WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (5)
Neu ist die Sensationsnachricht aus dem Pariser Fernsehen nicht. In der September-Ausgabe 1997 der Staatsbriefe war auf Seite 19 zu lesen: "Die grausame Auslöschungsmethode der Vergasung wurde im GULag erprobt. Auf Anordnung Berijas trieb man Ende der dreißiger Jahre zur Erschießung verurteilte Politgefangene in die Gaskammem. Frauen und Männer unterschiedlichen Alters wurden massenhaft als Versuchskaninchen beim Testen des Kampfgases BOB qualvoll ermordet, in Speziallabors von Moskau und Schichny. Recherchiert und bezeugt vom Gulagismus-Forscher Dantschik Baldajew."
Spätestens seit Oktober war dies auch der französischen Öffentlichkeit bekannt, insbesondere dem Herausgeber Prof. Dr. Stephane Courtois und seinen Mitautoren des Sammelbandes "Livre noir du communisme", ausführlich besprochen in Staatsbriefe 1-2/1998. Ende vorigen Jahres hatte das Schwarzbuch mit ca. 150 000 Exemplaren die Spitze aller französischen Bestsellerlisten erklommen. Was sich dann auf dem Höhepunkt der Öffentlichen Debatte, im Dezember, während einer mehrstündigen Femsehdiskussion ereignete, schildert Jürg Altwegg, Paris-Korrespondent der FAZ: "Die Überraschung der Sendung war anderer Art. Ein ehemaliger KGB-Offizier erzählte, daß im GULag Lastwagen mit Gaskammem im Einsatz gewesen sind. 'Die Schilderung der ersten Dissidenten in den dreißiger Jahren entsprachen offenbar der Wahrheit', schrieb der Figaro. Das Blatt rekapitulierte die leidvolle Geschichte der Enthüllungen und Verdrängungen in Frankreich… Gaskammem im GULag: So lauteten die Schlag- und Titelzeilen vieler Zeitungen nach der Sendung. Ihre Existenz würde darauf hinweisen, daß es auch in der Sowjetunion Vernichtungslager gab. Um die Bedeutung dieser Nachricht im intellektuellen französischen Kontext ermessen zu können, muß man daran erinnern, daß die Gaskammern die Verdrängung des GULag ermöglichten." (20.12. 97).
Überraschen kann diese Enthüllung nur solche, die geglaubt haben, im Kaleidoskop des bolschewistischen Vernichtungswahns wäre die Methode des Gasmords ausgeschlossen gewesen. Wie, durch wen und wo exakt in der UdSSR die Vergasung als Methode des Genozids angewandt wurde, bleibt weiteren Nachforschungen vorbehalten. An ihrer Existenz ist nicht zu zweifeln. Ob es sich um mobile oder stationäre Liquidations-Einrichtungen durch Gas (Baldajew: "Kampfgas") gehandelt hat, wird man bald wissen. FAZ-Rußlandexperte Markus Wehner setzt seine Hoffnung auf eine Generation "junger Historiker", junger Revisionisten. "Sie fördern dabei Erstaunliches zutage, trotz zunehmender Behinderungen in den nur unvollständig geöffneten Archiven" (20.12. 97). Wäre ein berühmtes Lenin-Zitat zu erweitem: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung plus Gas?
Die aufsehenerregenden Enthüllungen im Zusammenhang mit dem "Schwarzbuch" erklären die linksliberalen Reaktionen hierzulande: Ablenkung. Die gesteuerte Hetzkampagne gegen die "braune" Bundeswehr dient u. a. der Verhinderung einer Debatte über die "hundert Millionen" des kommunistischen Genozids.
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Für Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung spiegeln Greuelfotos der Wehrmachtsausstellung die Wirklichkeit wider: die Wehrmacht war eine Verbrechertruppe. In russischen Augen verzerrt sich die angebliche Wirklichkeit zu einer Karikatur: stalinistische Propaganda. Dies widerfuhr einerAusstellung des Berliner Politologen Schlootz. Diese war im November 1997 in der Moskauer Union-Galerie zu sehen. Propagandaplakate der Wehrmacht mit Bildern der Stalinpropaganda – Befreiung oder Terror?
Die Schlootz-Ausstellung entpuppte sich als Bumerang; die aus weißrussischen Archiven stammenden historischen Zeugnisse erhellten ein Tabuthema westdeutscher Geschichtsklitterer: die Zusammenarbeit zwischen slawischer Zivilbevölkerung und deutschen Soldaten. So hat ein überwältigenderTeil der Weißrussen - Bauern, Arbeiter, Intellektuelle - in der Wehrmacht tatsächlich den Befreier gesehen, Sommer 1941. Und als die Wehrmacht im Jahre 1943 den Rückzug antreten mußte, folgten ihr freiwillig Millionen von Menschen des "terrorisierten" weißrussischen Volkes, Frauen und Kinder, aber auch Männer im wehrfähigen Alter. Zusammenarbeit - in der antifaschistischen Terminologie als "Kollaboration" denunziert - setzt Vertrauen voraus, Hoffnung auf ein besseres Leben. Ein Leben ohne den Kommunismus.
FAZ-Korrespondentin Kerstin Holm besuchte die Ausstellung, sah die Dokumente aus weißrussischen Quellen: "Sie erlauben neue Aufschlüsse über die Kollaboration mit den Besatzern, die Pressepolitik und die Einrichtungen diverser weißrussischer Verwaltungsorgane" (22. November). Konfrontiert mit Lügen und Greueltaten aus stalinistischer Propagandaküche, erkennt der russische Besucher die Wahrheit auf den ersten Blick. "In den weißrussischen Fotodokumenten vermag ein in der Sowjetikonographie geschultes russisches Auge besser die vertraute Fälschung zu erkennen als das eines deutschen Akademikers", bemerkt Kerstin Holm mit deutlicher Spitze gegen die Berliner Politologen. "Das Foto jener Mutter, die ihren zu den Partisanen gehenden Sohn verabschiedet, welches Schlootz als Beweisstück für den das ganze weißrussische Volk erfassenden Widerstandsgeist dient, klassifiziert die Propagandaexpertin Katharina Djogot als 'sozialistischen Realismus'."
Deutsche Konterrevisionisten erleiden eine Niederlage nach der anderen. Zuerst von Nolte und Hoffmann, dann von Furet und Courtois, den Staatsbriefen. Die konterrevolutionäre Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Im deutsch-russischen Museum Berlin-Karlshorst lief im Dezember und Januar die Sonderausstellung "Ilja Ehrenburg und die Deutschen". Fotos, Bücher, Zeitungen, Flugblätter eines "russischen" Schriftstellers, der, so hebt Karl-Heinz Janßen henor, im Krieg "auch als Verteidiger derJudenheit" aufgetreten sei (DIE ZEIT, 13. Dezember). "Wenn Du nicht einen Deutschen am Tag getötet hast, war derTag verloren" - eine Stilprobe aus dem Ehrenburg-Schatz in Karlshorst. Der deutsche Ehrenburg-Verteidiger bemerkt dazu: "Schwer erträglich sind für den Besucher die haßerfüllten 'Töte'-Appelle an die Rote Armee." Doch er versteht sie.
Vergeblich suchte man in derAusstellung nach jenem berüchtigten Flugblatt, in dem Ehrenburg die Sowjetarmisten aufgefordert hatte, die deutschen Frauen als Beute zu nehmen und auch das ungeborene Leben nicht zu schonen. Angeblich sei es niemals aufgetaucht, angeblich handle es sich um eine Fälschung Goebbels', schreibt Janßen. An anderer Stelle muß er jedoch zugeben, daß selbst einem Stalin die antideutsche Hetze eines Ehrenburg zu weit ging; Ehrenburg unterscheide nicht zwischen "Faschisten" und der großen Masse des deutschen Volkes, ließ der Diktator in der Prawda erklären. Nach dieser Beschuldigung verstummte dieser "russische" Kriegspropagandist. Jahre nach dem Kriege bemühte sich der "Verteidiger der Judenheit" (Janßen) aus der Schlinge zu ziehen, indem er Stalin mit einem überirdischen, quasi religiösen Messias verglich…
Als Antisemit erscheint in derAusstellung ein echter Russe, General Wlassow, der mit einem ominösen Flugblatt zitiert wird: "Es ist wahr, die Deutschen haben die Juden erbarmungslos ausgerottet. Das haben sie auchverdient." Sonderbar nur, daß dem vorgeblichen Antisemiten Wlassow während seiner Tätigkeit auf deutscher Seite als Chefpropagandist, Flugblatt-Texter, Redakteur der "jüdische Korpskommissar und ehemalige Mitarbeiter Bucharins Sykow" zur Seite stand (Emst Nolte in "Der europäische Bürgerkrieg 1917-45", München 1997 S. 457 f.).
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Schreckensvemiedlicher haben Hochkonjunktur. Prof. Dr. Michal Reiman, tschechischer Historiker aus Vor-89er-Zeiten, wamt vor "übertriebenen Zahlen". Im Widerspruch zu den Angaben Solschenizyns und Kurganows (ca. 66 Millionen) gelangt Reiman zu einer Opferzahl von 4 Millionen, exakt: 3 856 900 Personen, abgeurteilt in den Jahren 1917 bis 1990 aufgrund von "Staatsverbrechen". Reiman beruft sich auf den trotzkistischen Apologeten Vadim Rogowin; dieser widmet sich in erster Linie den Hingerichteten aus der "kommunistischen Opposition" in der Stalin-Ära. Als weitere Quellen zitiert Reiman - er hat einen Lehrstuhl in Berlin - das KGB, die Zentrale Kartothek des GULag und die Statistische Abteilung des heutigen russischen, von KGBisten beherrschten Sicherheitsministeriums (FAZ, 8. Dezember 1997).
Eine infame Inszenierung zu dem nachsowjetischen Thema "Aneignung der Opfer durch die Täter." Die Sowjetunion verschwand, die Parteidiktatur verschwand, wer aber nicht verschwand, ist das Heer der treuen Diener des KGBismus. Im Jelzin-Regime versehen sie in Spionage-, Geheim- und Sicherheitsorganisationen loyal ihren Dienst beim Aufbau der "russischen Demokratie", geübt in der Methode, aus weiß schwarz und aus schwarz weiß zu machen. So steht eben ihrer Ansicht nach fest, daß Kolyma nicht die Hölle war.
Solschenizyn nennt die Lager in Nordsibirien den "Grausamkeitspol" des Archipel GULag - die Sterblichkeit betrug 30 Prozent. Ein Teil der Kolyma-Archive ist zugänglich. Inzwischen sind Apologeten des Sowjetregimes fleißig dabei, die Zahlen der Kolyma-Häftlinge und der Todesopfer massiv nach unten zu korrigieren. Die Fälschungen begannen in der Glasnost-Ära.
Alexander Kostow beziffert für den Zeitraum 1932 bis 1957 die Zahl der Kolyma-Toten - verhungert, erfroren, erschossen - auf "nur" 141000, also "nur" 17 Prozent bei insgesamt 800 000 Zwangsarbeitem. Kostow beharrt darauf, daß die Sterblichkeit in den Kolyma-Lagem nicht so hoch gewesen sei, um den Begriff "Vemichtungslager" zu rechtfertigen. Die Neue Zürcher Zeitung vermutet manipulierte Statistiken in den Archiven der ehemaligen KGB-Behörden. "Ob die aus den Unterlagen der Geheimpolizei ermittelten Zahlen zuverlässig sind, darüber wird inzwischen lebhaft diskutiert", schreibt das Blatt. "Für den ganzen GULag kursierten Schätzungen zwischen 5 und 15 Millionen Gefangenen in Spitzenjahren. Jüngere Arbeiten korrigieren diese Angaben massiv nach unten und nennten unter Berufung auf Archivstudien als Maximum 2,6 Millionen im Jahr 1950. Oder versuchten die Täter, ihre Blutspur durch gefälschte oder unvollständige Statistiken zu kaschieren?" (11./12. Oktober 1997)
Manipuliert, kaschiert, gefälscht, das trifft bedauerlicherweise auch auf einige Thesen im französischen Schwarzbuch zu, insbesondere in den Beiträgen von Nicolas Werth, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin. Anders als der mutige Herausgeber, der den Massenmord als konstitutives Element des Bolschewismus beschreibt, behaupten einige Mitautoren, in der Sowjetunion habe es keine Vemichtungslager gegeben, der Bolschewismus sei eine Ideologie der Befreiung und Emanzipation gewesen, nicht eine "rassistische Doktrin". Der Kommunismus habe sich zwar die Ausmerzung der "Klassenfeinde", nicht aber die Auslöschung ganzer Bevölkerungsschichten und Völker zum Ziele gesetzt. Da werden die Esten, Litauer, Letten, Wolgadeutschen, Krimtataren, Ukrainer, Donkosaken, Tschetschenen wohl anderer Meinung sein… Die nichtkommunistischen Russen natürlich auch.
Psychologisch sind die geschichtlich aberwitzigen Schlußfolgerungen von Verteidigem eines "antistalinistischen" Kommunismus oder "unbefleckten" Marxismus-Leninismus zu verstehen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Lagers und der kommunistischen Herrschaftsdoktrin ist für sie - und vor allem für jene, die gläubigen Herzens waren - ein Zusammenbruch ihrer eigenen Vita, ihres politischen Lebensinhalts, ihrer "Religion". Der Ex-Maoist Courtois konnte sich von diesem Trauma schöpferisch befreien, anderen Ehemaligen gelingt es nicht.
Das hat eine lange, traurige Vorgeschichte. Der jüdische Schriftsteller Primo Levi, Mitglied der KP Italiens, hat kurz vor seinem Selbstmord gesagt, der Nationalsozialismus sei ohne Gaskammem nicht zu denken, während man sich einen Kommunismus ohne Straflager durchaus vorstellen könne (zitiert aus der NZZ vom 29./30. November 1997). Selbst ein freier Geist wie François Furet verirrte sich manchmal in die Topoi marxistisch-universalistischer Terminologie, so, wenn er bis zuletzt an der These festhielt, der fortschrittsbesessene Kommunismus habe im Unterschied zum "reaktiven" Nationalsozialismus die Menschheit niemals "rebarbarisieren" wollen - in den Augen der Überlebenden der bolschewistischen Barbarei eine nicht nachvollziehbare Deutung.
Phänomenologisch betrachtet, mit Blick auf den Umfang der Schädelstätten, übertraf der paranoide Liquidationswahn Stalins den, so Furet, "paranoiden Rassenwahn" Hitlers. (Zitiert nach Holger Christmann im WELT-Artikel "Zwei Seiten derselben Medaille? Nachtrag zum Historikerstreit: Der Briefwechsel zwischen François Furet und Emst Nolte", 17. Dezember 1997.)
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Gäbe es nicht die auflagenstarke Moskauer Literaturnaja Gaseta (Literaturzeitung, kurz LG), wäre es um den Vormarsch russischer Geschichtsrevisionisten nicht so gut bestellt. Und Sankt Petersburg! Dort existiert der Verlag Sewero-Sapad ("Nordwest"). In der Trilogie "Kreuzigung" erschienen vor kurzem die ersten Bände "Geheimnisse werden offenbar", " Gräber ohne Kreuze" - exakte Dokumentationen über Verfolgung und Erschießung Leningrader Schriftsteller in der Stalin-Ära. In Vorbereitung ist der dritte Band: "Die Zeit richtet die Henker".
Wiedergegründet wurde die Literaturzeitung 1929. Sie sieht sich als Fortsetzung der 1830 von Puschkin gegründeten LG. Mitte 1990, ein Jahr vor der Augustrevolution, löste sich das Blatt als eigenständige juristische Person vom sowjetischen Schriftstellerverband und der KPdSU, die Porträts Lenins und Gorkijs verschwanden aus dem Titel.
In einem Interview mit der Literaturzeitung erinnert der Vorsitzende der Historischen Memorial-Kommission des Bundes der Petersburger Schriftsteller, Sachar Ditscharow, an die Tragödie eines Lichatschow, Bachtin, Mandelstam Kornilow, Soschtschenko, Dobytschin, einer Anna Achmatowa, Jewgenija Binewitscha, Irina Punina, Kerta Nuortewa (3. September 1997). Von der Karelo-Russin Nuortewa, mit 63 Jahren an Hunger und Hirnhautentzündung krepiert im Sklavenlager Karaganda, stammt die erste authentische Dissidentenschrift, "Stalinskaja wospitanniza" ("Stalins Schülerin"). Sie wurde bis heute von den Jelzin-Behörden nicht rehabilitiert.
Einer der Davongekommenen der Leningrader Bartholomäusnächte verbrachte seine Jugend im "Auschwitz des Nordens" (Solschenizyn), hinter dem Stacheldraht der Solowetzkij-Inseln im Weißen Meer. In seinen Erinnerungen "Hunger und Terror" schildert Dmitrij Lichatschow - Philosoph, Historiker und Rußlands Dostojewski-Erforscher par excellence - die Erschießungen hinter der Klosterkirche und den Tod der von Läusen zerfressenen Waisenkinder.
Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu der Großen Französischen Revolution formulierten so manche renommierte Publizisten und Historiker aus Rußland und Frankreich, unter ihnen Laura Mandeville vom Figaro, Professor Wladen Sirotkin von der Diplomatischen Akademie, und Igor Serkow, stellvertretender Chefredakteur der Literaturzeitung. Man gelangte zu der Erkenntnis, daß die Jakobiner-Epoche in vielem den Bolschewiki als Vorbild gedient hat. "Alle schrecklichen Experimente und Losungen stammen von daher", konstatierte Sirotkin. "Die Bolschewiki verehrten ausschließlich die Jakobiner, von ihnen lernten sie: 'Große Ziele fordern große Opfer! Keine Furcht vor Blutvergießen! Verteidigung der Erfolge der Revolution um jeden Preis!'" Nach dem Bürgerkrieg habe man buchstäblich alles vernichtet, was zum vorrevolutionären Leben gehört hatte - das Bauerntum, die Kaufmannschaft, die Mittelschichten, die alte Intelligenz, bürgerliche Moral, ethische Gesetze des Christentums, spirituelle Werte des Russentums. Nur eines sei, im Vergleich zur Französischen Revolution, fundamental anders gewesen: "Bei uns gab es keinen Thermidor." Kein Aufhalten der Revolution, keine Rückkehr zu den historischen Werten des Landes.
Wichtiger als diese Erkenntnis ist für den russischen Historiker die Befreiung von Legenden, Mythen, verlogenen Geschichtsbildern im Zusammenhang mit siebzig Jahren Bolschewismus. "Lügen umgeben uns immer noch, Lügen so hoch wie unüberwindliche Gebirge." Falsches und richtiges Denken, Sirotkin und Serkow nennen fünf Beispiele.
l. Auf der Seite der Weißen kämpften im Bürgerkrieg viele Arbeiter. In der Sowjetzeit wurde diese Tatsache totgeschwiegen. Ein Proletarier ist immer rot: diese bolschewistische Gleichung stimmte von Anfang an nicht. Die Weiße Volksarmee des Generals Kappelj - Sohn eines einfachen Soldaten bestand gröftenteils aus Fabrikarbeitem der Ural-Region, die bereits im Sommer 1918 eine bewaffnete Erhebung organisiert hatten, drei Jahre vor dem Kronstädter Matrosenaufstand.
2. Unausweichlich war der bolschewistische Oktober nicht. Das selbstmörderische Hineinschlittern Rußlands in den Weltkrieg, wobei die Schuld auch bei Nikolaj II. zu suchen ist, die schrecklichen Menschenverluste in drei Jahren Krieg, Dezimierung des Offizierskorps, Ausblutung der Garderegimenter, gleichzeitig die allgemeine Bewaffnung des einfachen Volks in einem amorphen Millionenheer, dann, nach der Vernichtung der imperialen staatstragenden Militärelite, ein politisches, Ökonomisches und geistiges Chaos als Hinterlassenschaft der Provisorischen Regierung, schließlich die einmalige Persönlichkeit eines zu allem entschlossenen Vabanquespielers Lenin - es kam vieles zusammen auf dem Weg zum Oktober.
3. Verwirklicht wurde die Modernisierung Rußlands zu einem historisch singulären, weil grausamen Preis. Für den Aufbau von Schwerindustrie, Elektrifizierung, Infrastruktur, Techno-Eliten zahlten Millionen von Menschen mit ihrem Leben, ihrer Würde, ihrer persönlichen Identität. Abschaffung des Analphabetentums und Schaffung eines staatlichen Gesundheitswesens, dies mußte mit Blut bezahlt werden. So entstand ein quasisozialistisches Modell auf der Grundlage von totaler Leibeigenschaft, Militarisierung, Polizeiterror. Endlösung der Klassenfrage im Gulagismus. Weder mit dem utopischen noch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus hat der bolschewistische Quasisozialismus etwas gemeinsam.
4. Der Heroismus der Weißen Armeen ist nicht tot. Die Erinnerung daran bricht sich stürmisch Bahn. An den Offiziersschulen widmet man der "weißen Bewegung" Vorlesungen, Dokumentationen, Archivforschungen. Die Verlierer von vorgestern sind die Sieger von morgen.
5. Wlassow und die Wlassowzis gelten nicht länger als Verräter, Söldner. Sie waren Idealisten, Ideenkämpfer gegen den Bolschewismus, "tragische Helden, Ritter ohne Furcht und Tadel" (Sirotkin).
Fünf revisionistische Thesen, veröffentlicht in der Literaturzeitung am 5. November 1997, Seite 5. Heute herrsche die Meinung vor, resümiert Igor Serkow, daß der bolschewistische Oktober und alles, was ihm an Massenverbrechen folgte, "die grausamste Lehre beinhaltet, die unser armes Vaterland der Welt zu schenken hat".
Eine revisionistische Tat ersten Ranges vollbrachte die Literaturzeitung in ihrer Ausgabe vom 27. August 1997. Sie publizierte erstmalig den Briefwechsel zwischen Maxim Gorkij und Josef Stalin aus den Jahren 1929 und 1930. Der Schriftsteller lebte damals in Sorrent. Bisher unbekannte Autographien der Briefpartner entdeckten die Rechercheure der LG im "Fond Stalina" im Archiv des russischen Präsidenten und im Moskauer Gorkij-Archiv. Seine handschriftlich abgefaßten Briefe unterschrieb Maxim Gorkij mit seinem bürgerlichen Namen: Alexej Peschkow. Beide Briefpartner versicherten sich gegenseitig der Bewunderung, Hochachtung, Freundschaft, Ergebenheit. Gorkij schloß stets mit dem Satz: "Ich drücke kräftig Ihre Hand." Die ganzseitige Enthüllung ist mit "Drama eines utopischen Bewußtseins" überschrieben. (Erinnert sei nochmals daran, daß die Literaturzeitung am 2. Mai 1990 Gorkijs Porträt vom Titelblatt entfemte.)
Obgleich der ganzseitige Beitrag schon im August erschienen ist, hüllt sich die deutsche Feuilletonistenszene in Schweigen. Hat Frank Schirrmacher keinen Slavisten zur Hand? Liest Kerstin Holm nicht die LG? Rußlandspezialistin Helen von Ssachno von der Süddeutschen Zeitung, für Sozialistischen Realismus nicht zuständig? Doch zurück zu Gorkij.
Zur Aufhellung des zeitgeschichtlichen Hintergrunds und zum Versuch einer Erklärung der Motive des Schriftstellers, die ihn zum "Panegyriker des Massenmörders" werden ließen (Salcia Landmann), bedarf es der folgenden Hinweise. Maxim Gorkij (1868-1936) verbrachte viele Jahre in einem mehr oder weniger freiwilligen Exil; von 1906 bis 1913 lebte er auf Capri, zwischen 1921 und 1924 in Deutschland, der Tschechoslowakei, danach in Sorrent.1928 und 1929 besuchte er die Sowjetunion, in die er 1931 endgültig zurückkehrte.
Der Briefwechsel entstand in einer Zeit, da der politische Terror Massencharakter annahm und "einer der größten Massenmorde der Geschichte begann" (Borys Lewytzkyj). Mit Beginn des 1. Fünfjahresplanes 1928 setzte die erste Kollektivierungswelle ein. Während die Konzentrationslager bis jetzt nicht nur der Bestrafung, sondern auch der "politischen Umschulung" der Häftlinge dienen sollten, tauchte nun bei Stalin erstmals der Gedanke an eine "rationelle Auswertung" derArbeitskraft der Gefangenen auf. So entstand 1930 in der OGPU eine neue Verwaltung für die Konzentrationslager, die bisher den Justizbehörden unterstanden hatten, die Glawnoje Uprawlenije Lagerej, kurz GULag, deren Chef Genrich (Herschel) Jagoda wurde.
Zu einer Zeit, da die spätere Galionsfigur des Sozialistischen Realismus noch im sonnigen Sorrent weilte, ließ der Briefpartner in Moskau seine Kollektivierungspläne mit Blut und unter Tränen verwirklichen, den kommunistischen KZ-Realismus. Die Bauernlegung begann, der Bauerngenozid. Sonderkommandos der OGPU entfesselten in den Dörfern einen wilden Terror. Zehntausende wurden erschossen, Hunderttausende mit ihren Familien deportiert, 800000 innerhalb eines Jahres in den GULag verfrachtet.
Im Zuge der "Verschärfung des Klassenkampfes" (Stalin) organisierte die OGPU eine Reihe von Schauprozessen. 1928 wurde eine sogenannte konterrevolutionäre Spionage-Diversions-Organisation in Schachty im Donezbecken "aufgedeckt" Verhaftet eine große Zahl von Ingenieuren, Technikern, Grubenspezialisten. Im berüchtigten "Schachty-Prozeß", 18. Mai bis 5. Juli 1928, wurden 11 der Angeklagten zum Tode verurteilt. Die OGPU behauptete, daß sich die Zentrale der "Industriepartei" (russisch Prompartija) in Paris befinden würde, ausgehalten vom französischen Geheimdienst mit dem Ziel, die Sowjetmacht zu stürzen und wieder privatkapitalistische Verhältnisse herzustellen.
Bei der Bauernlegung ebenso wie bei der Massendeportation und GULag-Etablierung stand "Emigrant" Gorkij auf der Seite Stalins, Jagodas. Er führte in die Literatur den Begriff "wreditelji" ein - Schädlinge. Er unterstützte die "Unterdrückung des Christentums" (Wolfgang Kasack), verteidigte die "grauenhaften Arbeitslager" (Zitate bei Solschenizyn Archipel GULag, Bd.2, Paris 1974, S. 61-85). "In seiner Haltung zu den ersten Schauprozessen, zur Dekulakisierung und ihren Folgen, zur GPU erwies Maxim Gorkij seiner Heimat aktenkundige Dienste, gegen die das 'Dulde' und 'Widerstrebe nicht dem Übel' von Dostojewskij und Tolstoj Parolen zum Aufruhr waren". enthüllte Hans-Dietrich Sander schon 1970 (Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie, 2., erweiterte Auflage, Tübingen 1975, S. 57). Bereits 1922 hatte Gorkij in Berlin ein Pamphlet gegen die Bauern erscheinen lassen, in der Hoffnung, daß "die halbwilden, dummen und schwerfälligen Menschen in russischen Dörfern und Landstrichen aussterben würden". Sander: "Wozu unter Stalin Millionen von ihnen gezwungen werden sollten…" (S.56) Und an anderer Stelle: "Über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit ihren Millionen Menschenopfern ist bis heute kein bitteres Wort Gorkijs überliefert. Sie war für ihn das Ende des zoologischen Individuums." (S. 59). In Briefen an Romain Rolland habe er die ersten Schauprozesse verteidigt, erinnert Sander. Über den Schachty-Prozeß schrieb Gorkij das Drama "Somow und andere".
Die Frage erhebt sich: Kannte Gorkij überhaupt Stalin? "Bis zu seinem ersten Besuch Ende Mai 1928 hatten sich Gorkij und Stalin persönlich nicht kennengelernt", schreibt in der Einleitung zum LG-Beitrag der Literaturhistoriker Josef Weinberg. "Stalin taucht in der reichen Publizistik Gorkijs während der Oktober-Epoche nicht ein einziges Mal auf, auch nicht in seinem berühmten Essay über Lenin." Stalin war das natürlich bekannt, dennoch ließ er nichts unversucht, Gorkij zur Rückkehr zu bewegen. Weinberg über Stalins Motive: "Gorkij war für ihn von großem Nutzen, nützlich dessen Popularität und Autorität, Gorkijs Einfluß und Bedeutung in der Weltkultur."
Als einen Anhänger der "marxistischen Theorie des Sozialismus" bezeichnete Weinberg den Schriftsteller. Die "sozialistische Idee" sah er kraft Lenins Revolution im Sowjetstaat verwirklicht. "Das war Gorkijs Hauptmotiv für seine Rückkehr." Merkwürdig nur, widersprüchlich, um nicht zu sagen schizophren Gorkijs Versuche, Stalin von der Loyalität der damaligen Erzfeinde zu überzeugen, insbesondere bei Trotzkij, Bucharin, Kamenjew, Sinowjew, Tomskij, Rykow. Wie aus den Briefen der Jahre 1928/29 hervorgeht, sympathisiert Gorkij mit diesen, sieht er doch auch in ihnen Träger der "sozialistischen Idee".
Stalin geht darauf nicht ein, auch nicht auf Gorkijs Kritik an den neuen GPU-Methoden "Selbstkritik", persönliche Selbstentlarvung. Solche Methoden, bemerkt Gorkij am 29. November 1929, würden dem Feind "eine Menge Material" in die Hand spielen, die er "gegen uns ausnützen könnte". Gorkij habe damit gegen die Kampagne zur Vernichtung der revolutionären Garde und alten Parteiintelligenz protestieren wollen, meint Weinberg. "Zur Zeit des scharfen innerparteilichen Kampfes, der permanenten Säuberungen, der Entlarvung feindlicher Flügel, Fraktionen, Abweichungen innerhalb der Partei bedeutete 'Selbstkritik' nicht nur Loyalitätserpressung und Wachsamkeitsprüfung, sondern vor allem dies: Hebel zur physischen Liquidierung der Feinde der persönlichen Stalinschen Diktatur."
1933 erscheint auf Anordnung Stalins das »Kurze Lehrbuch zur Geschichte der WKP (b)". In einem Brief an Kaganowitsch beschwert sich Gorkij über eine Reihe von "Fehlern", die "unsere große Idee diskreditieren". Zum Beispiel im Fall Trotzkij auf Seite 57 des Lehrbuches; dazu Gorkij: "Trotzkij wird ein heuchlerischer, gemeinsamer Menschewik genannt. Sehr gut, aber das seit wann? So mancher Leser wird hier erstaunt fragen: Wieso hat man diesen Niederträchtigen in die bolschewistische Partei aufgenommen und ihm sogar Führungsposten anvertraut?" (Diese Briefpassage wird hier erstmalig veröffentlicht.)
Josef Weinberg beurteilt Gorkij als einen Utopiesozialisten, der an seiner einmal getroffenen Wahl starrköpfig festhielt, Fehler beging, Widersprüche hinnahm, Kompromisse einging - und an der Politik scheiterte. Seine Briefe an Stalin würden es auf erschreckende Weise bestätigen. Am 29. November 1929 beglückwünscht er Stalin zur Aussöhnung (!) mit Bucharin, Tomskij, Rykow. "Der Gedanke einer Spaltung quälte mich furchtbar."
Am 24. Oktober 1930 bemerkt Stalin, ihm sei zu Ohren gekommen, daß Gorkij über die Schädlinge ein Theaterstück schreiben wolle. Stalin begrüßt es. Damit er richtig informiert sei, schreibt er an Gorkij, werde er ihm das "neueste Material" über den Schachty-Prozeß zusenden lassen. Gorkij bedankt sich überschwenglich für die Sendung, bezeichnet die Todesurteile als "gewaltigen Nutzen für die Arbeiterklasse", drückt Jagoda, den Richtern und Staatsanwälten sowie allen Genossen der OGPU die Hand; am liebsten würde er dem "Gesindel", das jetzt von einer Barbarei der Bolschewiki spricht, die Fresse einschlagen".
Gorkij nutzt das ihm von Stalin übermittelte "Material" zum Abfassen eines Manifestes, das am 25. November 1930 in der Prawda erscheint (die Überschrift "An die Arbeiter und Bauern" stammt von Stalin), mit der Aufforderung: "Wenn der Feind sich nicht ergibt, muß er vernichtet werden."
Josef Weinberg behauptet allerdings, das Schädlings-Drama "Somow und andere" sei niemals vollendet worden, folglich auch nicht zur Aufführung gelangt. Weinberg wörtlich: "Gegen das von der OGPU fabrizierte Provokationsmaterial sträubte sich der Künstler in Gorkij, das Theaterstück mißlang und wurde von Gorkij schließlich verworfen. An die 'Sache' selbst glaubte aber Gorki." Das heißt an die Notwendigkeit des Schachty-Prozesses, an die Existenz der" Schädlinge", an die Richtigkeit des Urteils. Vollendet oder nicht, an der Tatsache, daß Gorkij bereits in Sorrent auf die Linie Stalins eingeschwenkt und dessen Vemichtungskurs guthieß, ändert das nichts.
27 Jahre vor dem Abdruck des Briefwechsels Gorkij-Stalin in der Moskauer Literaturzeitung konnte man in einem deutschen Werk lesen: "Er (Gorkij) pries die Arbeit der GPU. Er schrieb an Makarenko: 'Diese Genossen schätze ich und verehre ich sehr, ebenso wie Sie.' Und an Gronskij: 'Die GPU existiert nicht als eine sportliche Einrichtung, die zu ihrem eigenen Vergnügen arbeitet, sondern kraft politischer Notwendigkeit. Als eingefleischter Humanist erwähne ich diese Tatsache mit einer bitteren Träne in der Seele.' Im Jahre 1933 fuhr er mit einer Gruppe von 120 Delegierten in den Norden, um den Bau des Kanals vom Weißen Meer zur Baltischen See durch Häftlinge zu besichtigen. In der Gruppe befanden sich 35 Schriftsteller, die ihre arkadischen Eindrücke in dem Sammelband 'Der Stalin-Kanal', 1934, niederlegte. Gorkij steuerte ein Vorwort bei, das dem Buch als einzige Schwäche ankreidete, die Verdienste des GPU-Chefs Jagoda nicht genügend gewürdigt zu haben. Als die GPU dazu überging, auch Kinder zu erschießen, entrüstete sich Gorkij in einem Brief an Rolland über die Ermordung eines Kindes durch einen Kulaken: 'Stellen Sie sich die Psyche einer zweibeinigen Besitzerseele vor, die in einem Kind den Feind sieht.'"
Die westliche Gorkij-Legende müsse vor diesem Material abdanken, schrieb damals der deutsche Verfasser. 27 Jahre nach der Zertrümmerung der westlichen Gorkij-Legende durch Hans-Dietrich Sander (aaO, S. 59) vollzieht ein revisionistischer Beitrag in der Literaturnaja Gaseta die Entlarvung der Östlichen Gorkij-Legende.
Übrig geblieben sind nur die Legenden vom Tod Gorkijs. Rätsel oder schwarze Löcher im Buch der Geschichte? In Wolfgang Kasacks "Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts" (München 1992) findet man den Hinweis: "Gorkij wurde höchstwahrscheinlich auf Weisung seines angeblichen Freundes Stalin durch ärztliche Maßnahmen umgebracht." Salcla Landmann behauptet, Gorkij sei von Stalin persönlich bei einem Besuch im Krankenhaus mit Pralinés vergiftet worden (DIE WELT, 7.4.1993). In der Version des ukrainischen Historikers Borys Lewytzkyj ist es GPU-Chef Jagoda gewesen, der den im Krankenhaus liegenden Schriftsteller mit vergifteten Pralinen umgebracht hat. "Die Krankheitsursache war aber nicht so sehr organischer Natur, sie lag vielmehr in den Quälereien, denen Gorkij zuletzt ausgesetzt war. Gorkij wollte um jeden Preis aus Rußland heraus und nach Italien. Stalin verhinderte seine Ausreise aber, weil er glaubte, daß Gorkij, sobald er nur ins Ausland käme, sich gegen ihn erklären würde. Pletnjew (ein Arzt, der Gorkij seinerzeit behandelt hatte, W. S.) behauptete, Stalins Agenten hätten Gorkij vergiftete Pralinen zugeschoben. Als sich später in Moskau Gerüchte über die Vergiftung Gorkijs verbreiteten, wälzte Stalin den Mord auf die Ärzte ab. Jagoda half Stalin noch während der Verhandlung auch bei der Verbreitung dieser Legende. Plemjew starb 1953 in Workuta." (Zitiert aus: "Vom Roten Terror zur Sozialistischen Gesetzlichkeit", München 1961, S. 87.)
Die Version Lewytzkyjs bestätigten zum Teil die Recherchen Sanders. Als Zeugen nennt Sander den Russen Alexander Orlow, Autor des Buches "Kreml-Geheimnisse" ehemaliger Sowjetdiplomat und Leiter der Gegenspionage. Sander resümiert: "Sein (Gorkijs) Verhältnis zu Stalin kühlte ab, als von 1933 an zunehmend alte Bolschewisten verhaftet wurden. Der Diktator wünschte, daß der Dichter ein Buch über ihn schriebe.'Anfang 1934 war es klar', schreibt Orlow, 'daß Gorkij kein Buch über Stalin schreiben würde.' Im Sommer 1934 wurde Gorkijs Gesuch um einen Paß für eine Winterreise nach Italien zum ersten Mal abgelehnt. Stalin wünschte, daß er wenigstens einen Artikel über ihn schriebe… Gorkij lehnte auch diesen Wunsch ab. Und als Stalin erwartete, er werde im Dezember 1934 anläßlich der Verhaftung Sinowjews und Kamenjews nach dem Kirow-Attentat einen Artikel wider den individuellen Terror schreiben, sagte Gorkij zu Jagoda: 'Ich verurteile nicht nur den Individualterror, sondern auch den staatlichen Terror überhaupt.' Nach dieser Unterredung bewarb sich Maxim Gorkij erneut um einen Paß nach Italien, der wiederum verweigert wurde. 'In Italien', schließt Orlow dieses Kapitel ab, 'wollte Gorkij wirklich ein Buch über Stalin schreiben, aber nicht ein solches, wie es Stalin sich erträumte. Man verweigerte ihm auch 1936 einen Paß. Er blieb der Gefangene Stalins bis zu seinem Todestag im Juni 1936. Nach Gorkijs Tod fanden die Beamten des NKWD unter seinen Sachen sorgfältig geheimgehaltene Aufzeichnungen. Als Jagoda mit deren Lektüre fertig war, fluchte er und sagte: Wie gut man auch einen Wolf füttern mag, er will immer in die Wälder zurück. Gorkijs Aufzeichnungen wurden niemals veröffentlicht.'" (aaO., S. 62 f.)
Niemals? Die Epoche der Stalinschen Zensur ist zu Ende. Die Zensur der Jelzinschen Ära gleicht einem Schweizerkäse. Und Jagoda weint niemand eine Träne nach, auch nicht die Tschubais, Niemzow (recte "Deutscher"), Beresowski, Gusinski, Smolenski. Der Revisionismus in Sachen Gorkij-Mythos ist nicht aufzuhalten; den jüngsten Beweis lieferte die Literaturzeitung vom 27. August 1997. In den Politbüros der westdeutschen Feuilletons hat sich das anscheinend noch nicht herumgesprochen, angesichts der vielen Gorkij-Aufführungen hierzulande ein zwieschlächtiges Phänomen.
REZEPTIONSNOTIZEN
Der überraschende Rückgriff von Wolfgang Strauss auf das Gorkij-Kapitel meiner Dissertation "Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie" von 1970, das nun durch die Öffnung russischer Archive bestätigt wurde, ließ meine Gedanken zurückschweifen zu dem Schicksal dieses Buches, das keines war.
Ich hatte versucht, mit dieser Arbeit die Befassung mit dem Marxismus auf eine neue Grundlage zu stellen, indem ich die Werke von Marx und Engels einer Differenzanalyse unterzog, die zwischen der realen und tribunalen Struktur unterschied, und von diesem Blickpunkt aus die folgenden Entwicklungen und Prozesse am Gegenstand der mit allen Bereichen verknüpften Ästhetik einschätzte.
Inmitten meiner Vorbereitungen zur 2. erweiterten Auflage um 1975 fragte mich ein Oberst i.G., der beim BND arbeitete und für ein transatlantisches Informationszentrum tätig war, mit leisem Spott, ob es denn bei den tausend Exemplaren der 1. Auflage nicht sein Bewenden haben könnte. Der Mann, dem ich die Voraussetzung für meine späteren aktuellen politischen Analysen verdanke, weil er mich damals die monatliche Chronik für das theoretische Organ der CSU schreiben ließ, wodurch ich genötigt war, die politischen Ereignisse in einen längeren Zeitraum einzuordnen, hatte bei seinen Instrumentarien gar nicht so unrecht.
Meine Arbeit hatte in den vergangenen fünf Jahren, die den Höhepunkt des Interesses am Marxismus in der Bundesrepublik ausmachten, überhaupt keine Rolle gespielt. Und ich war auf seltsame Weise vorbereitet gewesen, noch ehe ich das Manuskript zu Ende geführt hatte. Am Rande einer Hegel-Tagung 1968 in Salzburg saß ich mit ein paar philosophischen Zelebritäten an einem Tisch, die von Hegel auf Marx abschweiften. Ich benutzte die Gelegenheit, ihnen meinen neuen Interpretationsansatz zu erklären und erlebte die ernüchternde Abfuhr, wenn sie sich darüber näher informieren wollten, würden sie bei ihren Kollegen in der DDR nachfragen, die verstünden davon wohl mehr als ich. Allein Alfons Silbermann sollte sich später in seinen Vorlesungen damit befassen (und mich übrigens anregen, mein Plechanow-Kapitel für seine Anthologie "Klassiker der Kunstsoziologie" auszubauen und zu vertiefen).
Die Arbeit hatte für mich den Zweck, meine 20jährige Befassung mit dem Kommunismus, die aus Engagement, Kritik und Ablösung bestand, mit einer Historisierung abzuschließen. Die westdeutschen Gelehrten verfügten über zu wenige Kenntnisse des Stoffes, um meine Pionierarbeit einschätzen zu können, und die kommunistischen waren noch im Besitz ewiger Wahrheiten. Von den 68ern, die lebhaft am Marxismus interessiert waren, konnte keine Rezeption ausgehen, weil sie an einer Aktualisierung, nicht aber an einer Historisierung der Thematik interessiert waren.
Der Achtungserfolg in den Rezensionen hatte keine Folgen. Wenn die Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting feststellte, man könne meinen Kapiteln über Gorkij und Lukács nicht entnehmen, ob ich nun für oder gegen Gorkij, für oder gegen Lukács sei, so wirkte das wie eine Abkanzlung, die eine Beschäftigung mit meiner Dissertation als nicht lohnend erscheinen ließ. Die Kesting hätte das auch von meinem Stalin-Kapitel sagen können. Ich hatte auch Stalin historische Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn um nichts anderes handelte es sich bei meinem Abwägen von negativen und positiven Aspekten. Der Sowjetologe Kurt Marko entrüstete sich, ich hätte Stalin von Carl Schmitt her gerechtfertigt! Man stand damals noch zu sehr im Banne der Parteirenaissance Chrustschows (obwohl sie unter Breschnew schon ins Mafiose hinüberfaulte), um die neue Rolle des Staates zu begreifen, mit der Stalin vor seinem Tode die führende Rolle der Partei beenden wollte.
Die 2. Auflage wurde so gut wie nicht mehr wahrgenommen, obwohl sie einen 70seitigen Exkurs über die Frankfurter Schule enthielt, die den Zeitgeist so beherrschte, daß jede Veröffentlichung, die sich mit ihr befaßte nach allen Seiten hin und her gewendet wurde. Der Verleger Axel Matthes hingegen war von dem Benjamin-Abschnitt so entzückt, daß er mich bat, es zu einer Abhandlung auszubauen, wenn er eines seiner Lieblingsprojekte verwirklichen könnte, das "Heterodoxes über Benjamin" heißen sollte. Das war 1987 so weit. Er benachrichtigte alle vorgesehenen Mitarbeiter, von denen Elisabeth Lenk (TU Hannover) sich freudig überrascht zeigte, daß ich mit von der Partie sei, denn "wir hätten", schrieb sie Matthes, Sander alle damals Unrecht angetan, und er hätte seine Dissertation doch in einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Prosa geschrieben. Diese Begeisterung schlug leider in blinde Wut um, als ihr Matthes die erste Fassung meines Beitrags schickte. Die Anthologie kam dann nicht mehr zustande, nachdem auch der russische Jude Borys Groys aus der Schweiz gegen meinen Text angrollte. Aus den Trümmern ist allerdings in meinem eigenen Verlag "Die Auflösung aller Dinge" hervorgegangen.
Einen Erfolg aber hatte meine Dissertation aber doch und zwar mit dem Gorkij-Kapitel. Es zwang den amerikanischen Sowjetologen Bertram D. Wolfe den zweiten Band seiner Gorkij-Monographie einzustellen. Er wollte, schrieb er erzürnt, mit mir sich erst im jenseits darüber unterhalten.
Hans-Dietrich Sander