WOLFGANG STRAUSS / FORTSCHREITEN DES REVISIONISMUS IN RUSSLAND (7)
Nein, feige, undiszipliniert, räuberisch seien die deutschen Soldaten im Osten nicht gewesen, versichert Eva Horn im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Sie bescheinigt den Wehrmachtssoldaten Kaltblütigkeit im Kampf, Effizienz, Leistungsfähigkeit, Gehorsam und "geringe Desertionsquoten". Andererseits, und das würde schwerer wiegen, wäre der "nationalsozialistische Vernichtungskrieg" von "Exzessen gegen Zivilisten" durch die Wehrmacht gekennzeichnet gewesen (SZ-Neujahrsausgabe 1998).
Ein Glück für die Ehre des deutschen Volkes, daß Artikel wie diese den Zeitungslesern in Rußland und der Ukraine nicht zur Kenntnis gelangen.
Wer liest schon die Süddeutsche in Ternopil, Poltawa, Odessa, Rostow, Witebsk, Magadan, Workuta? Galizische und wolhynische Bäuerinnen gewiß nicht, die sich daran erinnern können, Wie sie als junge Mädchen in Gottesdiensten gesungen haben, die von deutschen Divisionspfarrern abgehalten wurden, in von der Wehrmacht wiedergeöffneten Kirchen.
Zwischen Dnjistro und Dnjipro, Donez und Bug pflegt eine ukrainische Jugend deutsche Soldatengräber, denn es waren "auch unsere Soldaten". Bürgermeister und Kreisräte, Priester und Bischöfe stellen heute die Frage: "Warum kommen nicht mehr Deutsche und besuchen die Gräber ihrer Soldaten, die ja auch für die Freiheit der Ukraine gefallen sind? Oder haben die Deutschen schon alles vergessen Folge der "Exzesse gegen Zivilisten"?
In der Industriemetropole Charkow, wo auf Befehl Stalins am 19. Dezember 1943 unschuldige deutsche Landser Öffentlich gehängt wurden, entsteht auf Volksinitiative der Ukrainer einer der größten Sammelfriedhöfe Europas, überragt von einem granitenen Eisernen Kreuz. In Rossoschka bei Wolgograd errichten russische Arbeiter ein Denkmal für 40 000 deutsche Stalingradkämpfer - ein Kurgan aus slawischem Erz für germanische Krieger, unmittelbar neben einem Friedhof für Gefallene aus dem Volke Solschenizyns. Blut und Boden zweier großer Völker. Die Anerkennung von Tapferkeit und Opfertum kennt keine nationalen Grenzen. - Liegt das in der SZ-Logik "Exzesse gegen Zivilisten"?
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Revisionismus ist nicht nur eine Pflichtübung objektiver Geschichtsforscher. Revisionismus in Rußland und der Ukraine offenbart kulturrevolutionären Charakter. In der Gesellschaft zur Aufklärung der Stalin-Zeit, "Memorial", wirken ehrenamtliche Kräfte, zumeist Nichtwissenschaftler. Sie erforschen die Listen der erschossenen "Volksfeinde'', entdecken die Gefängnisse, in denen sie liquidiert wurden, suchen nach Friedhöfen, wo ihre Asche, jahrgangsweise markiert, verscharrt wurde.
Dazu bemerkt Günther Wagenlehner, einer der intellektuellen Köpfe der rußlanddeutschen Wiedergeburtsbewegung: "1993 begann Memorial mit der Veröffentlichung der 'Listen der Erschossenen'... Die Auflage ist mit 5000 Exemplaren klein. Aber ich war doch beeindruckt, als ich diese Bücher mit den kurzen Lebensläufen und Fotos der Erschossenen am Schwarzen Brett im Zentralarchiv des Föderativen Sicherheitsdienstes Rußlands sah, also beim früheren KGB, der immerhin damals für die Erschießung zuständig war. Inzwischen gibt es solche Gedenkbücher für einzelne Gefängnisse immer mehr auch in den russischen Regionen." (FAZ vom 2. Januar 1998)
Im Revisionismus-Diskurs profiliert sich die Literaturnaja Gaseta, einst das Zentralorgan des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Rechtfertigt das Erbe eines räuberischen Bolschewismus die "Kliptokratie" von heute? Darüber streiten die Schriftsteller Jurij Burtin und Efim Berschin. ("Kliptokratie", eine Begriffsschöpfung des Frühdissidenten Wladimir Bukowskij, meint kriminelle Demokratie.) Burtin verteidigt einen antibolschewistischen Sozialismus; Berschin, ein nationaler Liberaler, gibt ihm recht: "Ich bin absolut einverstanden damit, daß die Idee eines 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' unvergleichbar besser ist als der mafiotisch-oligarchische Kapitalismus von heute." Berschin spricht von einem "Kapitalismus mit bestialischer, animalischer Fratze".
Aus dem Artikel Berschins (LG vom 12. Februar 1997) wird ersichtlich, daß die unterschiedliche, ja oft gegensätzliche Auffassung von Geschichtsaufarbeitung die nachsowjetische Intelligenzia gespalten hat und von daher die revisionistischen Strömungen beeinflußt. Währen die einen eine "Stunde null" propagleren, streben die anderen zurück zum "Februar siebzehn", die dritten schließlich streichen die siebzigjährige Geschichte des Bolschewismus einfach aus und beginnen irgendwo im Mittelalter. Die einen bekennen sich als Gegner von Kirche, Religion, Metaphysik und suchen ihr Heil in einem angeblich postmodernen Atheismus mit Annäherung an den westlichen Existenzialismus, ihre Antipoden wiederum erblicken in der orthodoxen Kirche die neue Partei, das neue Heiligtum. Eine dritte Intellektuellenströmung gruppiert sich um den jungen Anthropologen Wladimir Awdejew, von dem die These einer "nordischen Kultur" ausgeht, angelegt im gemeinsamen Menschenbild der "alten" Kelten, Germanen, Slawen.
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War der Oktober 1917 das Werk einer kleinen, vom Ausland gesteuerten Verschwörerclique, oder geschah damals etwas historisch Gesetzmäßiges und Notwendiges, verwurzelt in der russischen Geschichte? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Hat der Liberalismus, als Nachfolger des Kommunismus, seine Schlacht bereits verloren, oder liegt es am instinktiven Widerstand der Russen, daß der demokratische Kapitalismus im Volk keine Wurzeln schlagen kann? Sind Liberalismus und liberale Ideen miteinander identisch, ist eine Autokratie mit liberalen Freiheiten denkbar? Liegt das künftige Heil Rußlands im religiösen Fundamentalismus oder im selbstverwalteten Sozialismus, im westlichen Demokratismus oder im Neuslawophilentum, in der aufgeklärten Monarchie oder sozialen Diktatur?
Das Wichtigste, schreibt Berschin, von dem diese Alternativen stammen, sei jedoch die Art und Weise, wie wir als Russen mit unserer leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts umgehen - ehrlich und offen, oder nach der kommunistischen Methode des Ausklammerns, Verfälschens. Auf diese Frage hätten weder Jelzin noch Gaidar oder Lebed eine Antwort gefunden (die Altkommunisten und die Ochlokraten Tschubais, Nemzow, Beresowski erwähnt Berschin erst gar nicht). Um beim Ausklammern zu bleiben: ein lebhaft diskutiertes Intelligenzia-Thema wagt Berschin nicht auszusprechen, aus welchen Gründen auch immer: "jewreiski wopros". Dabei wird in den Spalten der Literaturna Gaseta "das" Thema keineswegs totgeschwiegen.
Das "unerschöpfliche Thema" von der "importierten Revolution" im Jahre 1917 würde wohl damit zusammenhängen, meint der stellvertretende Chefredakteur Igor Serkow, daß im "berühmten plombierten Waggon" nicht nur die Leninisten nach Rußland geschleust worden seien, mit "Geld des kaiserlich-deutschen Generalstabs", sondern auch die ideologischen Feinde der Bolschewiki: Menschewiken und der "Bund". Nach Wladen Sirotkin besteht das Zwiespältige, Zwielichtige dieser Re-Emigration darin, daß die Mehrzahl der Heimkehrer Juden waren (LG vom 5. November 1997). "Bund" war die Bezeichnung für den 1897 im litauischen Wilna (heute Vilnius) gegründeten "Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland", der vorwiegend jüdische Intellektuelle und Handwerker der damaligen Westgebiete Rußlands vereinigte. Der "Bund" (in russischer Aussprache "Bunt") bildete den Schoß der Sozialdemokratie im Zarenreich.
1898, ein Jahr nach dem Zionistenkongreß in Basel, kam es zu einer Abspaltung. In Minsk konstituierte sich eine neue politische Organisation, die "Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (SDAPR). Ihre Gründerväter waren die heute völlig in Vergessenheit geratenen Kremer, Edelmann, Kaz, Mutnik, Wigdortschik. "Doch entsprach der Name nur in sehr geringem Maß der Wirklichkeit, weil diese Partei kaum Bezug zur Arbeiterklasse hatte", bemerkt der Kommunismusforscher Anatolij Iwanow. "Auf dem 11. Parteitag im Jahre 1903, der später von der offiziellen Geschichtsschreibung als Datum der tatsächlichen, statt nominellen, Gründung der Partei ausgegeben wurde, fanden sich unter den 44 Delegierten ganze vier Arbeiter. Die überwiegende Mehrheit bestand aus Intellektuellen, in der Regel nicht russischer Herkunft. Ihre Namen belegen das recht deutlich: Martow (Zederbaum), Trotzki (Bronstein), Nauman, Knunianz, Gussew (Drabkin), Ljadow (Mandelstam), Semljatschka (Salkind). Schotman, Stepani, Martynow (Piker), Krochmal, Sborowski, Lewin Mandelberg, Surabow, Kossowski, Liber, Medem, Ganezki (Fürstenberg), Warski (Warschawski) usw. Ganz verloren finden sich in der Liste Plechanow, Lenin mit Gattin und Bruder, Krassikow. . ." (Anatolij Iwanow: Logik des Alptraums. Russisch 1993, Moskau, dt. 1995, Berlin)
1898 bis 1903 und 1906 bis 1912 war der "Bund" dem menschewistischen Flügel der SDAPR angeschlossen, damals geleitet von Julij Martow alias Zederbaum, einem Duzfreund Lenins und Mitreisenden im Plombierten Waggon. Gemeinsam mit Lenin war er Mitbegründer und Mitarbeiter des Parteiorgans Iskra.
In einer relativ freien Wahl zur gesetzgebenden Versammlung ("Konstituante") entschied sich am 25. November 1917 das russische Volk für eine national orientierte Sozialdemokratie gegen Lenin und gegen die bürgerlichen Parteien. Von den 36 Millionen Russen, die zu den Urnen gingen, stimmten nur neun Millionen für die bolschewistischen Kandidaten. Von 707 Abgeordnetensitzen gewannen die antimarxistischen, die Bauernschaft repräsentierenden Sozialrevolutionäre - als Nachfolger der Narodniki - 370, das heißt eine klare Majorität. Auf die Menschewiken entfielen nur 16 Sitze. Die Eröffnungssitzung der Konstituierenden Versammlung am 18. Januar 1918 im Taurischen Palais dauerte nur wenige Stunden, Lenin ließ die Abgeordneten mit dem Bajonett auseinandertreiben. Als die Tscheka mit der physischen Vernichtung der Sozialrevolutionäre und Menschewiken begann, hielt Lenin seine Hand über Martow; ungeschoren konnte der Konterrevolutionär Rußland 1920 verlassen. (Martow starb 1923 im badischen Schönberg an Tbc.) 1921 erklärte der jüdische "Bund" seine Selbstauflösung. Zu diesem Zeitpunkt waren schon zahlreiche Funktionäre zu den Bolschewiken übergelaufen, und übergeschwenkt viele ehemalige Martow-Anhänger.
Nicht nur die russische Rechte erinnert an die Rolle des Kleinen Volkes beim bolschewistischen Staatsstreich 1917; auch Sjuganows Kommunisten bestätigen das Übergewicht der "Nichtrussen" im Oktober siebzehn. "Falsifikationen" hinsichtlich der "Rolle der Juden im Oktober 17" kritisiert äußerst heftig Mark Krasnoselski in der Nesawissimaja Gaseta (Unabhängige Zeitung) vom 29. August 1997: "Es stimmt einfach nicht, was die Antisemiten behaupten, daß nämlich die Oktoberrevolution hauptsächlich von Juden verwirklicht worden ist." Solche Behauptungen wären der zentrale Punkt der "antijüdischen Propaganda". Mark Krasnoselski ist Vorsitzender des Forschungszentrums für Antisemitismus (WAAD) und Mitglied im Antidiffamierungskomitee im Rossijshij Jewreiskij Kongreß (REK). Die Nesawissimaja Gaseta gehört zum Medienkonzern des Multimilliardärs Boris Abramowitsch Beresowski.
Krasnoselskis Kritik im genannten Artikel ("Haben die Juden in Rußland noch eine Zukunft?") ist nicht frei von Widersprüchen. Gleichzeitig gibt er zu, daß "eine große, bevölkerungsmäßig überproportionale Masse russischer Juden an der Oktoberrevolution aktiv beteiligt war". Das ist heute auch der Standpunkt seriöser russischer Geschichtsforscher liberaler, sozialistischer und revisionistischer Couleur, unter ihnen ein Solschenizyn.
Die Fakten sind eindeutig. Im August 1917 fand der Vl. Parteitag der Bolschewiki statt. Das von ihm gewählte Zentralkomitee durfte als Stab des vorbereiteten Putsches angesehen werden. Es bestand aus 24 Personen, wobei genau die Hälfte Nichtrussen waren: Stalin, Schaumian, Smilga, Bersin, Dzierschinski und sieben Juden - Sinowjew (Apfelbaum), Kamenjew (Rosenfeld), Trotzki (Bronstein), Swerdlow (Solomon bzw. Auerbach), Sokolnikow (Brillant), Urizki, Joffe. Bei einer derartigen Kräfteverteilung sei es wohl vermessen, von einer "russischen Revolution" zu sprechen, urteilt Anatolij lwanow. "1921/22 fungierten im fünfköpfigen Politbüro drei Juden…" (Russkij Westnik, Nr. 33-34, 1997, S. 7). Nach der Revolution kommandierte Trotzki die Rote Armee, Sokolnikow regierte im Finanzministerium, Litwinow dirigierte die Außenpolitik, Jagoda die Innenpolitik. Der Oktober siebzehn erscheint - nach dem derzeitigen Stand der Historikerrecherchen - keine nationale, sondern eine internationalistische Revolution.
Allerdings gab es seit der Jahrhundertwende in allen russischen revolutionären Strömungen starke jüdische Anteile. Der Grund war weniger Internationalismus als Abwehr des eskalierenden Antisemitismus im Zarenreich.
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Auch unter russisch-jüdischen Historikern wird die eben skizzierte "Übergewichts"-These (russisch "perewes") nicht länger bestritten. Das ist ein wichtiges Kapitel des modernen Revisionismus im Osten. Das jüngste, vom Inhalt her sensationelle Beispiel liefert Alexander Borschtschagowski, geboren 1913 in der Ukraine, Dramatiker, Prosaautor und Zeitgeschichtlicher, unter Stalin als "Kosmopolit" verfolgt. Aufgrund jetzt zugänglicher KGB-Akten verfaßte er das Werk "Obwinjajeschtscha krow" ("Das angeklagte Blut"), erschienen 1995 im Moskauer Verlag Progress/Kultura. Im gleichen Jahr kam die französische Übersetzung heraus, die deutsche Ausgabe trägt den Titel "Orden für einen Mord. Die Judenverfolgung unter Stalin" (Berlin 1997).
Stalin habe 1948 die jüdische Minderheit in der UdSSR physisch eliminieren wollen, behauptet der Autor. "Es handelte sich dabei um einen planmäßig in Angriff genommenen Genozid." Da Stalin zunächst keine Möglichkeit gesehen habe, das ganze jüdische Volk zu deportieren, habe er mit besonderer Grausamkeit dessen Intelligenz, Kultur, Sprache, Eigentümlichkeit "vernichtet". Auf die Genozid-Vorbereitungen seien nicht Monate, sondern Jahre verwendet worden (S. 46 f.).
Borschtschagowski entdeckt bei Stalin einen "abgrundtiefen Judenhaß". Aber Judenhaß warum? Aus ideologischen oder machtpolitischen Gründen, gar aus ethnischen, rassischen Motiven? An den tiefenpsychologischen Wurzeln des Stalinschen Judenhasses ist der Autor interessiert, und da stößt er automatisch auf die "Übergewichts"-These, das "Besondere" am frühen Bolschewismus. Borschtschagowski gebraucht den Begriff "jewreiskij wopros", deutsch "Judenfrage".
Stalins Hauptmotiv eines "wilden, tödlichen Hasses" und eines immer stärker werdenden "Rachedurstes" entdeckt Borschtschagowski in den angeborenen, das heißt unverwechselbaren intellektuellen Attributen der "jüdischen Parteiführer". Trotzkij mit seiner Redekunst, seinem "gnadenlosen ironischen Verstand", Kamenjew mit überragender Bildung und seinem Schreibtalent, Sinowjew mit seinen demagogischen Fähigkeiten. Daß viele von diesen "selbstbewußten Profis" wenigstens eine der westeuropäischen Sprachen beherrschten und das Parteivolk eine Zeitlang für sich zu gewinnen wußten, erregte ganz besonders den Neid und den Haß Stalins. Doch es sollte sich zeigen - so Borschtschagowski -, daß Stalin den "jüdischen Parteiführern" in puncto Arglist und Treulosigkeit, Gerissenheit und taktischem Geschick, in wirklicher Kenntnis der Menge überlegen war.
Stalins Judenhaß sei mehr als ein Narkotikum seines Machtwahns gewesen, urteilt Borschtschagowski; sein Judenhaß habe in einer fundamentalen, existentiellen Feindschaft seinen Ursprung gehabt. Eingeschlossen in Stalins Feindbild wären die ethnischen Besonderheiten der Juden und alle Ausdrucksformen ihrer physischen Existenz gewesen.
Der Sieger über den Faschismus, ein vollkommener Judenhasser also?
Borschtschagowski zeichnet ein historisches und anthropologisches Psychogramm des Stalinschen Antisemitismus. "In seinem zum heiligen Kult erhobenen Kampf gegen die Menschewiken und damit gegen die Sozialdemokratie jeglicher Schattierung erkannte Stalin, wie viele Juden es unter den Führern des russischen Menschewismus gab, die ihn, als sie nach der Revolution seine Person endlich ihrer Beachtung für wert hielten, zur Zielscheibe ihrer Kritik und Verächtlichmachung erkoren", schreibt der Autor.
Stalins Haß richtete sich auch gegen die ethnischen Besonderheiten der Juden, die aus jahrtausendelanger Heimatlosigkeit und Verfolgung herrührten: "Skeptische Geisteshaltung, Hang zu Ironie und Selbstironie... stumme, mitunter auch lautstarke, hartnäckige Ablehnung der von der Mehrheit fügsam angenommenen Postulate, unterdrückten, aber dennoch in den Augen aufblitzenden Spott." Schließlich die heimliche Schadenfreude darüber, wie er durch Schroffheit der Wertungen seine Unsicherheit in Fragen von Kultur und Kunst zu überspielen versuchte. "Die ganze Skala der Animositäten las Stalin im schweigsamen wie im gehorsam nickenden Juden."
Stalin schien die Juden nicht nur als politische Feinde, sondern vor allem als Juden zu hassen. Borschtschagowski: "Er haßte ihre körperlichen Eigenschaften, ihre Fähigkeiten wie ihre Fehler und Schwächen, alle Ausdrucksformen ihrer physischen Existenz bis hin zu den Namen, die sich nach Aufruhr und Verschwörung gegen alle übrigen Namen der Menschheit anhörten. Seinen Unwillen erregten auch (…), mit welcher Leichtigkeit manche von ihnen ihre Namen änderten, gewissermaßen als Parodie auf die von ihm und vielen seiner Kampfgefährten vorgenommenen Namensänderungen."
Diese seine antijüdische Krankheit sei unheilbar gewesen, schlußfolgert der jüdische Historiker. "Und es kamen Zeiten, da er aufhörte, sie zu kaschieren, und allein Kaganowitsch, den beschränktesten und grausamsten aller Juden, die jemals in Stalins Umgebung in Erscheinung traten, im Politbüro beließ, um dem Internationalismus Genüge zu tun. Viel weiter unten in der Hierarchie spielt nur noch der treue Knecht Mechlis eine Nebenrolle. Beim Anblick dieser beiden kamen Stalin keine verdrießlichen Gedanken über beneidenswerte Qualitäten der jüdischen Natur oder des jüdischen Geistes."
Stalins Judenhaß vergiftete sogar das Familienleben des Tyrannen. "Kann es verwundern, daß die Ehe seiner starrsinnigen - ganz nach Vaters Art - Tochter Swetlana mit einem Juden Stalin in Harnisch brachte, daß er eine Atmosphäre schuf, die unweigerlich zum Bruch führen mußte, daß er diese Ehe nicht nur als ein Unglück und eine Schmach ansah, sondern auch als einen hinterhältigen Anschlag feindlicher Kräfte -,die Zionisten haben ihn dir untergeschoben!'?" (S. 46 ff.)
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Im Prozeß gegen den jüdischen Erzähler und Dramatiker David (Dowid) Rafailowitsch Bergelson, Mai 1952, hielt der Richter dem Angeklagten ein Gedicht vor, in dem Bergelson den jüdischen Kommunisten Jakow Swerdlow alias Solomon bzw. Auerbach mit Salomo und den Makkabäern vergleicht. Bergelson antwortete: "Jakow Swerdlow war der Stolz des jüdischen Volkes, einer der fortschrittlichsten Juden. Es wäre für Swerdlow keine Schande gewesen, mit dem weisen Salomo auf eine Stufe gestellt zu werden." Über die Argumente des russischen Richters spottet der Swerdlow-Verteidiger Borschtschagowski: "Swerdlow mit den Makkabäern, mit dem biblischen Salomo, dem Sohn von König David und Bathseba, zu vergleichen! Den Stolz der Partei zum Stolz des jüdischen Volkes zu erklären; Lenins Liebling lediglich als ,einen der fortschrittlichsten Juden anzusehen - daß jemand so etwas über die Lippen brachte!" (S. 269) Allein der Versch, den Bolschewiken Swerdlow mit einer biblischen Gestalt ("diesem von der Revolution abgeschafften Sammler jüdischer Histörchen") zu vergleichen, sei in den Augen des russischen Richters beleidigend und Zeugnis von niedriger Gesinnung gewesen, urteilt Borschtschagowski (S. 270).
Nun war Swerdlow, gestorben 1919 im Alter von 33 Jahren unter mysteriösen Umständen, alles andere als ein Weiser im Geiste Salomos, und ob er sich der "bogolsbrannostj" seines Volkes (Gottes Auserwählung) zugehörig fühlte, ist nicht bekannt, dokumentarisch jedenfalls nicht belegt. In der Zeit zwischen Frühjahr 1917 und März 1919 war Swerdlow nach Lenin der einflußreichste Bolschewik. Als Lenin durch Revolverschüsse der jüdischen Sozialrevolutionärin Fanni Kaplan alias Roid schwer verwundet wurde, war Swerdlow über mehrere Wochen de facto das Oberhaupt des Sowjetstaates.
Seine Unterschrift steht unter dem Aufruf des Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitees vom September 1918, der den Roten Terror verkündete, den "schonungslosen massenhaften Terror gegen alle Feinde der Revolution". 1989 bezeichnete die Moskauer Zeitschrift Molodaja Gwardija (Junge Garde) Swerdlow als "Organisator der Massenrepressalien", als "Initiator der Entfesselung des Bürgerkrieges" (Nr. 10). Entfesselt hat er ihn wohl nicht, zum Bürgerkrieg wäre es so oder so gekommen, doch das Ausmaß und die Grausamkeit wären weit geringer gewesen, hätten nicht Exterminatoren wie Swerdlow das Sagen gehabt.
Eingegangen in die Geschichte ist diese Epoche als "Swerdlowschtschina". Sie stand im Zeichen der Bauern- und Kosakenverfolgung. Lange vor Jagoda und Jeschow praktizierte Swerdlow deren Genozidmethoden, lange vor dem GULag. Die Erschießung der "reichen" Kosakenführer im Zuge des Roten Terrors am Don ordnete Swerdlow am 24. Januar 1919 an. Nach Recherchen Iwanows befahl Swerdlow den "bestialischen Ritualmord der Zarenfamilie" in Jekaterinburg am 17. Juli 1918, organisiert von Schaja Goloschtschokin, der in den 30er Jahren "Kasachstan aushungerte".
Iwanow schreibt in "Logik des Alptraums": "Alexander Herzen entsetzte sich 1836 über einen sinnlosen Ukas bezüglich der Zigeuner, der ihn an 'biblische Berichte über die Auspeitschungen und Bestrafungen ganzer Stämme und aller an die Wand Pissenden' erinnerte. Swerdlow als Mann des jüdischen Glaubenskreises entsetzten derartige Berichte nicht, eher fühlte er sich von ihnen angeregt. (…) Swerdlow war, wie wir wissen, der zweite Mann hinter Lenin. Doch kein Ehrgeizling gibt sich mit dem zweiten Rang zufrieden, er will erster werden. Swerdlow aber trieb nicht nur der Ehrgeiz, sondern der hinter ihm stehende Clan, der an Rußlands Spitze nicht Lenin, 'einen Mann ungeklärten Blutes', um mit den Worten von Juri Kusnezow zu sprechen, sondern einen wirklichen 'judäischen Zaren' - den reinrassigen Juden Swerdlow - sehen wollte." (S. 34 ff.)
Daraus schlußfolgert Iwanow, daß die Fäden zum Lenin-Attentat Swerdlow gezogen hat. Eine Mutmaßung nur, historisch noch nicht nachgewiesen. Was außerhalb aller Mutmaßungen steht, ist die Tatsache, daß Swerdlow zu den ersten Fließbandmassenmördern gehörte, verzehrt von einem eliminatorischen Bauern- und Kosakenhaß.
Von der wahren Rolle eines Swerdlow wird der jüdische Erzähler David Bergelson vermutlich nichts gewußt haben, als er ihn als "Stolz des jüdischen Volkes" pries, den Bauernschlächter mit Salomo vergleichend. Bergelson wurde am 12. August 1952 in der Lubjanka erschossen.
Was nun die gängige Bezeichnung der Erschießung der Zarenfamilie angeht, so reflektiert sie zu wenig die Frage, ob ein solches religiöses Motiv bei säkularisierten Juden wie bei den jüdischen Bolschewiki noch angenommen werden kann.
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Revisionistischen Sprengstoff birgt Borschtschagowskis "Orden für einen Mord" in der Frage, wann und wo zuerst die Zahl "6 Millionen" genannt wurde. Stalin war es nicht. Schdanow nicht. Stalins Chefpropagandist während der Kriegszeit, der marxistische Philosoph Georgij Alexandrow, ZK-Kandidat, ebenfalls nicht. Wo tauchten die "6 Millionen" zum ersten Mal auf? 1946 in einem "Schwarzbuch", verfaßt in den Jahren 1942, 1943, 1944. Ein Gemeinschaftswerk des Jüdischen Antifaschistischen Komitees der UdSSR (JAFK), des jüdischen Weltkongresses, des Amerikanischen Komitees jüdischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, unter Beteiligung von Ilja Ehrenburg und Albert Einstein ("The Black Book. The Nazi Crime against the Jewish People". Published by The Jewish Black Book Committee, New York 1946).
Nach dem Startschuß zur antijüdischen Verfolgungskampagne 1948 wurde dieses Schwarzbuch dem JAFK als "Verbrechen" angelastet, es diente bei den Verhören und in den Anklageschriften als Beweis für "aggressiven jüdischen Nationalismus". Erst Ende Februar 1952 kümmerten sich die Ermittlungsrichter um eine formale Begutachtung des Schwarzbuches. Zu Gutachtern berufen wurden die Schriftstellerinnen Vera Staryzina und Elena Romanowa, eine Jüdin. Zu welchen Resultaten gelangten die Gutachterinnen? Wörtlich: "In der Konstruktion einer wiederholt betonten Sonderstellung der Juden, in ihrer Erhebung zu einer Extrakategorie, die in gewissem Maße in Gegensatz zu den anderen Völkern gebracht wird."
In den sowjetischen Ermittlungsakten, Band 25, Blatt 30 und 33, liest man: "Wiederholt nennen sie die Zahl von sechs Millionen, auf die sich ihren Angaben zufolge die jüdischen Opfer beziffern, wobei sie die Gesamtzahl der Opfer des Hitlerfaschismus vorsätzlich verschweigen… Sie beschränken sich ausschließlich auf eine bis in die kleinsten Details gehende Abhandlung von Gesetzen, Verordnungen und Restriktionen, die gegen die Juden gerichtet waren, ohne ein Wort über die ungeheuerlichen Verbrechen der Hitlerfaschisten gegen andere Völker zu verlieren."
Aus diesen Gutachtersätzen geht nicht eindeutig hervor, ob die in der amerikanischen Ausgabe genannte "Zahl von sechs Millionen" (Borschtschagowski) von den sowjetischen Behörden im Jahre 1952 als falsch, realistisch oder als Annahme eingestuft wurde. Unklar ist ferner, wann genau mit der Abfassung des Schwarzbuches begonnen wurde.
Die Initiative ging vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee aus, gegründet 1942 von sowjetischen Juden, um "der Sowjetunion, England und den USA bei der Niederwerfung Hitlers und anderer Faschisten zu helfen", wie die Iswestija am 24. April 1942 schrieb. Die prominentesten sowjetischen Juden gehörten ihm an. Eine Abordnung des Komitees hatte 1944 die USA besucht und bei den amerikanischen Juden 2 Millionen Dollar gesammelt, die sie der Sowjetregierung zur Verfügung stellte. Kommunismusforscher Borys Lewytzkyj: "Die Leistungen des Jüdischen Antifaschistischen Komitees während des Krieges waren ein wertvoller Beitrag zum Sieg der Alliierten." ("Vom Roten Teerror zur sozialistischen Gesetzlichkeit", München 1961, S. 171)
Für Borschtschagowski ist das Gutachten ein "Schmähpapier", in dem die "sechs Millionen" geleugnet und verleugnet werden. "Für die im Schwarzbuch genannte Zahl von sechs Millionen in Europa ermordeter Juden haben die Rechtsgelehrten der Lubjanka und deren Konsultanten nur Spott und Hohn übrig", empört sich der Autor.
"Fasele nicht von sechs Millionen, wenn du die Toten nicht persönlich gezählt hast; nerve die Menschheit nicht mit nazistischen Judengesetzen, wenn die nicht auch Hunderte anderer Anweisungen und Verordnungen nennst! Und all das ist unterschrieben von einer Frau mit den melancholischen Augen einer Jüdin (oder Zigeunerin?) - von Jelena Sergejewna Romanowa, langjährige Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes, verantwortliche Sekretärin seiner Auslandskommission, Konsultantin für amerikanische Literatur!" (S. 307f.)
Über judenfeindliche Pogrome zur Stalinzeit wird heute in Rußland in Büchern und Pressebeiträgen ausführlich berichtet, wobei die mehrmals erwähnte Literaturnaja Gaseta die Rolle des Eisbrechers übernommen hat. Unter der Sonne eines Revisionismusfrühlings schmilzt das Packeis der Lügen. In der Ausgabe vom 28. Januar 1998 schildert der jüdische Publizist W, Radsischewski - früher Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Stoliza (Die Metropole) - bislang Unbekanntes über die Hintergründe der Ermordung von Solomon ("Schlomo") Michoels am 13. Januar 1948 in Minsk. Er war Präsident des von ihm gegründeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Schauspieler und Regisseur, Volkskünstler der UdSSR und Leninpreisträger, ab 1929 künstlerischer Leiter des Staatlichen Jiddischen Theaters in Moskau. Ähnlich wie einst der Leibwächter Kirows starb Michoels bei einem von der Geheimpolizei arrangierten Autounfall. Auch hier war er der einzige Tote, und die Schuldigen, vom KGB gedeckt, blieben natürlich unauffindbar.
Bald darauf war der Teufel los. Alle Führungsmitglieder des Komitees, mit Ausnahme Ilja Ehrenburgs, wurden verhaftet, jahrelang gefoltert, dann erschossen. Ein im November 1952 "aufgedeckter" Mordanschlag gegen Stalin und die Kremlführung brachte die antijüdische Pogromhysterie auf den Siedepunkt. Die darin verwickelten "Kremlärzte" sollten, so sah es die KGB-Regie vor, nach einem kurzen Tribunal Öffentlich auf dem Roten Platz gehängt werden. Täglich wurden die vierzehn Ärzte - elf von ihnen waren Juden - in der Prawda als "Mörder in weißen Kitteln'', "Bestien in Menschengestalt", "Agenten des Zionismus", "entwurzelte Kosmopoliten" angeprangert.
Chruschtschow zufolge, sollen regelrechte Pogrome in sowjetischen Fabriken vorbereitet worden sein, man habe sogar die Deportation der großstädtischen jüdischen Bevölkerung geplant. In seinen Memoiren erwähnt NKWD-Generalleutnant P. Sudoplatow - während des Krieges in der sowjetischen Gegenspionage aktiv - einen Stalin-Befehl aus dem Jahre 1947, der allen Sicherheitsorganen strengstens verbot, Juden zu Kaderoffizieren zu befördern (Raswedka Z' Kremlj", Moskau 1996, S. 347).
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Aus allerjüngster Zeit stammt das Werk "Stalinism i woina" ("Stalinismus und der Krieg"). Wer heute noch behauptet, meinen die Autoren, Hitler sei es im Krieg um die Lösung der Judenfrage gegangen, gehe noch nach fünfzig Jahren "den Faschisten auf den Leim". Zwar habe deren Propaganda die Sowjetunion als "jüdisch-bolschewistischen Feind" und die Millionen Juden in Westrußland als "biologische Basis des bolschewistischen Regimes" dargestellt, doch in der Realität sei die neue Machtbasis Stalins nicht- beziehungsweise antijüdisch gewesen. Unbestritten sei, daß die Oktoberrevolution "verhältnismäßig viele Juden" in führende Positionen gebracht habe, darunter die nächsten Mitarbeiter Lenins - Trotzki, Sinowjew, Kamenjew. In der Großen Säuberung die prominentesten Opfer Stalins.
Die Autoren A. Merzalow und L. Merzalowa schreiben: "Während des Krieges hatte Stalin bereits die meisten Juden aus den Führungspositionen entfernt. Das 1981 von A. Abramowitsch in Israel herausgegebene Buch 'Im Entscheidungskrieg' hat die Rolle der sowjetischen Juden im Krieg - entgegen der Absicht des Autors - nicht belegen können. Ein unwissenschaftliches Werk!"
Hitlers Anfangserfolge nach dem 22. Juni habe ihm Stalin "geschenkt", behaupten die eben genannten Historiker. Ihre Begründung: zum einen habe der sowjetische Diktator Deutschland für schwach gehalten, um einen Krieg gegen die UdSSR zu führen, zum anderen sei der Kommandobestand der Roten Armee zwischen 1936 und 1938 durch "politische Massenmorde" dezimiert worden. Stalins Vorkriegspolitik sei von Irrtümern und Fehleinschätzungen gekennzeichnet gewesen. Das Buch, 432 Seiten stark, kam im Sommer 1998 im Moskauer TERRA-Buchklub heraus.
"In diesem Buch der bekannten russischen Historiker Merzalow werden die Ergebnisse mehrjähriger Forschungen über den Zweiten Weltkrieg dargestellt", begründet der Verlag seine sensationelle Veröffentlichung. "Worin bestehen das Wesen, die Besonderheiten und Folgen des Stalinismus? Wie hat der Stalinismus zur Entstehung des Krieges beigetragen, wie ist 1941 seine selbstmörderische Diplomatie und Strategie zusammengebrochen? Was ist charakteristisch für Stalins Art der Kriegführung, wie hoch war der Preis des Sieges, wie haben Stalin und seine Erben die falschen Vorstellungen vom Kriege, die bis heute in Umlauf sind, formuliert?"
In Kapitel III wird nach "Stalins Preis des Sieges" gefragt. Rund 30 Millionen Menschen wurden während des Krieges zur Roten Armee eingezogen; am Ende zählte man 27 Millionen Gefallene - die höchsten Verluste, die je ein Land im Laufe eines Krieges zu beklagen hatte. Wie ist zu erklären? Für die Autoren steht fest, daß "das Besondere" der Stalinschen Kriegführung an diesem geschichtlich einmaligen Aderlaß die Schuld trägt. Für "das Besondere" verwenden die Autoren auch die Begriffe Barbarei und Zynismus. Eine Feststellung, die in keiner Weise die persönliche Tapferkeit und Hingabebereitschaft der Rotarmisten zu schmälern vermag.
Stalins Kriegsführung zeichnete sich durch vier Faktoren aus, begründet im persönlichen Charakter des Diktators und in der bolschewistischen Ideologie: Absolute Menschenverachtung, Brutalität gegenüber dem Gegner und der eigenen Bevölkerung, schonungslose Ausbeutung des lebenden Potentials, Grausamkeit als Prinzip der Truppenführung bei Verteidigung und Angriff. Stalin führte einen Vernichtungskrieg nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen.
Die Autoren verstehen sich keineswegs als Apologeten eines Hitler, dem sie gleichfalls Brutalität bescheinigen. Stalin habe einmal gesagt, daß der Hauptgrund "unserer gewaltigen Verluste" die Härte des Kampfes mit dem Aggressor gewesen sei schreiben die Autoren. "Härte bei Kampfhandlungen ist aber eine Waffe beider Seiten. Warum brachte sie der UdSSR solche Verluste, nicht aber Deutschland?"
Die Merzalows zitieren den Schriftsteller Kondratjew, der 1990 bemerkt hatte: "Die Deutschen kämpfen umsichtig, sie sind bestrebt, unnötige Opfer zu vermeiden." Urteile wie diese seien den sowjetischen Historikern verboten gewesen. Warum? "Stalin war am Preis des Sieges wenig interessiert", urteilen die Merzalows. "Wichtig war ihm nur das Resultat. Der Woschdj und seine Berater gingen davon aus, daß die sowjetischen Ressourcen an Menschen und Material unerschöpflich sind, darum war ihnen eine Wertschätzung des Lebens von Soldaten und Offizieren fremd."
An anderer Stelle zitieren die Merzalows die Sowjethistoriker Geller und Nekritsch, die zu fast gleichlautenden Feststellungen über das ungeheure Ausmaß von Menschenverachtung und Menschenvernichtung gelangen. Sie bekräftigen die Tatsache, daß das menschliche Leben in der UdSSR nicht eine Kopeke wert war - niedriger als die Produktionskosten für eine Kalaschnikow-Patrone. Sowjetische Kommandeure hätten keinen Gedanken daran verschwendet, unnötige Opfer zu vermeiden, im Gegenteil, skrupellos hätten sie die Untergebenen zur Schlachtbank getrieben. Kanonenfutter, Panzerfleisch, Minenräumknochen.
Als Beispiele eines steinzeitlichen Denkens nennen die Merzalows den Sturm auf Berlin und die Weichsel-Offensive zwischen dem 12. und 14. Januar 1945. In beiden Fällen seien die Menschenverluste der Roten Armee sehr hoch gewesen. Beim Ausbruch aus den Weichsel-Brückenköpfen wären die Vorbereitungen weder organisatorisch noch personell abgeschlossen gewesen. Beim Sturm auf Berlin, verteidigt von einer hundertfach unterlegenen deutschen Truppe, mobilisierte Marschall Schukow 2,5 Millionen Mann - und erlitt, gemessen an Menschenopfern, die nach Kiew und Brjansk größten Verluste. Das war ihm jedoch gleichgültig, hatte doch Stalin befohlen, auf das eigene Menschenpotential keine Rücksicht zu nehmen.
Ein düsteres Kapitel ist die Behandlung der "Deserteure" (S. 370). Stalins Ukas Nr. 227 vom 28. Juli 1942 ordnete die sofortige Erschießung von Rotarmisten an, vom Rekruten bis zum Kommandeur, die der Panikmache oder Befehlsverweigerung verdächtig waren. Im Verlaufe des Krieges wurden 158.000 Rotarmisten exekutiert, in Strafbataillonen dienten 400.000 Mann.
Erstmals in der russischen Geschichtsschreibung wird hier die von Stalin inspirierte Opferaufrechnung aufgedeckt. Die Merzalows sprechen von einer bis heute fortlebenden "Stalinschen Falsifikation". Die eigenen Opfer zahlenmäßig zu verkleinern, die des Gegners ins Gigantische zu vergrößern: das A und O der Stalinschen Agitprop-Arithmetik. In Wirklichkeit sei es anders gewesen: Entsetzlich hohe Opfer der eigenen Seite im Verhältnis zu den geringeren Verlusten des Feindes. Während die Wehrmacht an der Ostfront 1,5 Millionen Soldaten verloren habe, betrage die Gefallenenzahl auf sowjetischer Seite ca. 20 Millionen (S. 380 f.). Jurij Geller würde von einer vierzehnfach höheren Verlustrate der Roten Armee ausgehen.
Stalins Siegesstrategie habe darin bestanden, die Lehren und Maximen klassischer Militärstrategen auf den Kopf zu stellen. Alle großen Feldherren wären bestrebt gewesen, ihre Entscheidungsschlachten mit einem Minimum vergossenen Blutes der eigenen Truppen zu erzielen. So Kutusow, der sich bei Borodino zurückzog, um seine Armee zu retten. Zitiert werden von den Merzalows Karl V. ("der Ruhm eines Feldherrn gründet sich nicht auf die Zahl der Getöteten, sondern die der Gefangenen") und sehr ausführlich Clausewitz. Stalin jedoch sei den anderen Weg gegangen, den der Attila, Dschingis Chan, Timur ("Geißeln der Menschheit"), indem er "maßlose" Todesopfer in Kauf genommen habe, um ein politisches Resultat zu erzielen. "Der Preis des Sieges, das ist die Schlüsselfrage der Kriegsgeschichte."
Was die Merzalows gegen die sowjetische wie auch nachsowjetische Historiographie vorbringen, gipfelt in Anklagen. Kernpunkten:
1) Die Menschenverluste im Bürgerkrieg hat man von offizieller Seite nicht erforscht. Im Unterschied zu "ideologisierten Historikern" (Merzalow) beziffern nonkonformistische Historiker - wie Geller - die Vernichteten zwischen 1917 und 1950 auf 90 Millionen Menschen. "Ich berechne unsere Verluste auf hundert Millionen Menschen", schrieb bereits 1991 der Historiker und Schriftsteller A. Rybakow, hervorgehoben von den Merzalows auf S. 390.
2) Bis heute herrscht Schweigen über das Ausmaß des antistalinistischen Widerstandes unter den sowjetischen Kriegsgefangenen. Von 5,7 Millionen haben mehr als 1,1 Millionen freiwillig gegen die Rote Armee gekämpft, ca. 1 Million diente als "Hilfswillige" in der Wehrmacht (S. 3 82).
3) Die Sterberate unter den deutschen Kriegsgefangenen war ungeheuerlich, was ebenfalls verschwiegen wird. Von ca. 3 Millionen krepierten 1,180 000 in den Lagern, das sind 38 Prozent.
4) Hitlers "Kommissarbefehl" wurde von vielen deutschen Frontkommandeuren nicht befolgt, was im Mai 1942 zu seiner Aufhebung führte.
5) In der Winterschlacht vor Moskau 1942/43 verlor die Zentralfront der Roten Armee dreimal mehr an Soldaten als die in die Defensive gedrängte Wehrmacht.
6) Bei Kriegsbeginn besaßen nicht alle Rotarmisten die obligatorischen Erkennungsmarken, und mit dem Prikas Nr. 138 vom 15. März 1942 wurden sie gänzlich abgeschafft. Eine namentliche Auflistung der Gefallenen war nicht möglich. Mit dem amtlichen Vermerk "Verschollen" oder "Vermißt" ("bes westi propawschije") verschwanden Millionen von Toten in der Anonymität.
7) Stalins persönliche Angaben über die Verluste der Deutschen im ersten Kriegsjahr hatten keinen Bezug zur Realität, sie dienten der Desinformierung der eigenen Armeen. Am 3. Juli 1941 prahlte Stalin mit der Vernichtung der "besten Divisionen des Feindes"", am 6. November 1941 behauptete er, die Wehrmacht wäre am Ausbluten, sie hätte bis jetzt 4,5 Millionen Tote zu beklagen.
8) Am 15. März 1945 nannte Stalin in einem Prawda-Interview sieben Millionen Menschenverluste auf eigener Seite, wobei er keinen Unterschied zwischen Armee und Zivilbevölkerung machte. Er sprach auch nicht von "Gefallenen", sondern gebrauchte den verschleiernden Terminus "beswoswratno poterianije". Ein makabrer Begriff. Er bedeutet: Nicht-Heimgekehrte ...
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"Pharisäertum", "kolossale Falsifikationen", "staatliches organisiertes System der Lüge", so kennzeichnen die Merzalows Stalins Aufrechnungszahlen. In Wirklichkeit verlor die UdSSR nicht sieben, sondern mindestens siebenundzwanzig Millionen - nur an Toten, ohne Berücksichtigung der Verwundeten, Verhungerten, tatsächlich Verschollenen (S. 374). "Aber auch bei 'nur' sieben Millionen würde das heißen, daß die Verluste der Sowjetunion um einige Male höher gelegen haben als die Zahl der Gefallenen auf amerikanischer und englischer Seite zusammen!"
Verschweigen, fälschen, irreführen, die Methoden Stalins. Auch nach dem Tod des Diktators hielt man daran fest. "1990 beschrieb die Armeezeitung Roter Stern die Verluste der Wehrmacht während der Kesselschlacht von Sewastopol 1942. Aber wie hoch waren die Verluste der Roten Armee in diesen schrecklichen 250 Tagender Blockade, wie viele Menschen schickte die Stalinsche Führung zum Abschlachten in die umzingelte Stadt? Bis auf den heutigen Tag wird hinausposaunt, daß die Wehrmacht im Kampf gegen die Sowjetpartisanen ca. eine Million Soldaten verloren habe; aber wie hoch war die Zahl der getöteten Partisanen?" (S. 377)
Der Preis des Sieges, für slawische Intellektuelle vor allem eine Frage der Solidarität mit den Toten. Die Merzalows zitieren aus dem Tagebuch des berühmten sowjetukrainischen Filmregisseurs Alexander Dowsdienko (1894-1956), Augenzeuge der Siegesparade am 25. Juni 1945 in Moskau. Dowschenko notierte: "Die Rede Schukows, sie kannte keine Pause, kein ehrfurchtsvolles Schweigen, keinen Trauermarsch, als ob die Millionen Opfer niemals gelebt hätten. Vor dem vergossenen Blut, dem unvorstellbaren Leiden fielen die Menschen auf dem Roten Platz nicht auf die Knie, kein Aufstöhnen, sie haben nicht einmal die Köpfe entblößt … ja, wir haben keine Kultur des Lebens gekannt, und wir kennen auch keine Kultur des Krieges." (S. 373).
Auch die übrigen Buch-Kapitel enthalten brisante Entdeckungen, Sprengstoff zur Fortsetzung des Historikerstreits. So bestätigen die Merzalows die Authentizität der Stalin-Rede vom 19. August 1939. (In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 16. Juli 1998 nennt Ekkehard Böhm diese Rede eine "Fälschung".) Die russischen Historiker stellen fest: "Am 19. August 1939 hat Stalin auf einer Sitzung der Parteiführer und der Komintern folgendes gesagt: 'Zwei Möglichkeiten des Kriegsausgangs - Sieg oder Niederlage Deutschlands.' Als Begründung für den Pakt mit Hitler sagte der Woschdj: 'Es muß im Interesse der Erschöpfung beider Seiten alles getan werden, damit der Krieg möglichst lange dauert. Der Sieg der bolschewistischen Partei in Europa sei nur möglich im Ergebnis eines großes Krieges'. Das alles und die Thesen über die Sowjetisierung Deutschlands und Frankreichs sind bereits 1924 aus verschiedenen Reden Stalins bekannt… Stalin wollte der lachende Dritte sein."
Im Beisein Stalins wird der Pakt mit Hitler unterzeichnet; im Anschluß daran sagte Stalin, er habe Hitler um "den kleinen Finger gewickelt". Am 23. August 1939 bezeichnete Stalin die Westmächte als Aggressoren, die faschistischen Staaten aber als friedliebend. Dazu die Merzalows: "Diese Widersprüche sind in der russischen offiziellen Historiographie bis heute nicht geklärt." Nur soviel sei klar: Stalins Methode habe darin bestanden, seine jeweiligen Gegner durch die Hände anderer vernichten zu lassen.
Viele Autoren im In- und Ausland würden dazu neigen, die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg auch der Sowjetunion aufzuerlegen. "Manche Worte und Taten Stalins verleihen dieser Version zumindest Glaubwürdigkeit." Es sei auf jeden Fall historisch falsch, versichern die Autoren, allein dem Dritten Reich die Verantwortung für die Kriegsentfesselung 1939 und 1941 zu geben. Es könne als bewiesen gelten, schlußfolgern die Merzalows, daß Stalin bei weitem nicht alles getan hat, um den Krieg zu verhindern: "Es gibt ernsthafte Zweifel, ob er überhaupt den Krieg verhindern wollte."
Von Anfang an, lange vor Hitlers Machtübernahme, habe Stalin einen neuen Weltkrieg einkalkuliert. 1929, bei der "Entlarvung Sinowjews'', habe er von der "Unausweichlichkeit" eines neuen Krieges gesprochen. Nach Ansicht Stalins bestand die Schuld Sinowjews darin, nur auf die "Möglichkeit" eines neuen Krieges zu setzen; Stalin hingegen wollte ihn. Der "neue Krieg", Stalins strategische Vision. Die Industrialisierung - damit der Untergang von "Millionen Menschen" - habe diesem Ziel gedient. Aufrüstung. Gigantische Erfolge seien durch "räuberische Ausbeutung" erzwungen worden. "Stalins Strategie: Wenn der Krieg beginnt, dürfen wir die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen als letzte eintreten."
Widerlegt wird von den Verfassern eine Kardinalthese der Heer und Reemtsma, wonach die Wehrmacht und das deutsche Volk aggressiv, kriegslüstern, slawenfeindlich gewesen wären. Das Gegenargument der russischen Historiker: Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg gab es zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Deutschland keinen Enthusiasmus. Auch im Juni 1941 nicht. Man erinnerte sich an den Rat Bismarcks, mit diesem würdigen Gegner keinen Krieg zu führen. Nach neuesten Forschungen war die Mehrheit der Deutschen von Hitlers Sendung nicht überzeugt und eher passiv eingestellt.
Im ersten Teil des Buches beschäftigen sich die russischen Historiker mit der "besonderen" inneren Struktur des Dritten Reiches. "Die NSDAP hatte in Deutschland - aus eigenem Interesse - die verschiedensten Formen von Eigentum und die grundlegenden sozialen Strukturen belassen." Im Verlaufe der zwölf Diktaturjahre hätten die NS-Behörden keinerlei soziale Konflikte zugelassen, wobei sie nicht nur "mit der Knute gewirkt haben". Den November 1918 hätten die Nationalsozialisten ständig vor Augen gehabt. Andererseits wären sie nicht immer konsequent gewesen, gemessen an der Stalinschen Diktaturpraxis: "Den Großteil ihrer verhafteten Gegner, darunter auch Kommunisten, haben sie nicht umgebracht." Ab 1942 sei auch die aus ideologischen Gründen erfolgte Tötung sowjetischer Kriegsgefangener eingestellt worden; man habe sie bei der Arbeit eingesetzt.
Im Zusammenhang mit dem in Rußland frei erhältlichen Buch "Mein Kampf" sollte man dem Leser auch späteres Material über den "reifen" Nationalsozialismus anbieten, denn Hitler habe sein Buch zu Beginn seiner Parteikarriere geschrieben, meinen die Merzalows. Bis heute schreibe man in Rußland vom "verrückten Führer", aber Hitler und seine Gruppe hätten die "geistigen und materiellen Kräfte Deutschlands überaus klug und zielführend organisiert". Sie hätten es fertiggebracht, "eine mächtige Armee aufzustellen, fast ganz Europa - mit wenig Blut - zu erobern, der Sowjetunion schreckliche Verluste zuzufügen". Jenem Land, dessen Führer am 6. November 1941 einen aus heutiger Sicht ketzerischen, um nicht zu sagen volksverhetzerischen Unterschied zwischen Nationalismus und Imperialismus traf, indem er feststellte: "Die Hitleristen sind jetzt nicht mehr Nationalisten, sondern Imperialisten. Als sie deutsches Land sammelten, das Rheinland besetzten, Österreich heimführten usw. konnte man sie aus gutem Grund noch für Nationalisten halten. Nach der Besetzung fremden Territoriums und dem Streben nach Weltherrschaft wurde die Hitlerpartei imperialistisch."
Stalin am 6. November 1941, eingegangen in die Geschichte als siegreicher Imperialist.
Quelle: Staatsbriefe 9(9) (1998), S. 19-26.