komsomolzen, die in großen Prozentsätzen gewonnen werden konnten. Durch die verschiedenen harten Maßnahmen der Besatzungsmacht (ob kriegsnotwendig oder nicht) änderte sich die Einstellung der Bevölkerung dann wieder. Noch kaum aufgearbeitet ist aber die Säuberungswelle, die die ehemals besetzten Gebiete sofort nach der Wiedergewinnung durch sowjetische Truppen durchlief und alle Personen erfaßte, die den Deutschen als Dorfälteste oder in anderen offiziellen Funktionen gedient hatten". (S. 255).
Literatur über die Einzigartigkeit des GULagismus publizierten vorwiegend private, nichtstaatliche, parteiunabhangige Organisationen. Eine lange Reihe von Büchern und Broschuren veröffentlichte die 1992 in Moskau gegründete Gesellschaft "Memorial". 1998 soll ein großes Nachschlagewerk zum Vernichtungssystem des GULag erscheinen. Die Suche nach Massengräbern geht weiter. Nach 15 Jahren Recherchen in Geheimakten des KGB-Vorläufers NKWD wurde "Memorial" in den Wäldern von Karelien fündig. Eine Hinrichtungsstätte mit den verwesten Leichen von 9 000 Erschossenen entdeckte man beim Dorf Sandormoch. In diesem Todeslager wurden Ende 1937 Intellektuelle u. a. der berühmte ukrainische Theaterregisseur Les Kurbas , Bauern, Minister, Offiziere und Geistliche per Genickschuß ermordet, neben russisch-orthodoxen Bischöfen auch katholische und lutherische Pfarrer der Wolgadeutschen. Exekutiert wurden hier die letzten Sträflinge vom Weißmeerkanal.
Solschenizyn hat Solowkij das "Auschwitz am Polarkreis" genannt. Die legendäre Klosterinsel im Weißen Meer ist die Geburtsstätte des GULag. Ab 1923 sei das Solowetzkij Vernichtungslager das erste KZ großen Stils gewesen, "in dem die neuen Methoden der Umerziehung zum neuen Menschen durch Liquidierung der alten Klassen erprobt wurden ein wahres Laboratorium des Todes", schreibt die russisch-jüdische Historikerin Sonja Margolina, eine Revisionistin. "Solowkij wurde in den zwanziger Jahren buchstäblich zum Konzentrationslager der alten, vorrevolutionären Gesellschaft. Hier wurden alle Ehemaligen konzentriert: Angehörige aller Parteien von den Anarchisten zu den Monarchisten, Offiziere der weißen Armeen, ehemalige Abgeordnete der Duma, Kaufleute und Aristokraten, Gelehrte der Petersburger religios-philosophischen Gesellschaft, bekannte Schauspieler und Journalisten, Geistliche aller Konfessionen. Aber es fanden sich auch schon andere, die unbotmäßig gewesen waren: Überlebende des Matrosen-Aufstandes von Kronstadt und der Bauernrevolten von Tambow Hier lernten die politischen Häftlinge, die ihre ersten Erfahrungen noch in zaristischen Gefängnissen gemacht hatten, daß ihre Privilegien Befreiung von physischer Arbeit, Bezug von Zeitungen nicht mehr viel galten und daß einst wirksame Kampfmethoden wie der Hungerstreik auf die neuen Herren keinerlei Eindruck machten. Es war die Einübung in eine Welt, in der Erniedrigung, Grausamkeit und Willkür die einzigen Konstanten waren" (FAZ-Magazin vom 25.Juli 1997).
Am Eingangstor zur Massenmordinsel stand "Laßt uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben". Maxim Gorkij teilte 1929 der Welt mit, er sei bei seinem Solowkij-Besuch beeindruckt gewesen vom Enthusiasmus des "neuen Menschen" und von den Erfolgen bei der "Umschmiedung des Menschenmaterials". Die Massengraber hatte der große Schriftsteller ignoriert.
Daß Sonja Margolina und ihr deutscher Mitautor Karl Schlogel, ein renommierter Slavist, das Grauenvolle haut nah erleben konnten, verdankten sie den Mönchen und dem Petersburger Fotografen Jurij Brodskij. In einer Dauerausstellung im Klostermuseum präsentiert sich die Nacht des bolschewistischen Schreckens, mit Fotos der Massenmörder Berman, Frenkel, Jagoda. Erhalten die Klosterkathedrale; nach ihrer Ausraubung und Plünderung errichtete die OGPU hier die Quarantäne für die Schlachtopfer, die Latrine befand sich hinter dem Altar, die Erschießungsmauer am Fuße des Glockenturmes. Erhalten die steile hölzerne Treppe am Klosterhügel an Balken gefesselte Gefangene wurden zu Tode gestürzt.
Den Spätstalinisten ist es nicht gelungen, die Revisionisten die Solowkij-Treppe hinabzustürzen. 1996 erschienen in russischer und italienischer Sprache zwei Enthüllungswerke, die sich auf Dokumente aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv stützen: "Die Rote Armee und die Kollektivierung des Dorfes 1928-1933" und "Repressionen in der Roten Armee in den dreißigerJahren" (Instituto Universitario Orientale, Neapel). Nonna Tarchowa und Vera Michalewa gelingt der Nachweis, daß bei der Ausrottung der Mittel- und Kleinbauern ("Kulaken", das heißt Großbauern, gab es 1928 nicht mehr) das Heer eine entscheidende Rolle spielte. Zwar war das wichtigste Exekutivorgan bei der "Entkulakisierung" die Geheimpolizei OGPU, doch wurde auch die Rote Armee von der sozialen Herkunft ihrer Rekruten zu fast siebzig Prozent ein bäuerliches Heer in den Terrorfeldzug gegen das Dorf kommandiert, mit Billigung der Truppenführer.
Nicht ein einziger General aus dem Kader der Bürgerkriegshelden verweigerte den Befehl zur Massenvernichtung oder beging Selbstmord. Willige Vollstrecker. Der Haß der Altbolschewiken auf das "rückständige" Bauerntum, der Haß der Trotzki, Swerdlow, Sinowjew war auch ihr Haß;. Also vernichten. Die russischen Historikerinnen dokumentieren die Brutalität der Roten Armee bei der Niederschlagung spontaner Bauernaufstände, bei der Getreidebeschlagnahmung und den Verhaftungsaktionen, bei Erschießungen und Deportation. Bis Mitte der dreißiger Jahre war die KRKA ("Rote Arbeiter- und Bauernarmee") Erfüllungsgehilfe von Stalins Krieg gegen die Bauern.
In der Kommission unter Lasar Kaganowitsch, die 1932/ 33 das Brotgetreide in den Hungerprovinzen am Dnjipro, Donez, Don, Kuban konfiszieren ließ, saß General Jan Gamarnik, Chef der politischen Armeeführung. Als im Juni 1937 Stalin die alte Garde der Bürgerkriegskommandeure in den Korridoren der Lubjanka erschienen ließ (Gamarnik hatte sich dem Genickschuß durch einen Schläfenschuß aus der eigenen Pistole entzogen), bedauerte kein Bauer das Schicksal dieser Bauernblutsäufer, neben dem Russen Tuchatschewskij die russophoben Nichtrussen Lewandowski, Kork, Eidemann, Schmid, Alksnis, Jakir, Putna, Uborewitsch, Feldmann. (Zwanzig Jahre nach dem Stalinschen Hungermassaker sollten beim "Großen Sprung" in Rotchina 27 Millionen Bauern verhungern, und Maos "Volksbefreiungsarmee" sich als Exekutor betätigen.)
In der Ukraine starben zwischen 1930 und 1933 ca. zehn Millionen Dorfbewohner. Ukrainische Revisionisten bemühen sich, den Bauernholocaust ("Golodomor") als tragischen Bestandteil ihrer nationalen Identität zu analysieren. Über den Leidensweg und den Widerstand künden Gefangenenlieder, Volksballaden, Zuchthausgedichte, Lagerchoräle. "In den finsteren Zeiten/Wird da auch gesungen werden?/ Da wird auch gesungen werden./Von den finsteren Zeiten." (Bert Brecht)
1974 erschien der zweite Band von "Archipel GULag", Solschenizyn titelte ihn "Arbeit und Ausrottung". Die russische wie auch die deutsche Originalausgabe (Bern 1974) enthielt keine Fotos. GULag-Zeichnungen lieferte zwanzig Jahre später der Zeitzeuge Dantschik Baldajew, ein Burjat-Mongole.
Solschenizyns Werk ist von der Art, aus der Mythen gemacht werden. Mythen, hinter denen Zahlen stehen. 15 Millionen eingesperrte Vernichtungskandidaten im Todesjahr Stalins, 1953; 15 Millionen Bauern 1929/30, deportiert in die Sklavenvernichtungslager Sibiriens. Menschen mit der sicheren Aussicht auf einen frühen Tod, von Hunger gepeinigt, Sadisten gefoltert, von Schwerstarbeit seelisch und körperlich zerstört, vertrieben in eine existentielle Leere.
Was Orwell und Huxley gefehlt hat, die Erfahrung der Hölle, der Russe Solschenizyn diktiert das Unauslöschliche als Geretteter und Untergegangener. Daher rührt sein Kulturpessimismus, kulminierend in Schreckensvisionen eines sterbenden Rußland.
Solschenizyns Schlüsselerlebnis, der GULagismus, war nicht nur ein Ort, sondern auch ein Termin, er bedeutete die Wende: Der Davongekommene war sich darüber im klaren, daß Rußland nie mehr das Rußland von vorher sein wurde. Der GULag war einschneidender als die 250jahrige Mongolenherrschaft, einschneidender als der Erste Weltkrieg, einschneidender als der Aderlall im "Großen Vaterländischen Krieg". GULag steht für einen Kulturbruch, den Rußland in seiner tausendjährigen Geschichte bis dahin nicht gekannt hat.
Ohne den Zweiten Weltkrieg mit seinen Massenvernichtungsszenarien hätte es keinen Holocaust gegeben, was ihn vom GULag-System, wo ohne Krieg Massenvernichtung betrieben wurde, unterscheidet. Geboren wurde der GULagismus 1918, und er dauerte fort, als der Zweite Weltkrieg beendet war. Die grausame Auslöschungsmethode der Vergasung wurde im GULag erprobt. Auf Anordnung Berijas trieb man Ende der dreißiger Jahre zur Erschießung verurteilte Politgefangene in die Gaskammern. Frauen und Männer unterschiedlichen Alters wurden massenhaft als Versuchskaninchen beim Testen des Kampfgases BOB qualvoll ermordet in Speziallabors von Moskau und Schichny. Recherchiert und bezeugt vom Gulagismus-Forscher Dantschik Baldajew.
Kürzlich empörte sich die Weltöffentlichkeit über grausame Tierversuche. Um die Wirksamkeit neuer Medikamente zu testen, wurden Beagle-Hündinnen mit einer Elektrosäge und ohne Betäubung die Vorderbeine zersägt, Schäferhunden die Läufe gebrochen in Amerika und in Deutschland. Welche Qualen müssen wehrlose Menschen erlitten haben, denen man bei vollem Bewußtsein die Glieder abhackte oder ihren Körper mit der Bogensäge "halbierte". Geschehen im GULag, exekutiert an widerspenstigen "Politischen", ausgeführt von Kriminellen mit Billigung des Lagerchefs.
Dokumentarische Bilder über organisierten Sadismus und Millionenmord verdanken wir dem Burjat-Mongolen Dantschik Baldajew, Sohn eines "Volksfeindes", geboren in Ulan-Ude. 58 Mitglieder seiner Sippe fanden im GULag den Tod. Der Vater war ein berühmter Ethnologe. Deportiert. Sein Sohn kam in ein NKWD-Waisenhaus, absolvierte eine kunstpädagogische Berufsschule, wurde 1943 zur Roten Armee eingezogen. Nach dem Krieg diente sich der heute 72jahrige vom Gefängnisblockwart bis zum Kriminalpolizisten für Schwerverbrecher hoch. Im Leningrader Zentralgefängnis lernte er den GULag aus der Sicht der Verfolgten und der Verfolger kennen.
Heimlich begann Baldajew das Grauenvolle schriftlich festzuhalten. Im Stil von Anweisungstafeln, wie sie in sowjetischen Amtsstuben üblich waren, zeichnete Baldajew exakte Bilder von Folterungen, Vergewaltigung, Erschießungen aus dem Lageralltag, nach Augenzeugenangaben von GULag-Überlebenden. So entstanden bis 1991 ca. 190 Tusch-Zeichnungen, 20 mal 24 cm groß, für 32 große Schautafeln. Einige davon veröffentlichte der Frankfurter Verlag Zweitausendeins ("GULag-Zeichnungen", 1993).
Im nachkommunistischen Rußland ist Dantschik Baldajew eine bekannte Persönlichkeit. Man nennt ihn den "Repin des GULag". Seine Schautafeln waren auf zahlreichen Ausstellungen zu sehen. Die Geschichte entlügen diesem Zweck dienen Baldajews Ausstellungen. Solowkij fehlt nicht. Zu einer Zeichnung verfaßte Baldajew den Text: "Im SLON wurden Häftlinge an einen Holzstamm gebunden und eine Treppe am Sekirnaja Berg, die 365 Stufen hat, hinabgestürzt. Die Treppe hatte verschiedenen Namen, die Jahrestreppe, Dreschmaschine, Todestreppe und Paradiesstraße. Damals, in den ersten Jahren der Sowjetmacht, waren die Opfer meist Klassenfeinde. Die Leichnams der so zu Tode Gekommenen waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt" (S. 106).
SLON ist die Abkürzung "zur besonderen Verwendung". Slon heißt im Russischen auch Elefant. Die ",Paradiesstraße" ist ein historisches Bauwerk. Die Treppe am Sekirnaja Berg führt zu einer alten Klosterklause, ihre 365 Stufen haben eine religiöse Bedeutung: Wer sie erklommen hat, hat gleichsam das ganze Jahr durchschritten und oben, im Paradies angelangt, die Mühsal des Lebens hinter sich gelassen.
Obgleich das Wissen über Funktion und Ausmaß des Sowjetterrorismus seit Solschenizyns "Archipel GULag" als gesichert gilt, schockierten die Baldajew-Zeichnungen durch ihre Direktheit, ihre visuelle Aussagekraft, ihre Schreckensfaszination. Wer hatte das für möglich gehalten? Frauen, Männer, Kinder in Giftgas-Laboratorien der Roten Armee (S. 318/19), Babys und Minderjährige, die von ihren Muttern hinter Stacheldraht gewaltsam getrennt und in Kinder-KZ geschickt werden, wo sie bald ebenso verenden wie ihre wahnsinnig gewordenen Mütter. Massenvergewaltigung von Frauen, die das NKWD den kriminellen Schwerverbrechern zur Erniedrigung, Marterung, Vernichtung überläßt.
Der permanente Doppelterror von Lagermafia und Lageradministration. Hungerrationen für Sklavenarbeiter, unter denen Suizid und Kannibalismus grassieren. Wahllose Erschießungen von "Arbeitsbummlern", "Simulanten", Kranken, Hungerstreikenden. Lagerappelle und Arbeitsausmärsche unter den Walzerklängen des Lagerorchesters. Unbekleidete Frauen, Jugendliche, Männer, die man aus der Lagersauna in die Tundra bei 50 Grad unter Null hinausjagt und sie im Schnee liegen läßt. Leichenaufstapelung durch wandelnde Leichen, Massengräber nicht mit dem Spaten oder Bagger gegraben, sondern mit Dynamit oder Ammonal gesprengt. Folterungen bestialischster Art, wie sie in keinem anderen totalitären Regime vorkamen.
Baldajew bezeugt: "Was die Effizienz betraf, blieb die Gestapo weit hinter den vom NKWD erreichten Erfolgsquoten zurück Dem Urteil der Häftlinge zufolge war es im GULag schlimmer als in den Lagern Hitlers" (S. 272).
"Vemichtungskrieg" hier trifft der von Heer und Reemtsma eingeführte Begriff zu, nicht in einem demagogischen Sinne, sondern in der Realität. Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk, gegen Völker, Rassen, Religionen, Kulturen, und das mitten im Frieden. Laut Solschenizyn verschlang der wirkliche Vernichtungskrieg 66 Millionen Menschenleben im Laufe von 50 Jahren. Was spricht gegen einen GULag-Spiegel im Münchner Rathaus, besser noch: im Münchner Amtsgericht?
Stalin bringt beim ersten Treffen der "großen Drei" in Teheran 1943 einen Trinkspruch auf die bei Kriegsende fällige Erschießung von "wenigstens fünfzigtausend deutschen Offizieren" aus. Churchill protestiert, Roosevelt will abwiegeln und das Ungeheuerliche auf eine makabre Ebene herunterspielen, indem er als "Kompromiß neunundvierzigtausendfunfhundert vorschlägt.
Am 9. Mai 1997 legt die PDS auf den Seelower Höhen am Fuße des stalinistischen Heldendenkmals einen Kranz mit roter Schleife nieder: "Dank an die sowjetischen Befreier." Diese Befreier öffneten einem Singulären Zivilisationsbruch alle Schleusen.
Das Böse im GULag hat überlebt, der serbische Ausrottungskrieg 1992/93 belegt es. Das Böse ist eine der möglichen Prinzipien der Handlungsfreiheit des Menschen die Unmenschlichkeit als höchste Vervollkommnung des "sich selbst zum Gott setzenden Individuums" (Solschenizyn). Obgleich auch von deutscher Seite die Einzigartigkeit des GULagismus immer starker ins Zentrum seriöser Zeitgeschichtsforschung ruckt, bedienen sich Historiker der konventionellen 45er-Schule der Begriffe "Vernichtungskrieg", "Vernichtungspraxis", "Weltanschauungskrieg" als Kennzeichnung ausschließlich der Hitlerschen Osteuropapolitik.
Die Lager des GULag seien keine Statten der "Besserungsarbeit" gewesen, sondern Orte der gezielten Massenvernichtung durch Zwangsarbeit, resümiert der junge Historiker Ralf Stettner in seinem revisionistischen Werk "Archipel GULag" (Paderborn 1996). Der Massentod sei beabsichtigt gewesen, sei zielstrebig herbeigeführt worden. In einer Besprechung gibt Wolfgang Sofsky die Zahl der Ermordeten mit 15 Millionen an nur für den Zeitraum 1937 bis 1953 (Die Zeit vom 21. März 1997).
Diese Zahlen tauchen in einem FAZ-Artikel des Historikers Hans-Ulrich Thamer nicht auf ("Wehrmacht und Vernichtungskrieg"). Im fünfspaltigen Beitrag des Professors von der Universitat Münster sucht man vergebens nach dem Schlüsselbegriff "GULag". Der Gulagismus existierte für ihn nicht, als am 22. Juni der "antibolschewistische Kreuzzug des Dritten Reiches und seiner Wehrmacht" begann (22. April 1997, S. 10). Für die vom Gulagismus Erniedrigten und Unterdrückten war es tatsächlich ein "Weltanschauungskrieg", nur anders, als es Thamer deutet. Die Tatsache, daß während des Krieges die "Wiederaufnahme des Gottesdienstes in fast 10 000 Kirchen in den von den Deutschen besetzten Gebieten" stattfand (Wolfgang Kasack), spricht nicht für eine "slawenfeindliche" Weltanschauung der deutschen Fronttruppe (Kasacks Beitrag erschien in Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, ein Sonderdruck der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Stuttgart 1997, S. 738).
1996 publizierte ein Moskauer Verlag das revisionistische Werk "Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1949" Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, (russisch). Sensationell: schon im November 1941 Guderians Panzer standen vor den Toren Moskaus teilte Stalin dem britischen Außenminister Eden seine Kriegsziele mit. Die Ziele eines Imperialisten. Ausweitung der sowjetischen Hegemonialherrschaft in Nord-, Mittel- und Südosteuropa, Verkolonialisierung des Raumes zwischen Helsinki und Sofia, Zerstörung der deutschen Staatlichkeit, des deutschen Einheitsstaates, Zerreißung des Reiches, eine sowjetische Besatzungszone. Nicht weniger sensationell: Forschungsergebnisse bezüglich der deutschen Sondierungsversuche 1943, den sowjetisch-deutschen Krieg durch einen Separatfrieden zu beenden. Das Werk enthält in russischer Sprache 162 Dokumente für den Zeitraum 22. Juni 1941 bis zur Kapitulation im Mai 1945. Es fehlen allerdings bereits publizierte Geheimdokumente, die sich auf Stalins Aggressionspläne 1939-1941 beziehen entdeckt und analysiert von russischen Revisionisten (Staatsbriefe 5/1995, 8/1996, 9-10/ 1996, 11/1996). Und es fehlen die chiffrierten Telegramme der Sowjetbotschaft in Berlin an das Moskauer Außenministerium August 1939-Juni 1941.