STAUFFENBERG UND DAS NKFD

Am 8. Dezember 1944 unterschrieben 50 deutsche Generale einen Aufruf an "Volk und Wehrmacht", in dem es hieß: "Hindenburg und Ludendorff haben 1918 die Beendigung des Krieges gefordert, als er militärisch angesichts der drückenden Übermacht aussichtslos geworden war. Aus dem gleichen Grunde rufen wir Generale, zusammen mit vielen Hunderttausenden von Soldaten und Offizieren, die sich in der Bewegung 'Freies Deutschland' zusammengeschlossen haben, aus russischer Kriegsgefangenschaft Euch zu: Unser ganzes Fühlen und Denken gehört allein dem Schicksal unseres Volkes. Deutsches Volk steh' auf zur rettenden Tat gegen Hitler und Himmler." Die Verfasser vermieden die Formel von der bedingungslosen Kapitulation, lehnten jeden Friedensschluß mit Hitler ab. Text und Stil des patriotisch klingenden Aufrufs, verbreitet vom Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), erlaubten Spekulationen, ob eine deutsche Gegenregierung einen "Verhandlungsfrieden" erreichen könnte.

Drei Monate zuvor, am 2. September 1944, hatte der deutsche Generalstabsmajor Joachim Kuhn in einem Moskauer NKWD-Gefängnis eine Aussage zu Protokoll gegeben, in der es um Stauffenberg ging. Dieser soll sich über das NKFD informiert gezeigt und bereit erklärt haben, "nach außen" - gemeint die Sowjetunion - diplomatische Fühler auszustrecken. Ein Vertrauter Stauffenbergs, General Fellgiebel, soll laut Kuhn gesagt haben: "Suchen müssen wir eine schnellstmögliche Verständigung mit der UdSSR, da diese allein ein Interesse an einer Erhaltung und Zusammenarbeit mit einem lebensfähigen Deutschland habe. Den Anglo-Amerikanern wird der Kontinent immer ein lästiger Konkurrent bleiben."

Was ist an dieser Aussage - erpreßt oder freiwillig -, gesprochen vor sowjetischen Geheimpolizisten, wahr, was Phantasie oder Utopie oder einfach - Notlüge?

Fest steht nur, daß Major Kuhn zum Kreis um Stauffenberg gehörte und sich nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli das Leben nehmen wollte. Kuhn lief auf die sowjetischen Stellungen zu, geriet jedoch in Gefangenschaft, wurde verhaftet und vom NKWD pausenlos verhört und, trotz der für die sowjetische Seite positiven Aussage vom 2. September 1944, sieben Jahre später wie ein Verbrecher zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Januar 1956 kam der Spätheimkehrer, seelisch und physisch ein Krüppel, in die Bundesrepublik. Die Zeitgeschichtsforschung ist über Joachim Kuhn hinweggegangen. Erst 1998 taucht sein Name wieder auf - in einem FAZ-Artikel vom 20. Juli, verfaßt von Peter Hoffmann, Dozent für deutsche Geschichte an der McGill University in Montreal. Dieser Beitrag gibt Rätsel auf.

Erstens: Hoffmann schweigt über die Hintergründe der sowjetischen Deutschlandpolitik 1944/45. Stalins Konzeption hieß intensive Ausbeutung der eigenen Besatzungszone zur Stärkung der Sowjetunion. Eine Gruppe um Schdanow - dessen Vertreter für die SBZ später Tulpanow war - trat für eine nach Westen offensive Politik ein, in der die eigene Zone die Rolle eines Brückenkopfes des Kommunismus gegen die Anglo-Amerikaner übernehmen sollte. Wladimir Semjonow von der Auslandsabteilung des Staatssicherheitsministeriums, Berija nahestehend, bildete eine dritte Gruppe. Gemeinsam mit der Schdanow-Gruppe scheint sie gegen die Beutekonzeption Stalins und für ein ungeteiltes Deutschland eingetreten zu sein, aber dieses sollte nun im Unterschied zu Schdanows Plänen nicht unbedingt kommunistisch sein, sondern in der Fortsetzung der Dreikaiserbund-Rapallo-Linie auf lange Sicht zu einem freiwilligen und damit treueren Verbündeten werden, als wenn es dazu gezwungen würde. Also ein Ausspielen der patriotischen Karte. Dieser Gruppe dürfte zeitweise auch Molotow zugehört haben. Kannte der Verfasser diese Hintergründe nicht?

Zweitens: Hoffmann erwähnt auch nicht mal in einem Nebensatz die dokumentarisch nachgewiesenen Aktivitäten Stauffenbergs und Tresckows bezüglich der Aufstellung einer antistalinistischen Russischen Befreiungsarmee. Schon aus diesem Grunde käme Stauffenberg als Sympathisant des prostalinistischen NKFD nicht in Frage. In seinem Verhör-Protokoll übergeht der Gefangene Kuhn diesen wichtigen Punkt mit Schweigen.

Drittens: Hat es tatsächlich keine Versuche Stalins gegeben, mit Hitler - nicht mit einer Antihitlerregierung! - zu einem Waffenstillstand beziehungsweise Separatfrieden zu gelangen? Boris Meißner, der Doyen der deutschen Rußlandforschung, bejahte es. "Unzweifelhaft scheint, daß auf sowjetischer Seite trotz der großen militärischen Erfolge im Verlaufe des Gesamtenjahres 1943 die Bereitschaft bestanden hat, unter für Deutschland durchaus tragbaren Bedingungen zu einem friedlichen Ausgleich zu gelangen." Nachzulesen in Meißners Standardwerk "Rußland, die Weltmächte und Deutschland", 1953, Hamburg. Es gibt Werke genug, die diese Versuche belegen.

Nach Stalingrad und Kursk wurde in Stalins Deutschlandpolitik die patriotische Karte ausgespielt. Ein Erfolg war diesem propagandistischen Kurswechsel nicht beschieden. Die Sowjetführung, die seit der Teheran-Konferenz in ihrer Propaganda immer antideutscher wurde, verlor das Interesse am Nationalkomitee Freies Deutschland. Der Traum einer "Gegenregierung" war ausgeträumt. Die vergeblichen Versuche von Paulus und Seydlitz, die Kurland-Armee zur Kapitulation zu bewegen (sie sollte in geschlossener Ordnung unter deutschem Kommando interniert und im Besitz der Ausrüstung und leichten Waffen gelassen werden!), gaben Stalin den wohl letzten Anstoß zur Liquidierung des NKFD.

Was die Frankfurter Allgemeine anbelangt, so bleibt sie uns einen kritischen Kommentar zu ihrer sensationell aufgemachten "Enthüllung" vom 20. Juli schuldig. Eine Zeitung dieses Formates oder dieses Anspruchs sollte sich endlich einmal um den erreichten Standard geschichtlicher Erkenntnisse kümmern.

Wolfgang Strauss


Quelle: Staatsbriefe 9(7-8) (1998), S. 66

Zurück zum Staatsbriefe-Menü