Der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow hat in einem Gespräch mit der FAZ (23. 3. 1998) in Königstein (Taunus) ungefragt Königsberg eine "deutsche Stadt" genannt. "Was sollen wir in Ostpreußen ?", fuhr er fort. "Wir ha ben genug eigenes Land, das noch herrenlos ist." Zuvor hatte er über die Kunstbeute geäußert, es sei unehrlich, sich fremdes Gut anzueignen, sämtliche Werke sollten zurückgegeben werden. Die Staatsbriefe hatten die Ostpreußen-Frage schon vor einigen Jahren strategisch angeschnitten, in 2/92 "Von Russen und Deutschen", 11/92 "Deutsch-russische Präliminarien", 7/93 "Zum Projekt Nord-Ostpreußen". Damals sahen die Russen und die Deutschen Königsberg keineswegs als eine Karte. Heute beginnen die Russen, wie der folgende Beitrag zeigt, hier Chancen zu wittern. Solange Deutschland von einer US-hörigen Schicht beherrscht wird, sind sie nicht zu verwirklichen. Diese Kräfte würden Nord-Ostpreußen lieber auch noch den Polen zuschlagen wollen oder müssen. Es wird indessen auch in Rußland noch eine Weile dauern, ehe solche Planspiele sich zu aktiver Politik verdichten.
WOLFGANG STRAUSS / DIE KARTE KÖNIGSBERG
Damit wir uns keine Illusionen über Königsberg machen: das heutige Kaliningrad ist weder eine russische noch eine deutsche Stadt, das einstige Geisteszentrum Deutschlands ist eine Mafia-Metropole, als Waren- und Sklavenumschlagplatz in den Klauen von Kriminalkapitalisten. Kaliningrad hat die höchste Aids- und Syphilisraten Osteuropas, Todesasyl für zehn- oder zwanzigtausend Drogensüchtige. Der Frauenhandel via EG läuft über Kaliningrad. Die globale Prostitution, nicht die preußische Krone, hält Kaliningrad über Wasser. Der Königsberger Dom ist nach wie vor eine Ruine, zum Wiederaufbau fehlen Geld und Wille. Kants Grabmal wurde von uniformierten Räubern nach der Eroberung 1945 verwüstet, geplündert, die Gebeine auf der Kneiphofinsel verstreut, der jetzige Sarkophag ist eine Nachbildung.
90 Prozent der 950 000 Einwohner fristen ein Leben in der Gosse, auf der Müllkippe. Die Neureichen, eine dünne Oberschicht. Die Arbeitslosigkeit beträgt, inoffiziell, 75 Prozent - 100 Prozent in den heruntergekommenen Dörfern Nordostpreußens. Jeder zweite Jugendliche ist ohne Job, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe kennt die Beuteprovinz nicht. Also betteln, stehlen, schmuggeln, kiffen, dealen. Sowjetische Staatsbetriebe von einst "privatisiert", das heißt zerschlagen und verschrottet, den Rest verhökert an die Mafia.
Gouverneur Leonid Gorbenko schwankt zwischen Siegeseuphorie und Totalkapitulation. Ohne die Mafia wäre er ein Nichts. Von Jelzin fordert er 4,5 Milliarden Dollar (Dollar, nicht Rubel!), um die Schulden bezahlen zu können, den Deutschen will er kein Generalkonsulat gewähren. Er flüchtet in die Utopie einer selbständigen "4. baltischen Republik", gleichzeitig biedert er sich bei deutschen Konzernen und Multimillionären an. "Wer will unser Gebiet kaufen?" brüllt Mafioso Gorbenko. Und hofft: "Die Deutschen!"
Wohl nicht für einen Verkauf, sondern für eine territoriale Rückgabe plädieren russische Geopolitiker, die in "Königsberg" eine Brücke zwischen dem neuen russischen und zukünftigen deutschen Reich sehen. Ihr Lager geht quer durch fast alle Fraktionen der Duma. Auch im russischen Generalstab. Freigabe Nordostpreußens primär nicht aus Ökonomischen, sondern aus machtpolitischen, weltanschaulichen Gründen. Diesen Strategen geht es um die Schaffung einer antiamerikanischen "Achse Berlin-Moskau".
Der jüngste Beweis dieser Offensive: das 600 Seiten starke Buch "Grundlagen der Geopolitik / Die geopolitische Zukunft Rußlands", erschienen Ende 1997 im Moskauer Arktogen-Verlag, verfaßt von Alexander Dugin und Generalleutnant Nikolaj Klokotow. Der erstere ist Chefpublizist der Anti-Nato-Bewegung eines Sergej Baburin, des stellvertretenden Duma-Präsidenten; Klokotow arbeitet als wissenschaftlicher Berater an der Fakultät der Strategischen Militärakademie des Generalstabs. Interessant, daß Alexander Dugin, ein Intellektueller russisch-jüdischer Herkunft, bislang als Fürsprecher einer Achse "Paris-Moskau" gegolten hat. Warum diese Wende?
Beide Verfasser erstreben nach einem Bericht des Ostpreußenblattes vom 17. 1. 98 die politische Befreiung von der Hegemonie Amerikas. Nur einer Achse Berlin-Moskau könnte es gelingen, so Dugin und Klokotow, Europa von der Vorherrschaft der USA zu befreien. Voraussetzung wäre die Rückgabe des Kaliningrader Gebiets als Zeichen der Überwindung eines "brudermörderischen Krieges" zwischen Deutschen und Russen, im Einklang mit der Bismarck-These, daß Deutschland im Osten keine Feinde habe. Allerdings, und dies ist die Crux in dieser Offerte, soll das regermanisierte Nordostpreußen weiterhin den "militärischen Schutz" Rußlands genießen. Mit anderen Worten: das deutsche Königsberg mit russischen Soldaten, angetreten zur Verteidigung deutscher und russischer Reichsinteressen im Kampf gegen den amerikanischen Ost-Vormarsch.
Illusionen sind oft langlebiger als Geschichtslehren. Im Gegensatz zu den Autoren des hier genannten Buches fordert General Lebed die Bildung einer Staaten-Troika Frankreich-Deutschland-Rußland. Dies bestätigte die Iswestija am 22. Januar 1998 ("Lebed schlägt eine Achse Moskau-Bonn-Paris vor"). Eine Absurdität, die den Geschichtskenntnissen des Generals ein miserables Zeugnis ausstellt. Lebed träumt von einer "geopolitischen, militärstrategischen Partnerschaft von Frankreich, Deutschland und Rußland"; hat er vergessen, daß Frankreichs Vorherrschaftsstreben stets gegen ein einiges, starkes Reich im Zentrum Europas gerichtet war? Ohne das Kriegsbündnis Paris-Petersburg, bestimmt zur Zertrümmerung Deutschlands, wäre der Erste Weltkrieg vermutlich nicht ausgebrochen. Wie fast allen russischen Politikern der Gegenwart fehlt es auch Lebed an Welterfahrung und an der Fähigkeit, geopolitische Konstanten und geschichtliche Erfahrungen nüchtern zu analysieren und das Resultat einer realistischen Zukunftsplanung zugrunde zu legen. Lebeds "Achse Moskau-Berlin-Paris" bleibt ein Phantom. Man kann nicht Feuer und Wasser vereinigen, es sei denn, man will Dampf erzeugen. Dampf für eine antideutsche Walze, die schon einmal Europa ins Unglück gestürzt hat.
Ähnliche Gedanken wie Dugin und Klokotow vertritt der Duma-Abgeordnete Alexej Mitrofanow, Gründer und Vorsitzender der Kommission für Fragen der Geopolitik im russischen Parlament. Die Staatsbriefe haben über ihn wiederholt berichtet. Unter dem Titel "Schagi nowoj geopolitikj" ("Schritte einer neuen Geopolitik") erschien vor kurzem im Moskauer Verlag Russkij Westnik ein 286seitiger Sammelband seiner Reden und Resolutionen. Mitgewirkt haben Parlamentarier, Publizisten, Historiker, unter ihnen auch Anatolij Iwanow, der 1997 das erste geopolitische Seminar der Duma ("Die russische Idee: Nation und Staat") mit vorbereitet hatte.
Im Mittelpunkt steht ein deutsch-russisches Bündnis im 21. .Jahrhundert. Dem Problem Königsberg sind mehrere Kapitel gewidmet ("Deutschland und die Ost-Frage"). Von westdeutschen Medien bislang totgeschwiegen, analysieren die Staatsbriefe erstmals Mitrofanows Zentralthesen.
Für Mitrofanow ist Deutschland der stärkste Wirtschaftsfaktor Europas und der einzige Verbündete Rußlands. Daß Deutschland heute nicht auch schon das politische Schicksal Europas bestimmt, ist auf die nationale Erniedrigung der Deutschen nach dem Kriege zurückzuführen. Aus dieser Lage befreien kann sich Deutschland nur durch eine geopolitische Partnerschaft mit Rußland, auf dem Fundament eines strategischen deutsch-russischen Bündnisses. Nur so wird es gelingen, die amerikanische Vorherrschaft in Europa zu brechen. Das sind die Kernthesen Mitrofanows.
"Wir rufen das deutsche Volk auf, volle Handlungsfreiheit bezüglich der Innen- und Außenpolitik anzustreben und Einschränkungen nicht länger zu dulden", schreibt Mitrofanow auf Seite 190. "Rußland vermag Deutschland alles zu geben, was es benötigt. Erinnert sei daran, daß Ende der zwanziger Jahre, als Deutschland sich in einer viel schlimmeren Lage befand, ein deutsches Offizierskorps auf dem Territorium der UdSSR ausgebildet wurde. Unsere gemeinsame Tragödie bestand darin, daß es den Kräften einer atlantischen Verschwörung gelang, unsere Länder auseinanderzudividieren, sie zu Gegnern zu machen. Die gewaltige Stärke der deutschen Wehrmacht richtete sich 1941 nicht gegen den wahren Feind des deutschen Volkes, die internationale Finanzoligarchie, sondern gegen die Sowjetunion, den einzigen Verbündeten Deutschlands."
Hier wird sichtbar, daß Mitrofanow die Ansichten deutscher und russischer Geschichtsrevisionisten nicht teilt. Er negiert die Forschungsergebnisse in bezug auf Stalins Eroberungs- und Kriegspolitik 1939-1941. Die Spannungen, Widersprüche, Gegenpositionen im deutsch-sowjetischen Verhältnis vor dem 22. Juni 1941 erwähnt er nicht. Nichtsdestoweniger argumentiert Mitrofanow aus einer prodeutschen Haltung heraus, so, wenn er feststellt, daß Rußland und Deutschland heute verpflichtet seien, im eigenen Interesse wie im Interesse eines eigenständigen, von fremden Einflüssen befreiten Europa, eine "Achse Berlin-Moskau-Tokio« (BMT) zu gründen.
"Die Bildung eines strategischen Bündnisses beider Völker, im Rahmen der Achse Berlin-Moskau-Tokio, führt zur Überwindung des Amerikanismus und der amerikanischen Einmischung in Europa. Nato oder BMT, die Idee des Atlantismus oder die Idee kontinentaler Zusammenarbeit der großen Völker Europas - beides ist unvereinbar. Die Schaffung der Achse Berlin-Moskau-Tokio wird unausweichlich die Auflösung der Nato zur Folge haben, und im Zuge einer fundamentalen Umorientierung kann mit einem Anschluß der Länder Zentral- und Westeuropas an die Achse gerechnet werden… Aus diesem Grunde sollte Rußland die deutsche Politik in den Ost-Fragen unterstützen. Logisch wäre es, den deutsch-russischen Dialog mit der Regierung der territorialen Frage im Osten zu verbinden. Am Anfang des Dialogs steht das Problem 'Kaliningrad und deutsche Autonomie'."
Verwirrung stiftet Mitrofanow mit dem Begriff "Autonomie". Was ist gemeint? Verbleib im Verbund der Russischen Föderation oder Rückgliederung an den deutschen Nationalstaat? Autonomie bedeutet, im deutschen Sprachverständnis, Eigengesetzlichkeit, Selbständigkeit, auch Unabhängigkeit. Im sowjetischen Sprachgebrauch bezog sich "Autonomie" auf nationale Minderheiten oder Kleinvölker mit beschränkter Selbstverwaltung. Das Rätsel löst sich auf, sobald Mitrofanow einen inhaltlich anderen, entgegengesetzten Begriff benutzt: "peredatscha". Das heißt klipp und klar Übergabe, Wiedergabe, Rückgabe. Womit klargestellt ist, daß Geopolitiker Mitrofanow den "Kaliningradskaja oblastj" als deutsches Territorium betrachtet und daß die "Regulierung" dieser Frage nur in der territorialen Wiedervereinigung Nordostpreußens mit Deutschland bestehen kann.
Unmißverständlich plädiert Mitrofanow für eine Beseitigung der letzten Relikte von Potsdam. Rußland sei darum verpflichtet, die Veränderung des Status des "Kaliningrader Gebietes" in Angriff zu nehmen. Historisch unrichtig behauptet er jedoch, die Liquidierung der "deutschen Autonomie" in diesem Teil Ostpreußens sei in Potsdam beschlossen worden; in Wirklichkeit handelte es sich um Raub und Annexion eines integralen Teils des Deutschen Reiches.
Mitrofanow offeriert eine originäre Zwischenlösung, wörtlich: "Statt einer sofortigen Übergabe sollte in der Status-Frage eine umfassende Zusammenarbeit mit Deutschland in Erwägung gezogen werden, die in vielfältigen Formen zum Ausdruck kommen könnte: Bildung einer Freien Wirtschaftszone und die gemeinsame Durchführung von Truppenmanövern." (Auf dem Territorium Nordostpreußens!)
Vor einer "Regermanisierung" fürchtet sich Mitrofanow nicht, im Gegenteil, er befürwortet sie. Die Diskussion über die Bildung einer "deutschen Republik" sollte sich nicht auf das Wolga-Gebiet beschränken, auch nicht auf die Ansiedlung deutscher Bauern in der Umgebung von Petersburg, Pskow (Pleskau), Nowgorod. Den Strom deutscher Flüchtlinge aus den mittelasiatischen Staaten müßte man gezielt nach Nordostpreußen lenken, meint Mitrofanow. Die Gewinnung deutscher Ansiedler für dieses Gebiet bezeichnet er als "konstruktiven Faktor" zur Lösung der Status-Frage: "Kaliningrad" wird wieder Königsberg, wenn Deutsche darin wohnen. An eine Vertreibung oder Rückführung der dort lebenden Russen denkt Mitrofanow natürlich nicht, seine Vision: eine "ethnokulturelle« Kooperation zwischen Deutschen und Slawen. "Zum Beispiel durch die Errichtung von Goethe-Denkmälern und die Gründung einer gemeinsamen russisch-deutschen Universität." (S. 192)
Unbeantwortet bleibt die Frage nach der Dauer der Zwischenlösung, vom Autor als "feste Partnerschaft" bezeichnet ("plotnoje sotrudnitschestwo").
Der polnische Staat in seiner heutigen territorialen Ausdehnung muß verschwinden: das Ceterum censeo des Russen Mitrofanow. Was in Potsdam beschlossen worden ist, hat keine Gültigkeit mehr. Polen muß verkleinert, auf sein ethnisches Kernland reduziert werden. "In diesem Zusammenhang müssen wir erklären, daß das rußlandfeindliche, pro-atlantische Polen verpflichtet ist, alle deutschen und weißrussischen Gebiete… unverzüglich zurückzugeben. Der erste Schritt besteht in der Wiederangliederung von Oberschlesien, Brandenburg, Pommern (mit den Häfen Kolberg und Stettin) an Deutschland." Ferner soll die Allensteiner Region an Deutschland zurückkehren, jedoch ohne einige Hafenstädte, die zum polnischen Teil Ostpreußens gehören. Verbunden wird Ostpreußen mit Deutschland durch einen "polnischen Korridor".
Diese Passage im Mitrofanow-Plan klingt unrealistisch. 1. Zu den von Polen annektierten Gebieten Ostpreußens gehört ja nicht nur der Kreis Allenstein; verbleiben demnach weite Teile Ostpreußens in polnischem Besitz? 2. Was wird aus Danzig, Elbing, Zoppot? 3. Erwähnt wird Oberschlesien, Niederschlesien dagegen nicht. 4. Korridore stiften, wie die Geschichte lehrt, nicht Frieden, sie sind Sprengstoff. 5. Auf Seite 192 ist von einem "ersten Schritt" die Rede, von der "ersten Stufe" der Rückgabe; sind Breslau, Danzig, die Masuren für einen folgenden Schritt vorgesehen? (Davon später mehr.)
"Was Polen angeht", argumentiert Mitrofanow, "so wird sein Staatsgebiet auf 40 Prozent des jetzigen Bestandes schrumpfen. Das verbleibende Territorium entspricht den wahren ethnographischen Grenzen. Eine endgültige Bereinigung des Verhältnisses mit unserem Nachbarn Polen kann erst dann erfolgen, wenn nach der Wiedervereinigung Weißrußlands mit Rußland auf weißrussischem Gebiet wieder atomare wie konventionelle Waffen unter einem gemeinsamen russisch-weißrussischen Kommando stationiert sind." (S.194)
Leider muß festgestellt werden, daß die Mitrofanowsche Geopolitik stark von neo-panslawistischen Gedanken durchtränkt ist, insbesondere in bezug auf das Baltikum und die Ukraine. Ein unabhängiger ukrainischer Staat in den heutigen Grenzen existiert in Mitrofanows Zukunftsplänen nicht. Mitrofanows Feinden wird es leicht gemacht, vor einem neualten moskowitischen Imperialismus zu warnen. "Rasklad" ist eines seiner Lieblingswörter - Aufteilung. Mitrofanow zeichnet eine völlig neue Landkarte von Osteuropa, mit Grenzverschiebungen, Anschlüssen, Abtrennungen, Hegemoniezonen. Er meint es ernst, wenn er nach der Zerschlagung der Ukraine die rechtsufrigen Gebiete - rechts vom Dnjepr - einem "rumänisch-deutsch-russischen Kondominium" unterstellen will.
Auf Seite 173 spricht sich Mitrofanow für die Aufteilung der Ukraine in vier Kleinstaaten aus, darunter Galizien und die Krim, während die Östlichen und südlichen Teile der Ukraine an Rußland fallen. Odessa und die Nordbukowina kommen, als "historische Gebiete" des Rumänentums, an Rumänien. Die Litauer rücken Memel und das Memelland heraus, verzichten müssen die Litauer auf Vilnius (Wilna), da es früher eine rein polnische Bevölkerung hatte. In Frage gestellt wird die Eigenstaatlichkeit der Esten, Letten und Litauer, da es sich hier laut Mitrofanow um künstliche Gebilde der Entente handelt; Grenzkorrekturen sind notwendig, um eine Rückkehr der Deutschen und Russen in ihre angestammte baltische Heimat zu ermöglichen (S. 193).
Betrachtet man die im Anhang veröffentlichten Karten der zentral- und osteuropäischen Neuordnung à la Mitrofanow, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Im Endresultat entsteht, territorial gesehen, ein umgekehrtes Versailles und ein umgekehrtes Jalta, bezogen auf Deutschland, während im Osten, jenseits eines etwas erweiterten Kongreßpolen von 1914, sich das alte Petrinische Imperium herausbildet, mit Grenzen, die an die Sowjetunion erinnern.
Nach den Neuordnungsplänen Mitrofanows erweitert sich das "wiedervereinigte Deutschland" um folgende Territorien: Nordschleswig, Elsaß, Lothringen, Sudetenland, Hinterpommern, Ostbrandenburg mit Landsberg an der Warthe, Niederschlesien mit Breslau, Oberschlesien mit Kattowitz, schließlich Ostpreußen mit dem Memelland, bezeichnet als "Kondominium Deutschlands und Rußlands". Danzig verbleibt bei Polen, Bialystok ist von Polen abgetrennt und firmiert unter "gubernija" (Gouvernement) auf dem Hoheitsgebiet des weißrussisch-russischen Staates.
Aufschlußreicher noch präsentiert sich eine Karte unter der Überschrift "Der Westen, das Zentrum und der Süden der europäischen Teile Rußlands". Wilna, erhoben zu einer Provinz, liegt auf weißrussischem Gebiet. Die estnische Hafenstadt Narwa ist von Estland abgetrennt, angegliedert dem Gouvemement St. Petersburg. Von der unabhängigen Ukraine, heute der viertgrößte Staat Europas, bleibt nach der Zergliederung nur ein schmaler, gekrümmter Schlauch zwischen Bug und Donez übrig, ohne Zugang zum Schwarzen Meer. Rußland schluckt folgende Gebiete: die Krim mit "Neurußland" im Süden des ukrainischen Reststaates ("noworossijskaja gubernija"), Wolhynien, Kiew mit Umland ("russkoje wojewodstwo, Kijewskaja gubernija"), die Ostukraine an Donez und Don, die Nordukraine mit Tschemigow, einschließlich Charkow. Die südwestliche Ukraine mit Odessa und der Schwarzmeerküste ist Rumänien zugeschlagen. Galizien taucht auf der Karte als ein ukrainischer Klein- bzw. Separatstaat auf. Abgetrennt von Lettland und Litauen sind die Östlichen Gebiete, vereinigt zu einem russischen Gouvernement Witebsk.
Um es noch einmal zu betonen: Duma-Abgeordneter Alexej Mitrofanow, Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Fragen der Geopolitik, prominentes Mitglied der Schirinowskij-Partei, neben Sergej Baburin der bekannteste Geopolitiker im Lager der russischen Neurechten, ist ein Freund Deutschlands, ein Bewunderer der deutschen Kultur, ein Befürworter der geistigen, politischen Wiedergenesung der zentraleuropäischen Führungsmacht, ein Promotor der deutsch-russischen "Partnerschaft", ein kompromißloser Gegner der amerikanischen Hegemonie in Westeuropa. Die "Achse Berlin-Moskau-Tokio" ist seine Idee, sein Programm-Monopol.
Dennoch, oder gerade deshalb, wie soll man seine hier analysierten geostrategischen Pläne, bestimmt für das 21. Jahrhundert, beurteilen? Als realitätsfern, völkerrechtsverletzend, imperialistisch? Die Aufsplitterung des ukrainischen Nationalstaates - eine moralische Errungenschaft des ganzen ukrainischen Volkes nach dreihundertjährigem Unabhängigkeitskampf, die Annexion von integralen Staatsterritorien der drei Baltikumsvölker, und das alles über die Köpfe der Betroffenen hinweg, das Diktat eines moskowitischen Versailles für alle nichtrussischen Nationen Osteuropas: mit "irreal", "machtzynisch", "abenteuerlich" ist Mitrofanows Zwangsneuordnung viel zu milde umschrieben. Auf dieser geopolitischen Trasse führt kein Weg zu einem dauerhaften, einem ehrlichen Bündnis zwischen dem deutschen und russischen Volk, zwischen Deutschen und Slawen und Balten. Das neue Deutschland kann sich sein Verhältnis zu den Völkern und Staaten des Ostens nicht von Moskau vorschreiben lassen, auch nicht um den Preis Königsberg.
Doch davon abgesehen - Mitrofanow irrt gewaltig bei seiner Beurteilung der innerdeutschen Situation. Ihm ist der Widerspruch zwischen politisch ohnmächtiger Volksmeinung und der totalitär herrschenden "veröffentlichten Meinung" gar nicht bewußt. Er könne sich einfach nicht vorstellen, daß die Idee des "Atlantismus" den Deutschen mehr am Herzen liege als die Idee der "nationalen Wiedergeburt", bekennt er auf Seite 194. "Die Deutschen werden sich einer Zusammenarbeit mit Rußland in der Ostpreußen-Frage nicht verweigern können, da jeder Kanzler, der diese Zusammenarbeit torpediert, Gefahr läuft, vom Volk verjagt zu werden." (S. 190) Eine Illusion über die BRDDR.
Mitrofanow scheint über den pathologischen Zustand der Dekadenzgesellschaft hierzulande nicht informiert zu sein. Die Selbstkritik bewältigungssüchtiger Intellektueller sei in nationalen "Selbsthaß" umgeschlagen, konstatiert der ungarische Schriftsteller Laszlo Földenyi. "Der bezeichnendste Charakterzug der Deutschen ist vor allem der, undeutsch sein zu wollen… Und nirgends traf ich auf ein solches Maß an Selbsthaß wie in Deutschland." (Süddeutsche Zeitung, 14. Januar 1998) Die Berliner Kulturphilosophin Christina von Braun erkennt in dieser zu Tode kranken Gesellschaft eine masochistische "Lust an der deutschen Schuld", die eine geradezu euphorische Stimmung hervorrufe (SZ, 23. 1. 98).
Die BRDDR-Intelligenzija, ihre Väter- und Großvätergeneration verdammend, die eigene Nation und eine tausendjährige deutsche Reichsgeschichte verfluchend, welches Motiv sollten die pathologischen Selbsthasser haben, für die Rückkehr Ostpreußens einzutreten? Vom tschechischen Chauvinisten Miroslav Sladek stammt der im Prager Parlament gesprochene Satz: "Wir müssen nur bedauern, daß wir bei der Vertreibung nur wenige Deutsche getötet haben." Die bundesdeutschen Sladeks posaunen: Bedauerlicherweise sind im Krieg viel zu wenige Deutsche getötet worden. Konformistische Angehörige von Verstorbenen designen ihre Traueranzeige mit nationalmasochistischer Selbstkritik wie "Erschüttert von Schuld und Mißbrauch seiner Generation unter dem Hitlerregime" und ähnlichem. Selten, ganz selten, daß die Hinterbliebenen eines ehemaligen Frontsoldaten in der Traueranzeige vermerken, er sei Inhaber des Eisernen Kreuzes gewesen…
Kennzeichnend für die kollektive Todessehnsucht einer deutschfeindlichen Meinungsbildungsklasse ist die sogenannte Wehrmachtsausstellung, die bisher 22mal vor ca. 430 000 Besuchern in beiden deutschen Staaten gezeigt wurde. Diese antideutsche Denunziation, von den russischen Medien bisher kaum zur Kenntnis genommen, kontrastiert mit dem Wehrmachts-Bild der Russen - und wohl auch eines Mitrofanow. Wie zur Sowjetzeit wird auch heute jedes Jahr von der Frunse-Akademie in Moskau für junge russische Generalstabsoffiziere in dem ehemaligen Kuban-Brückenkopf eine Übung abgehalten, bei der ihnen die deutsche Leistung demonstriert wird, war die Räumung doch ein Meisterstück präziser deutscher Generalstabsarbeit und ein heroisches Kapitel im Buch des deutschen Frontkämpfertums. Der Transport der 17.Armee über die Straße von Kertsch auf die Krim, September 1943, gelang in 34 Tagen, und das alles im Angesicht der gewaltigen sowjetischen Schwarzmeerflotte, deren Schiffe in den Kaukasushäfen Batumi und Poti lagen, jedoch aus Furcht vor den deutschen Stukas nicht einen einzigen Versuch unternahmen, die Räumungsbewegung der Deutschen zu stören. (Stalin soll über die Feigheit seiner Admiräle Gift und Galle gespuckt haben). Gerettet wurden neben 227484 deutschen und rumänischen Soldaten auch ca. 30 000 "Hilfsfreiwillige" aus dem Kaukasus und dem Kubangebiet - Kosaken, Tschetschenen, Tscherkessen, Inguschen, Karatschajer, Balkaren. Moslems und Christen. Wären diese Sowjetbürger den Vollstreckern eines "Vernichtungskrieges" gefolgt?
In Kursk regiert der deutschfreundliche Gouverneur General a. D. Alexander Ruzkoj (Staatsbriefe 1-2/1998). Geschichtskenner Ruzkoj weiß mit Sicherheit, daß bei Kursk vor 55 Jahren das Schicksal der Wehrmacht entschieden und die Wende im sowjetisch-deutschen Krieg herbeigeführt wurde. Im Unternehmen "Zitadelle", in der letzten deutschen Großoffensive auf ukrainischem Boden. Nach deutschen Vorstellungen sollte ein militärisches Patt erzwungen werden. Am 4. Juli 1943 traten 37 deutsche Divisionen, darunter 19 gepanzerte Divisionen, gegen einen zwölffach stärkeren, bestens vorbereiteten, da vorgewarnten Gegner an. Stalin verfügte im Kursker Frontbogen über nicht weniger als 513 Schützendivisionen, 41 Kavalleriedivisionen, 290 Schnelle Brigaden mit fast 8000 Panzern. Die besten Verbände der Sowjetarmee. Stalin hatte hier vierzig Prozent seines gesamten Feldheeres und fast sämtliche Panzerkorps versammelt. Wie schon im Oktober 1941, stand für ihn im Mai 1943 alles auf dem Spiel: seine Existenz, die der Sowjetunion und des kommunistischen Regimes. Nach dem Durchbruch im tiefgegliederten Stellungssystem im Süden und der für die Rote Armee verlustreichen Panzerschlacht bei Prochorowka am 12. Juli schien ein deutscher Sieg nahe, die Angriffsspitzen hatten sich auf etwa 100 Kilometer genähert. Gerettet wurde Stalin von Hitler, der am 13. Juli die Einstellung der Offensive und die Verlegung des II. SS-Panzerkorps nach Italien befahl, nachdem amerikanische Truppen auf Sizilien gelandet waren. Manstein, Hoth, Guderian, v. Kluge widersprachen. Den in Panik geratenen Größten Feldherrn aller Zeiten konnten sie nicht von ihrer optimistischen Lageeinschätzung überzeugen. Nicht bei Stalingrad, bei Kursk wurde der Krieg im Osten zugunsten Stalins entschieden.
Daß die Wehrmacht keine Verbrecherbande war und keinen Ausrottungskrieg gegen Slawen, Balten, Kaukasier, Asiaten führte, wissen außer Ruzkoj und Mitrofanow auch russische und ukrainische Kriegshistoriker. General Lemelser, Befehlshaber des XXXXVI. Panzerkorps mit der sächsischen 18. Pz. D., der bayerischen 17. Pz. D. und der hessisch-thüringischen 29. Panzergrenadierdivision, erließ am 30. Juni 1941, also eine Woche nach Beginn des Krieges, folgenden Befehl ("jedem Soldaten umgehend bekanntzugeben"): "Die deutsche Wehrmacht führt diesen Krieg gegen den Bolschewismus, nicht aber gegen die russischen Völker. Der russische Soldat, der auf dem Schlachtfeld angetroffen wird, ist kein Freischärler, sondern hat Anspruch auf ehrenvolle Behandlung und Versorgung als Verwundeter. Die Gefangenen sind in die Gefangenensammelstellen der Regimenter zu bringen und von dort in die Gefangenenlager. Schon bei der Truppe können Gefangene zu Notstandarbeiten (Brücken und Straßenbau) herangezogen werden… Verwundete sind zu verbinden und zu versorgen. Gefallene sind zu begraben (gegebenenfalls durch Landeseinwohner."(Aus: Helmut Schiebel "Der wandernde Kessel" Rastatt 1997, S. 61 f.) Das war die Einstellung der Wehrmacht, der gleichen, die heute als Mörderbande diskriminiert wird.
Im Verfallen sind die bombastischen sowjetischen Siegesdenkmäler in Mitteldeutschland. Sie verrosten, versumpfen. Gewidmet sind sie dem Kommunismus, nicht russischen Patrioten. Stalin befahl die Aufstellung von Monumenten zu seinem Ruhm. Mögen sie verfallen. Was niemals verfällt, sind die Ehre, der Ruhm und die Tapferkeit des soldatischen Russen, der für sein Vaterland, nicht für Stalins Knechtschaft das Leben opferte.
Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal ist solch ein Ruhmesmal, zumal es die deutsch-russische Waffenbrüderschaft symbolisiert und damit eine Vision des 21. Jahrhunderts. Die Stalin kommen und gehen, der russische Soldat aber, der russische Staat, die russische Nation bleibt. Statt der von Mitrofanow vorgeschlagenen Goethe-Denkmäler sollte man in Königsberg dem Unbekannten Soldaten einen Obelisk weihen. Neben der ewigen Flamme ein deutscher und ein russischer Stahlhelm, trägt doch der Unbekannte die Züge eines Slawen und eines Deutschen, eingeschreint im Herzen zweier großer Völker.