HANS-JOACHIM WINTER / EINE SEHR PERSÖNLICHE WÜRDIGUNG DES REICHSKANZLERS BISMARCK

Der 100. Todestag Bismarcks hat mäßige Geschäftigkeit ausgelöst. Doch zumindest sind einige Bücher, Biographien usw. erschienen, und man darf wohl im Blick auf den 30.Jull 1998 auch auf diesen und jenen größeren Beitrag in den hiesigen Blättern gefaßt sein - immerhin fällt dieses Datum in die Spanne des Zeitungs-Sommerlochs, und da sind hübsche Betrachtungen - in diesem Falle natürlich kritische - geeignet, den Platz zu füllen. Und es dürfte sich dabei vorwiegend um Darstellungen handeln, die den engen Boden der hierzulande üblichen Sicht der deutschen Geschichte kaum sprengen, also so interessant nicht sein werden.

Was freilich nicht passieren wird, ist die wirkliche und würdige Erinnerung des heutigen offiziellen Deutschlands an den Reichsgründer und Staatsmann Bismarck, der auch, ja gerade heute Richtungsweisendes zu sagen hätte. Wen wundert's - ein solches Gedenken müßte den heutigen Deutschen - beileibe nicht nur ihren offiziellen Repräsentanten - die Schamröte ins Gesicht treiben darüber, wie sie dieses historische Erbe vertun.

Meine persönliche Beziehung zu Bismarck ist seit der Kindheit gewachsen, seit den ersten Nachkriegsjahren. Jahrgang 1939 und Schüler einer durchschnittlichen Grundschule in zum sowjetisch besetzten Teil Deutschlands gehörenden Frankfurt an der Oder, habe ich das Defizit der dort nur sehr einseitig vermittelten Kenntnisse zur Geschichte unseres deutschen Volkes in der Bücherstube meines Großvaters ausgeglichen. Was ich hier fand, war das Bildungsgut der deutschen Familie, noch unbeeinflußt von Ideologien, von Krieg und vor allem vom Nachkrieg mit seinem Verlust jedweden deutschen Selbstbewußtseins. Und was ich hier über die Geschichte unseres Volkes las, kontrastierte doch recht seltsam mit der Realität, die ich beim Blick aus dem Fenster wahrnehmen konnte: Das unbekümmerte Lärmen russischer Soldaten in der gegenüberliegenden Artilleriekaserne, deren bloße Anwesenheit in einer deutschen Stadt und einer deutschen Kaserne (nebst der "angegliederten" zivilen Wohngebäude, in Frankfurt waren das meist ganze Wohnviertel) der Phantasie eines Schülers viel abverlangte, um sich vorzustellen, daß es einmal ein freies, einiges Deutschland gab.

Ich entstamme einer Familie, die im alten Preußen zu Hause war und seit Generationen Offiziere stellte; mein Vater war noch 1945 im Kriege geblieben, sein Bruder hütete sich nach schikanöser britischer Gefangenschaft, wieder in die Heimat, den Bereich der sowjetischen Administration zurückzukehren, wohl mit Recht, denn das Schicksal seines Schwagers wäre auch ihm kaum erspart geblieben: erneute Inhaftierung und Verschleppung nach Rußland ohne Wiederkehr.

Mein Großvater war bereits Ende 1943 als Major der Luftwaffe aus dem Dienst geschieden. Sein Regimentskommandeur in Anklam hatte mit Unverständnis auf die von meinem Großvater ausgesprochene Überzeugung reagiert, daß zu diesem Zeitpunkt der Krieg wegen des physischen und technischen Kräfteungleichgewichtes nicht mehr zu gewinnen sei; bezeichnender Weise für den Geist in der deutschen Wehrmacht hat er ihn nicht denunziert, sondern für seine rasche Versetzung in den Ruhestand gesorgt.

Vertrieben aus dem heimatlichen Anwesen jenseits der Oder, die Lebenden (und die Toten, mein Vater liegt in Esztergom) in alle Winde verstreut, die ältere Generation bereits die Folgen des zweiten verlorenen Krieges tragend - dies etwa waren die Gesprächsthemen im Familienkreis um meine Großeltern, und dies war die Atmosphäre, in der ich aufwuchs und nach einem geistigen Fundament suchte.

Zwei Charaktergestalten unserer Geschichte wurden mir schon als Junge wichtig und blieben es bis heute hin: Luther und Bismarck, für mich die größten Deutschen überhaupt.

Es wäre durchaus von Interesse und eine eigene Untersuchung wert, beide einmal zu vergleichen. In der Tat bestehen zwischen ihnen bis hin zu ihrem Persönlichkeitsbild, jedes geformt in seiner Zeit und mit deren spezifischen Zügen, frappierende Ähnlichkeiten. Und beider Wirken ist für die Geschichte wie für das Geschick unseres deutschen Volkes je für sich von überragender Bedeutung, beide waren - um es mit einem Wort von Friedrich Engels zu sagen - "im Angelpunkt der deutschen Geschichte" tätig. Für die Herausbildung der deutschen Nation hat Luther mit der Emanzipation von der geistigen Dominanz durch Rom (in Überwindung der Pervertierung des Heiligen Römischen Reiches) ebenso wie mit der Bibelübersetzung als Grundlage für die Entwicklung der einheitlichen deutschen Schriftsprache und Kultur Einmaliges geleistet wie in gleicher Weise dann 350 Jahre später Bismarck für die Staatlichkeit der Deutschen mit der Gründung des Deutschen Reiches. Und gerade die Persönlichkeit beider hat mich seit jeher angezogen, im Blick auf Bismarck wohl noch mehr, weil er uns zeitlich näher steht.

Folgt man freilich den heutigen Bismarck-Biographen (von Gall bis Krockow) und mißt die Lebensleistung Bismarcks an unseren heutigen nationalen wie individuellen "Befindlichkeiten", so geht man in der Regel am Ziel vorbei. Lothar Gall schoß in seiner Biographie von 1980 einen kolossalen Bock, der ihn als Biographen wie als Historiker eigentlich disqualifizierte, als er den "kleindeutschen Nationalstaat" als gescheitert, das "Reich von 1871 ... als extrem unstabiles und kurzlebiges historisches Gebilde"[1] bezeichnete - die Teilrenaissance von 1990 hatte er, wie freilich viele andere auch, zehn Jahre vorher schon nicht mehr für möglich gehalten.

Einem Historiker hätte allerdings bereits die Tatsache, daß dieser deutsche Nationalstaat nach 1918 nicht auseinandergebrochen war, als Indiz für die Stabilität des Bismarck'schen Werkes gelten müssen - von den damaligen Siegern wäre jede Separation gefördert und ist ja in der Tat der damals fast vollzogene Eintritt der Austrodeutschen nur mit striktem Verbot verhindert worden.

Am 9. November 1989 aber wurde vor aller Welt offenkundig: Auch nach dem zweiten verlorenen und verheerenden Weltkrieg und nach über vier Jahrzehnten erzwungener Trennung war der Wille der Deutschen, in Einheit und Freiheit zusammenzuleben, ungebrochen geblieben!

Ein besserer Ratgeber, um Kriterien für die historische Bedeutsamkeit eines Mannes wie Bismarck zu finden, scheint mir da immer noch Friedrich Engels zu sein: Im "Angelpunkt der deutschen Geschichte", also in einer einzigartigen Situation mit einmaligen Herausforderungen gewirkt zu haben und danach befragt zu werden, wie er - in allen Grenzen menschlichen Vermögens - diesen Ansprüchen gerecht wurde. So sehe ich Bismarck: im Bestehen vor diesen Fragen liegt seine Größe als Mensch und als Staatsmann.

MENSCH UND STAATSMANN

Wenn wir uns dem Menschen Otto von Bismarck nähern wollen, spielt da bereits die Geschichte seiner Familie mit - Bismarck ist sich ihrer immer bewußt geblieben, hat zuweilen auch in diplomatischer Korrespondenz darauf zurückgegriffen, im Briefwechsel mit König Ludwig II. beispielsweise, wenn er da von dankbaren Erinnerungen seines Geschlechtes an die Zeit der Wittelsbacher Markgrafen in Brandenburg schrieb. Sein Geburtsort Schönhausen liegt bei Stendal in der Altmark, die schon in askanischer Zeit zur Mark Brandenburg gehörte, seit 1815 aber zur Provinz Sachsen.[2]

Bismarck selbst ist sich über die moderneren Landes- und Gebietsbezeichnungen hinaus immer auch der traditionellen Stammeseintellungen und Reichskreise bewußt gewesen[3] und fühlte in sich keinen Widerspruch als Preuße und als "Sachse"; in seinem Gedicht "Wo Bismarck liegen soll" bringt Fontane das ganz zutreffend zum Ausdruck: "Widukind lädt ihn zu sich ein: 'Ein Sachse war er, drum ist er mein, im Sachsenwald soll er begraben sein'."

Waren die Bismarcks alteingesessener Adel noch aus der Zeit vor der Belehnung des ersten Hohenzollern mit der Mark Brandenburg, so war Otto von Bismarcks Mutter Wilhelmine Luise eine Tochter des bekannten Königlichen Kabinettsrates Ludwig Mencken, der noch unter Friedrich dem Großen Kabinettsekretär im Auswärtigen gewesen war - vielleicht war es ein großväterliches Erbe, daß Bismark gerade in der Außenpolitik seine ganze Virtuosität entfaltete.

Aufschluß über den Menschen Otto von Bismarck gibt uns auch der Ehemann, soweit er sich Außenstehenden erschließt. Bismarck als Ehegatte war der Prototyp des konservativen Preußen, für den die Ehe zu den Konstanten des Lebens gehört, in einem uneingeschränkten Vertrauen wurzelt, auf absoluter Zuverlässigkeit beruht - und so Halt, Geborgenheit bietet, Kraftquell ist für schöpferisches Wirken. (Der Briefwechsel Bismarcks mit seiner Frau sei jedem zur Lektüre empfohlen, der von der heute als normal geltenden laxen Ehemoral angewidert ist.) Bismarck heiratete am 28. Juli 1847 Johanna von Puttkammer, die er in seinem pommerschen pietistischen Freundeskreis kennengelernt hatte.

Dies macht eine Bemerkung zur religiösen Haltung Bismarcks nötig, einem nicht eben unwichtigen Punkt in bezug auf den Menschen wie auf den Staatsmann. In seinem Werbebrief vom 21. Dezember 1846 hatte er seinem künftigen Schwiegervater seine eigene religiöse Entwicklung auseinandergesetzt, vom "nackten Deismus" und der "Sackgasse des Zweifels" während der Studienjahre, von ruheloser und unbefriedigter Selbstbesinnung und "trostloser Niedergeschlagenheit" bis hin zu der Nachricht von der tödlichen Erkrankung einer jungen Frau aus seinem pommerschen Freundeskreis, Marie von Blanckenburg, die ihn zutiefst erschütterte und ihn das Beten lehrte; seitdem könne er Gott täglich mit bußfertigem Herzen bitten, "in mir den Glauben zu wecken und zu stärken". Und noch am 14.2.1886 erklärte Bismarck im Preußischen Staatsministerium: "Ich bin ein bibelgläubiger Christ", und er meinte es damit zweifellos ernst.

Er las zum Beispiel täglich die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeinde und versah sie mit Notizen, die deutliche Aufschlüsse über den praktizierenden Christen Otto von Bismarck geben. Bismarck war Christ, sicher kein Frömmler, aber er wußte sein Leben in Gottes Hand und sein Tun in der Verantwortung vor Gott. Sein in der Bibel wurzelnder Glaube war es, der ihn in seiner Rede am 20. Januar 1887 im Reichstag das berühmte, vielzitierte Wort sagen ließ: "Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt", dem nämlich der weniger zitierte und daher kaum bekannte, aber für Bismarck und auch für seine Politik einfach dazugehörige Nachsatz folgte: "und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt".

Wie aber geht dies zusammen mit seiner Politik der Reichseinigung, der er in einem "Kampf, der nur durch Eisen und Blut erledigt werden könne" (in: "Gedanken und Erinnerungen") zustrebte und auf derem Weg drei Kriege geführt werden mußten?

Zunächst können wir Bismarck nicht zumuten, in seiner Zeit anders gedacht und gehandelt und Politik gemacht zu haben als nach den in eben jener Zeit allgemein geltenden Grundsätzen; der Krieg, auch der bewußt zur Erreichung eines Zieles geführte Krieg war zu jener Zeit ein legitimes Mittel der Politik. Einem festen und starken Glauben entsprach bei Bismarck kraftvolles und unbeirrtes Handeln, nicht wie heute eine saft- und kraftlose Denkweise und ein auf die Spitze getriebener Kult der Gewaltlosigkeit. Allerdings hat er in seiner Rede am 3. Dezember 1850 im Preußischen Landtag, als es um die Frage ging, die von Preußen angestrebte Unions-Verfassung für Deutschland notfalls auch mit den Waffen durchzusetzen, gesagt: "Es ist leicht für einen Staatsmann, sei es im Kabinette oder in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu halten, und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg oder Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist."[4]

Es war schon für den 35jährigen Bismarck am Beginn seines Weges völlig klar, daß Kriege politisch vernünftig und verantwortbar sein müssen. Und dies hatte durchaus auch mit seinem Gewissen als Mensch, als Christ zu tun. "Ich habe auf dem Schlachtfelde, und was noch weit schlimmer ist, in den Lazaretten die Blüte unserer Jugend dahinraffen sehen durch Wunden und Krankheit, ich sehe jetzt aus diesem Fenster gar manchen Krüppel auf der Wilhelmstraße geben, der heraufsieht und bei sich wohl denkt 'wäre nicht der Mann da oben, und hätte er nicht den bösen Krieg gemacht, ich säße jetzt gesund bei Muttern.' Ich würde mit diesen Erinnerungen und bei diesem Anblick keine ruhige Stunde haben, wenn ich mir vorzuwerfen hätte, den Krieg leichtsinnig oder aus Ehrgeiz oder aus eitler Ruhmsucht für die Nation gemacht zu haben." So schrieb Bismarck 1867 an den freikonservativen Abgeordneten Grafen Bethusi-Huc, ein Jahr nach dem preußisch-österreichischen Krieg, in dem allein in der Entscheidungsschlacht von Königgrätz 44 000 Österreichische und sächsische Soldaten und auf preußischer Seite mehr als 9 000 Mann gefallen waren oder schwer verwundet wurden. Dieser als "deutscher Bruderkrieg" alles andere als populäre Krieg war - weil Bismarck keine andere Möglichkeit mehr sah - ein planvoll auf dem Weg zur deutschen Einheit getaner Schritt.

Bismarck stellt in "Gedanken und Erinnerungen" bei Betrachtungen über die Entwicklung seiner Politik gegenüber Österreich heraus, daß er eine Besserung der Beziehungen zueinander und ihres Verhältnisses zum übrigen Deutschland zunächst (1862) versucht habe, was "eine Periode dualistischer Politik in Deutschland" hätte bedeuten können, fügt aber hinzu: "Es ist freilicb zweifelhaft, ob eine solche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von 1866 und1870 sich in einem für das deutsche Nationalgefühl annehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des inneren Zwiespalts hätte entwickeln können, Der Glaube an die militärische Überlegenheit Österreichs war in Wien und an den mittelstaatlichen Höfen zu stark für einen modus vivendi auf dem Fuße der Gleichheit mit Preußen."[5]

Mit den enormen Veränderungen, die sich für Preußen aus seiner erheblichen Vergrößerung nach 1866 sowie seiner hegemonialen Stellung im dem geeinten Deutschland ergaben, hatten viele seiner Standesgenossen Schwierigkeiten. Die neue Situation und die sich von daher ergebenden neuen Aufgaben wurden nicht erkannt, und der nationale Enthusiasmus von 1870 verebbte (bis auf die Phrase). Lösungen erforderten vor allem im inneren die soziale Frage, im äußeren die Politik gegenüber Rußland, die bereits für Krieg und Frieden entscheidend geworden war.

Was die "soziale Frage" anging, die Bismarck im Blick auf seine Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie Bebels so sehr beschäftigte, so war es ihm und seinen Zeitgenossen noch nicht möglich wie uns Heutigen, verschiedene Ströme, wie das konservative, auf Recht und Ordnung basierende Staatsdenken und den am Marxismus orientierten Sozialismus als ebenso berechtigt und im geschichtlichen Lebensprozeß unseres Volkes als letztlich gleich unverzichtbar zu erkennen - in der dialektischen Denkweise Hegels, wonach der Widerspruch das vorwärtstreibende Element der Entwicklung ist. Und wenn Bismarck den politischen Bestrebungen der Sozialdemokratie mit ziemlichem Unverständnis gegenüberstand ("sozialdemokratische Verrücktheiten"[6], wie er gelegentlich sagte) und Bestrebungen nach revolutionären Veränderungen in politischer Verantwortung für die Verteidigung von Recht und Ordnung konsequent und erbittert bekämpfte, so lag darin eine eigene Logik. Aus heutiger Sicht wird man anmerken können, daß ihm der Zugang für die Anliegen des politischen Sozialismus seiner Zeit nicht gegeben war.

Die soziale Lage der armen Volksschichten gehörte in seiner Sicht zu den "gottgegebenen Realitäten"; zu Hermann Hofmann äußerte er sich einmal so: "Der Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist so alt wie die Welt. Er beruht auf einem Naturgesetz und kann niemals abgeschafft werden. Ihn beseitigen zu wollen, ist dasselbe, wie zu versuchen, das Problem der Quadratur des Zirkels zu lösen. Der Schöpfer hat die Menschen verschieden erschaffen und mit ganz ungleichen Fähigkeiten ausgerüstet. Die Verschiedenheit der Individuen, der Rassen, der Völker und ihre Leistungen bildet eine der wichtigsten Voraussetzungen der Entwicklung der Menschheit in unausgesetztem Wettkampf um Erfolg und Fortschritt, Wenn diese Verschiedenheit aufhörte, würde alles menschliche Streben und Kämpfen ein Ende nehmen."[7]

Bismarck sah aber durchaus die Berechtigung des Strebens der armen Volksschichten nach "Erwerbsfähigkeit". Lange vor dem "Sozialistengesetz", am 4. April 1872, hat er Kaiser Wilhelm I. in einem Schreiben auseinandergesetzt, daß die sozialistische Doktrin eine "die ganze Welt durchziehende Krankheit" und deren Ursache das steigende Selbstwertgefühl der besitzlosen Klassen sei: "Auf eine Heilung dieser Krankheit durch repressive Mittel wird man verzichten müssen; dieselbe kann nur das sehr langsame Werk teils der fortschreitenden Bildung und Erfahrung, teils einer Reihe die verschiedensten Gebiete des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens berührender legislativer und administrativer Maßregeln sein, welche darauf gerichtet sind, die Hindernisse tunlichst zu beseitigen, die der Erwerbsfähigkeit der besitzlosen Klassen im Wege stehen."

In diesem Punkt hat der Reichskanzler Bismarck Bleibendes geleistet; in harten Auseinandersetzung übrigens mit jenen Kräften, für deren Interessenanwalt er noch heute angesehen wird, der Industriellen, den Großagrariern und den Liberalen[8], aber auch den Linken, die ihm Demagogie vorwarfen. Zu Lothar Bucher sagte er 1878 das Wort "Deutschland voranschreitend auch auf der Bahn der sozialen Reform, wahrlich ein Gedanke, 'des Schweißes der Edlen wert'! Aber die meisten von ihnen wollen nicht schwitzen, da liegt der Hund begraben." Was Bismarck im letzten Jahrzehnt seines politischen Wirkens in Gang gesetzt hat, war jene Entwicklung zum Sozialstaat, die heute - trotz aller Fehlentwicklungen auf diesem Gebiet - Deutschland noch immer auszeichnet. Und die heute von einer nur an partiellen Interessen, am amerikanischen Modell ausgerichteten Politik "der Korrekturen" zurückgenommen, zerschlagen werden soll. Es war dies nur ein Element der reformerischen Leistungen dieses Mannes.

Am 30. Juli 1898 ist Bismarck in Friedrichsruh, seinem Alterssitz, gestorben; seine letzten Worte - so hieß es in der amtlichen Mitteilung - waren an seine Tochter, die Gräfin Rantzau, gerichtet, die ihm die Stirn trocknete: "Danke, mein Kind!" Theodor Fontane, dessen Todestag sich ebenfalls 1998 zum 100. Male jährt und der Bismarck nicht nur bewundernd, sondern eher kritisch gegenüberstand, hat von ihm gesagt: "Man mag Bismarck lieben oder hassen, so muß doch immer zugestanden werden, daß intellektuell dasselbe von ihm gilt, was in physischer Beziehung von ihm gesagt worden ist: ein gewaltiger Mann!"

Das Lesen der Reden und Schriften Bismarcks ist ungemein bereichernd, packend - hier schreibt und spricht ein Staatsmann, der Staatsmann, kein bloßer "Politiker" heutigen Schlages. Nach ihm kam bis heute kein gleichwertiger, nicht Stresemann, nicht Adenauer und schon gar nicht Kohl.

Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen" ist gerade von seinen ernstzunehmenden Biographen (wenn man von Ernst Engelberg absieht) in bezug auf den Verlauf der geschilderten Ereignisse der Rang als Dokument abgesprochen worden. Natürlich ist dieses Memoirenwerk weithin die Reflexion eines Staatsmannes über Ereignisse und Zusammenhänge, die für ihn selbst Zeitgeschichte waren, aber mit dem Abstand von über einhundert Jahren ist es heute ein historisches Dokument ersten Ranges. Und legt man die "Gedanken und Erinnerungen" neben seine Reden im Preußischen Landtag, im Norddeutschen und im Deutschen Reichstag, neben seine Briefe und Notizen und neben "anerkannte" Dokumente der Politik und Diplomatie seiner Wirkungszeit - wo ist da der wirkliche Dissens?

Man kann Bismarck eigentlich nur mit Gewinn lesen, letztlich auch seine Äußerungen und Schriften nach 1890[9], und man kann zu den existentiellen Fragen der Politik, die uns heute bewegen, bei ihm Aussagen finden, deren Realitätsgehalt und Tiefe einfach erstaunt. Für die Aktualität Bismarck'scher Politik greife ich nur drei Beispiele heraus.

DIE DEUTSCHE EINHEIT

Ein an und für sich interessantes Thema ist der Vergleich, wie denn die deutsche Einheit 1866/1871 zustande kam, mit den formal analogen Vorgängen von 1990. In beiden Fällen ging es darum, deutsche Teilstaaten zu einem deutschen Gesamtstaat zusammenzuführen, und zwar im Zusammenklang der Lösung innerdeutscher und außenpolitischer, primär europäischer, Fragen.

In den heutigen Veröffentlichungen unseres Landes über diesen Gegenstand freilich wird in weitgehender schöner Übereinstimmung das folgende Klischee transportiert: Die bismarck'sche Politik setzte a priori auf militärische Gewalt (das Stichwort "Eisen und Blut" lieferte Bismarck selbst), während sie einerseits die im Volke lebendigen demokratischen Bestrebungen brutal vergewaltigte (Konfliktzeit; Ablehnung des Parlamentarismus), andererseits die europäischen Mächte ausmanöverierte. 1990 dagegen der eindrucksvolle Weg vertraglicher Verständigung demokratisch legitimierter Regierungen (deutsch/deutsche sowie 2+4-Verträge) bis hin zu den zwar komplizierten, letztlich aber erfolgreichen Entwicklungen auf der Grundlage des Einheitsvertrages, die zu einer (leider etwas langsameren) schrittweisen Überwindung des Trennenden führen - es "wächst zusammen, was zusammen gehört".

Wie schön. Leider macht sich aber bei genauerem Hinschauen bemerkbar, wie um 1870/71 Chancen genutzt, 1990 aber vertan wurden. Und damit beantwortet sich dann auch die Frage, an welchen dieser beiden schicksalsschweren Lebensstationen unseres deutschen Volkes klug und verantwortungsbewußt oder eben dilettantisch Politik gemacht und umgesetzt wurde.

Unter den Aufgaben, die Bismarck 1862 mit der Leitung der preußischen Politik übernahm, war die Herstellung der deutschen Einheit jene, von deren Lösung der Fortbestand Preußens selbst als europäische und deutsche Großmacht abhing.

Wenn die 48er Revolution überhaupt ein Ergebnis hatte, dann war es die Akzentuierung der nationalen Frage. Was hatte 1848 die Herstellung eines deutschen Nationalstaates verhindert? Einerseits die Angst der Dynastien, für die dies ja in der Tat eine Existenzfrage war - beispielsweise führte der etwa zeitgleich in Italien erfolgreich beschrittene Weg zur Einheit über die Beseitigung aller Dynastien bis auf die sich zur nationalen mutierende piemontesische. Andererseits war es die Frage nach der Einbeziehung Österreichs in einen deutschen Nationalstaat, mit der zwangsläufig die Frage nach dem staatsrechtlichen bzw. völkerrechtlichen Verhältnis der nichtdeutschen Bestandteile Österreichs (und das waren weit über Dreiviertel der Österreichischen Monarchie) zu diesem Deutschland aufgeworfen wurde.

Bismarck hat - nach der Entscheidung der Machtfrage im Gegenüber zu Österreich und dessen Ausscheiden aus einem wie immer gearteten deutschen Staatsverband 1866 - auf geradezu taktvolle Weise Wege zur Überwindung der partikularistischen Elemente gesucht. Bismarck hat eine kraftvolle Politik gemacht, die auch den Krieg nicht ausschloß, sogar den weithin unpopulären Krieg 1866 gegen Osterreich und andere deutsche Staaten, und dies entgegen der erklärten Abneigung seines Königs. Aber diese Politik war sensibel für historisch gewachsene Gegebenheiten, deren Stärke er seit 1848 kennen und einzuschätzen gelernt hatte.

Er fand für sein Streben nach der deutschen Einheit die Formel: soviel Einheit als nötig und soviel Vielfalt als möglich. "Man soll sich in den germanischen Staaten nicht fragen, wenn man es der Bevölkerung recht machen will - was kann gemeinsam sein? Sondern man muß fragen: was muß absolut gemeinsam sein? Und dasjenige, was nicht gemeinsam zu sein braucht, das soll man der speziellen Entwicklung überlassen. Damit dient man der Freiheit, damit dient man der Wohlfahrt."[10]

Bismarck hatte als preußischer Bevollmächtigter am Frankfurter Bundestag lange genug Erfahrungen mit den Fürsten und Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten machen können, er wußte, daß sie (mit nur wenigen Ausnahmen) national dachten und empfanden. Er wußte aber auch, daß ein Streben nach Sonderung im deutschen Charakter liegt. Sein Weg war die Herstellung der deutschen Einheit in Anknüpfung an vorfindliche Elemente, konkret sogar in Benutzung der Institutionen des allgemein als unzulänglich empfundenen Deutschen Bundes, und in weitgehender Schonung der Einzelstaaten, im Blick auf die süddeutschen Königreiche sogar mit handfesten Sonderrechten. Er konnte so die partikularen Kräfte als konstitutive Elemente in das neue Staatsgefüge einbauen. Andererseits wurden die Bundesstaaten und ihre Bürgerin keiner Weise durch die Institutionen des neuen Reiches majorisiert - sie erfreuten sich einer Selbständigkeit, die weit über das hinausgeht, was das Grundgesetz der Bundesrepublik den heutigen Ländern zubilligt. Eine wirkliche Berechtigung für den noch lange anhaltenden Groll der Süddeutschen gegen die Preußen (mit oder ohne "Vorsilbe") gab es in keiner Weise, und 1918 ist gerade im Süden das Deutsche Reich, der gemeinsame deutsche Staat, nicht in Frage gestellt worden - das bismarck'sche Werk des deutschen Nationalstaates hatte in der Bewährungssituation seine Probe bestanden.

Stellen wir dieser Entwicklung den Prozeß von 1990 gegenüber, so wird sogleich die gegenläufige Tendenz sichtbar:

1. Keine Vereinigung der deutschen Staaten, sondern - in aller Form - ein Anschluß, d. h. der bisherige DDR-Bürger wird als Objekt dieses Prozesses zum offiziellen Bürger zweiter Klasse, zum Mündel.

2. Betreiben der Auflösung der DDR in die einst von der Sowjetischen Administration gebildeten fünf Länder, anstatt den Bereich der DDR als Ganzes in den föderalen Verband der BRD aufnehmen, ihre Eigenheiten (wirtschaftlich, sozial, rechtlich, vor allem auch mental) zu akzeptieren und diese einer allmählichen Angleichung zu Grunde zu legen. Damit waren für die bisherigen DDR-Bürger rechtlich und faktisch keine Möglichkeiten eigenständigen Handelns gegeben.

3. Zerschlagung der lebensfähigen Wirtschaftsstrukturen unter dem Schlagwort der "Privatisierung", Verwandlung eines Landes mit funktionierender Wirtschaft und Außenwirtschaft in ein von "Fördertöpfen" abhängiges Armenhaus, Verwandlung arbeitsamer und arbeitender Menschen in von Sozialleistungen abhängige Nichtstuer.

Man wird einwenden, daß die Schwierigkeiten des Vereinheitlichungsprozesses von 1990ff. ungleich größer gewesen wären und denen der Gründung des Deutschen Reiches nicht zu vergleichen seien, Das Gegenteil ist der Fall.

1866/71 galt es Trennungen zu überwinden, die in Jahrhunderten gewachsen waren; 1990 war mit dem Wegfall der die DDR konstituierenden Dominanz der Sowjetunion eigentlich nichts mehr wirklich Trennendes vorhanden - der Zusammenschluß war nur noch zu organisieren. Freilich - das Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgefüge von BRD und DDR waren grundverschieden und nicht kompatibel. Aber anstatt diese Gegebenheiten ernst zu nehmen und einer behutsamen Politik zugrunde zu legen, wurde das westdeutsche System zum "Normalen", zur einzig gültigen Norm, erklärt und die unbedingte Anpassung gefordert.

Gerade hier erwies sich der geradezu unfaßbare Dilettantismus der politischen Klasse des deutschen Weststaates, die oberflächlich, borniert und bar jeden Verständnisses für die wirklich zu lösenden Fragen - die deutsche Einheit sich selbst, besser: dem Egoismus der "frei wirkenden Kräfte des Marktes", d. h. den Kapitalkräften überließ. Die Folgen dieser "Politik" zeigen sich im Wahljahr 1998, wo die regierende Bonner Koalition trotz allerorts leerer Kassen und Rekordverschuldung in panischer Angst plötzlich Millionen zur Stützung von Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Langzeitarbeitslosen des "Beitrittsgebietes" buchstäblich herauswirft (die uns nach dem September 1998 bitter fehlen werden).

Eine weitere, im Zusammenhang mit der "Vereinigung" von 1990 nur marginal gestellte Frage war die nach der Perspektive der nicht zum heutigen Staatsgebiet der Bundesrepublik gehörenden deutschen Gebiete und der außerhalb lebenden Deutschen. Dabei soll einmal die Frage nach den Austrodeutschen gar nicht aufgeworfen werden, obgleich es gerade für die deutschen Zeitgenossen Bismarcks und für ihn selbst außerordentlich schmerzlich war, daß die 8 Millionen Deutsche in den Österreich-ungarischen Ländern außerhalb des endlich erreichten Zusammenschlusses zu einem deutschen Nationalstaat verblieben. "Schließlich gestatte ich mir, mit Bezugnahme auf die nationalen Empfindungen im gesamten Deutschen Reiche, noch auf die geschichtliche Tatsache hinzuweisen, daß 'das deutsche Vaterland' nach tausendjähriger Tradition sich auch an der Donau, in Steiermark und Tirol noch wiederfindet", schrieb Bismarck am 7.9.1879 an Kaiser Wilhelm I.

Dies geschah im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Bündnisvertrages mit Österreich, der denn auch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Bestand hatte, von Bismarck aber keineswegs als ein Bündnis beider Mächte gegen Rußland verstanden wurde. Er habe schon bei den Friedensverhandlungen in Nikolsburg 1866 das Gefühl "der tausendjährigen Gemeinsamkeit der gesamtdeutschen Geschichte" gehabt und an einen "Ersatz für die Verbindungen" gedacht, welche damals zerstört werden mußten (31. 8. 1879 an Wilhelm I.). Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der Deutschen auch mit den Deutschen der Österreich-Ungarischen Doppelmonarchie blieb also auch nach der Gründung des Deutschen Reiches erhalten, ohne damit den Bestand und die Souveränität beider Staaten in Frage zu stellen.

1990 aber wäre es zumindest um eine Klärung im Blick auf die bisher immer als rechtens anerkannten Grenzen Deutschlands von 1937 gegangen. In den Staatsbriefen ist diese Frage häufiger erörtert und das Argument, der Verzicht auf die deutschen Gebiete Östlich von Oder und Neiße sei der Preis der deutschen Einheit gewesen, als nicht zutreffend ausgewiesen worden. Festzuhalten bleibt, daß sich bis 1990 nicht nur in der politischen Klasse der BRD, sondern auch in breitesten Volksschichten ein Wandel im Verhältnis dazu vollzogen hatte: Man wußte nichts mehr von diesen Gebieten, man wußte auch nichts mit ihnen anzufangen, man fürchtete ja bereits die Belastungen aus der Vereinigung mit der DDR, und nun gar die eines völlig unbekannten und auch unheimlichen Ostens! Von dem Bewußtsein eines Verzichts oder gar eines schmerzlichen Verlustes analog 1848 oder 1871 keine Spur.

So wurde die Meinung der Bundestagsmehrheit, hier einen endgültigen Strich unter die Geschichte machen zu wollen, wohl weithin vom Durchschnittsbundesbürger abgedeckt. Beiläufig: Bismarck hat einmal (in einer Rede am 28. 1. 1886) gesagt: "Ich halte den Minister für einen ganz elenden Feigling, der nicht unter Umständen seinen Kopf und seine Ehre daransetzt, sein Vaterland auch gegen den Willen von Majoritäten zu retten", und in der Frage der Ostgebiete ging es in der Tat um eine Frage von höchster nationaler Priorität. Es wäre ja gar nicht darum gegangen, die deutschen Gebiete im heutigen Polen bzw. Nordostpreußen wieder einzuklagen, ihre Einbeziehung in das deutsche Staatsgebiet wäre nach 50 Jahren fremder Besiedlung (drei Generationen!) auch höchst problematisch. Aber der Rechtsanspruch und eine weiterhin bestehende deutsche Verantwortung für diese Gebiete waren aufrecht zu erhalten und auf dieser Grundlage eine langfristige Lösung im Interessenaustausch mit den anderen Beteiligten anzustreben.

DIE PARTEIEN UND DER STAAT

Die Partei ist überlebt; sie war es in Deutschland im Grunde immer schon. "Get you home, you fragments (Coriolan)" zitiert Bismarck am Ende seines politischen Lebens in "Gedanken und Erinnerungen" bei seiner Erörterung der Frage, welche Schuld den Parteiführern an der "Schädigung unserer Zukunft" einst beizumessen sein werde - und er behielt recht, bis heute hin.

Bismarck stand den Parteien anfangs zwar kritisch, aber keineswegs nur ablehnend oder gar feindlich gegenüber, Er selbst gehörte seit den Tagen der 48er Revolution der konservativen Fraktion an und galt in der Öffentlichkeit als Vertreter der "äußersten Rechten", Und er begriff sich als konservativer Politiker, wenngleich er als Minister und Kanzler den Partei(politischen)-Standpunkt rasch als begrenzt und sich

selbst als Vertreter der Krone, des Staates, des Landes unabhängig von Parteiinteressen verstand. "Für mich hat immer nur ein einziger Kompaß, ein einziger Polarstern, nach dem ich steuere, bestanden: Salus publica. Ich habe ... mich immer der Frage untergeordnet: Was ist für mein Vaterland, was ist - solange ich allein in Preußen war - für meine Dynastie, und heutzutage, was ist für die deutsche Nation das Nützlichste, das Zweckmäßigste, das Richtige? Doktrinär bin ich in meinem Leben nicht gewesen, alte Systeme, durch die die Parteien sich getrennt und gebunden fühlen, kommen für mich in zweiter Linie, in erster Linie kommt für mich die Nation, ihre Stellung nach außen, ihre Selbständigkeit, unsere Organisation in der Weise, daß wir als große Nation in der Welt frei atmen können..."[11]

Noch glaubte er an die Notwendigkeit seiner eigenen Partei im Gesamtgefüge des Staatslebens und hoffte auf ihre innere Entwicklung. Die konservative Partei solle endlich begreifen, daß "ihre heutigen Aufgaben wesentlich andere sein müssen als zur Zeit des Konflikts; sie muß eine Partei des konservativen Fortschritts sein..." schrieb schon am 25. Februar 1868 sein enger Mitstreiter Albrecht von Roon; daß Bismarck in seinem Memoirenwerk diesen Brief zur Kennzeichnung seiner Auseinandersetzungen mit den Konservativen zustimmend zitiert, verrät seine Auffassung von der Sachlage. Am Ende bleibt bei ihm Verbitterung, da er auch im Blick auf seine eigenen Standes- und (einstigen) Partei-Genossen nicht ein - wie wir heute sagen würden - auf das gemeinsame Ganze gerichtetes Denken und Handeln, sondern auf ein von kleinlichen und kindischen Nichtswürdigkeiten über Egoismus und Karrierestreben bis hin zu politischer Unfähigkeit und Intrigantentum reichendes Treiben zurückschauen mußte. "Nur die Führung des Zentrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber sie ist berechnet auf die Zerstörung des unbequemen Gebildes eines Deutschen Reiches mit evangelischem Kaisertum und akzeptiert in Wahlen und Abstimmungen den Beistand jeder ihr an sich feindlichen, aber zunächst in gleicher Richtung wirkenden Fraktion", schreibt er darüber in "Gedanken und Erinnerungen" - die Parallelen zur Gegenwart mag jeder selbst ziehen.

Auf die Rede Bismarcks vom 13. März 1885 hat Wolf von Quitzow in seinem bemerkenswerten Aufsatz in den Staatsbriefen 11-12/1997 aufmerksam gemacht. "Der alte deutsche Erbfeind, der Parteibader, der in dynastischen und konfessionellen Stammesverschiedenheiten und in den Fraktionskämpfen seine Nahrung findet, der übertrug sich auf unser Öffentliches Leben, auf unsere Parlamente."[12] Bismarck schloß dabei keine der Parteien aus. Von daher stand er allen Parteien, die zu seiner Zeit fast ausschließlich als Parlamentsfraktionen agierten, insgesamt skeptisch, und im politischen Leben, in dem er sie als Faktoren nicht ignorieren konnte, doch äußerst pragmatisch gegenüber. Sein Ideal war der Parlamentarier, der einem bürgerlichen Beruf nachging und aus diesem die Einsicht zu politischen Entschlüssen zog. Den Berufsabgeordneten, wie er heute das politische Leben unseres Landes kennzeichnet, hat er abgelehnt, deshalb auch seine Bezahlung durch Diäten.

Darüber äußerte er sich in den Verhandlungen zur Reichsverfassung: "Ich habe bei früheren Verhandlungen in der Versagung von Diäten hauptsächlich die nützliche Wirkung auf kurze Parlamente (d. h. auf kurze Parlamentssitzungen. H.-J. W.) zu erblicken geglaubt. Dieser Gesichtspunkt ist ein ganz außerordentlich wesentlicher. Wenn die Volksvertretungen wirklich ein lebendiges Bild der Bevölkerung zu geben fortfahren sollen, so müssen wir notwendig kurze Parlamentssitzungen haben, sonst können alle die

jenigen Leute, die noch etwas anderes in der Welt zu tun haben - und Gott sei Dank sind wir Deutschen derart, daß jeder so ziemlich seinen Beruf hat, dem er sich nicht zu lange entfremdet - ich sage, so können diese Leute sich nicht bereitwillig und mit voller Hingabe dazu herbei lassen, als Wahlkandidaten aufzutreten. Nur kurze Parlamente machen es möglich, daß alle Berufskreise, und gerade die Tüchtigsten und Treuesten in ihrem bürgerlichen Beruf, sich die Zeit abmüßigen können, daß sie dem Vaterlande auch hier an dieser Stelle ihre Dienste weihen. Nun ist das, meine Herren, eine Erfahrungssache, daß diätenlose Sitzungen immer kürzer sind... daß der aus der Volksvertretung einen Lebensberuf machende Abgeordnete vorherrscht, das halte ich nicht für gut. Dann haben Sie keine wirkliche Volksvertretung, eine andere Art von Beamten, die für die Arbeiten der Gesetzgebung zwar nützlich sind, aber doch nicht immer im Sinne des Volkes und seiner augenblicklichen Stimmung, nicht immer in lebendiger Vertretung aller Berufsklassen wirken, weil diese Berufsklassen nicht immer die Zeit haben, sich ihrem Beruf so lange zu entziehen, wie langgedehnte Parlamentssitzungen es unentbehrlich machen."[13]

Im Zusammenhang mit seinem 1872 vollzogenen Bruch mit der Konservativen Partei schreibt Bismarck in "Gedanken und Erinnerungen": "Als erste Bedingung galt mir die Unabhängigkeit Deutschlands auf Grund einer zum Selbstschutz hinreichend starken Einheit, und ich hatte und habe zu der Einsicht und Besonnenheit der Nation das Vertrauen, daß sie Auswüchse und Fehler der nationalen Einrichtungen heilen und ausmerzen wird, wenn sie daran nicht durch die Abhängigkeit vom übrigen Europa und von inneren Fraktions- und Sonderinteressen verhindert wird, wie es bis 18 66 der Fall war."[14]

Dies ist einer von zahlreichen Hinweisen darauf, daß Bismarck die strukturellen und verfassungsrechtlichen Formen, in denen das Deutsche Reich 1871 gegründet wurde, als keine endgültigen ansah. Es gab in den achtziger Jahren häufiger Überlegungen zur Zweckmäßigkeit der einen oder anderen Verfassungsbestimmung, während er beispielsweise dem Bundesrat als Komponente der Gesetzgebung eine große Zukunft versprach.[15] Interessant dürfte sein, daß Bismarck, der sich stets als Royalist verstand, nicht einmal die Erbmonarchie für unabdingbar hielt. 1885, also noch zu Lebzeiten Kaiser Wilhelms I., schrieb er seinem Rechtsanwalt Philipp: "Eine große Nation ist nur monarchisch regierbar; auch ein gewählter Fürst, ein Präsident könnte es machen, an der Form hängt es nicht, aber die Parteiherrschaft vermag es nicht... Die beste Verfassung ist die Herrschaft eines, der möglichst wenig zu wünschen hat und möglichst unabhängig ist. In einem solchen Falle können Weiher, Freundschaften, Einflüsse Unheil anrichten. Gegen sie muß das Parlament Deckung bieten durch Kontrolle, durch Einspruch: ihm, nicht der Krone, gehört das Veto, es kann nicht Initiative haben, aber eine schädliche Initiative der Regierung hindern..."[16]

Eine ausgewogene Staatsverfassung mit starker, unabhängiger Spitze, deren Politik kontrolliert und gegebenenfalls durch Parlament und Presse korrigiert werden, in keinem Falle aber Parlaments - oder gar Parteiherrschaft - so läßt sich Bismarcks Ideal zusammenfassen. Dabei hatte Bismarck noch nicht die Erfahrungen mit Bundestag und Parteien, deren wir uns heute erfreuen, machen können! Und: diese Parteien lähmen heute das Staatsleben nicht gegen, sondern im Zusammenspiel mit dem Faktor "Medien", einst als Öffentliche Kontrolle unentbehrlich, heute ebenso zu reinen Wirtschafts- und Machtkonzernen entartet wie die Parteien auch. Wenn wir uns an Bismarcks Grundsätzen orientieren, so sind beide Faktoren auf ein erträgliches Maß ihrer Macht zurückzuführen durch Beschränkungen ihrer Privilegien, u. a. durch Abschaffung des Standes der Berufsabgeordneten.

PARTNERSCHAFT MIT RUSSLAND

Außenpolitisch war mit der Gründung des Deutschen Reiches in Europa eine neue Situation eingetreten. Bismarck war sich der "Gefahren, die unsere Kriege geschaffen hatten"[17], bewußt. Die Sorge über gegen Deutschland gerichtete Koalitionen wuchs und war ja keinesfalls unbegründet. Bismarcks Außenpolitik zielte demgegenüber auf Defensivbündnisse der drei Kaiserstaaten Rußland, Österreich und Deutschland (1873: Dreikaiserabkommen) und gute Verhältnisse zu England, Italien und - bei allen Einschränkungen - auch zu Frankreich ab.

Man wird nicht umhin kommen, die Annexion von EIsaß-Lothringen beim Ende des deutsch-französischen Krieges als einen Kardinalfehler der bismarck'schen Politik zu bezeichnen, die die Beziehungen aller europäischen Mächte nach 1871 entscheidend mit beeinflußte. Und dies hat Bismarcks Bemühen um einen auf dem Ausgleich der Interessen beruhenden Frieden erheblich erschwert. Bismarck war mit diesem Schritt nicht eigener Einsicht, sondern der Öffentlichen Meinung in Deutschland gefolgt; die Sorge vor den nicht kalkulierbaren Folgen hat ihn auch zunächst mit dem Gedanken spielen lassen, aus Elsaß-Lothringen einen unabhängigen neutralen Kleinstaat, ähnlich wie Belgien oder die Schweiz, zu schaffen[18], diesen aber als nicht ausführbar wieder verworfen, Nach dem Frankfurter Frieden war das Problem Elsaß-Lothringen dann jener Punkt, an dem sich in Frankreich der Gedanke einer Revanche kristallisierte.

Da war dann das Verhältnis zu den anderen europäischen Mächten von besonderem Gewicht (die Vereinigten Staaten waren damals noch kein Faktor der europäischen Politik). Traditioneller Bündnispartner Preußens, dessen wohlwollende Haltung nicht weniger zum Zustandekommen der deutschen Einheit beigetragen hatte, war Rußland. Rußland aber war ein schwieriger Partner, was in dessen inneren Verhältnissen begründet lag. Die innerrussischen Verhältnisse, politisch wie gesellschaftlich, waren durch soziale Probleme seit der Mitte des Jahrhunderts gereizt bis kritisch, oft unübersichtlich, und die Haltung der Russen wurde jetzt zunehmend deutschfeindlich. Bismarck befürchtete (und nicht unbegründet) außerdem, daß ein alleiniges Bündnis Deutschlands mit Rußland in ein Abhängigkeitsverhältnis von Rußland führen mußte und zudem keinen genügenden Schutz gegen andere Koalitionen gewähren konnte. Deshalb suchte er - bei gleichzeitiger Pflege guter Beziehungen zu Rußland - das Bündnis auch mit Osterreich/Ungarn. Dieser Balanceakt gelang nur unzureichend; trotz mehrerer zwischenzeitlicher Abkommen und Bündnisse verschlechterten sich regelmäßig die Beziehungen mit Rußland. Als Bismarck 1890 von dem jungen, profilierungssüchtigen Wilhelm II. entlassen wurde - in allen Ehren übrigens -, standen die außenpolitischen Beziehungen zu Rußland wieder auf Messers Schneide.

Es scheint auch auf Bismarck anwendbar, daß große historische Persönlichkeiten - Herrscher, Staatsmänner, Denker, Dichter - im Alter skurrile Züge aufweisen. Das Testament des Großen Kurfürsten etwa oder auch die Geringschätzung und Distanz Friedrichs II. seinem Thronfolger gegenüber weisen in diese Richtung. Bismarcks letzte Jahre, die Zeit nach 1890 und seine bisweilen kleinliche Auseinandersetzung mit Caprivi usw. (gemeint war letztlich der Kaiser!) weisen fraglos ebensolche Züge auf. Er hatte dabei in der Sache häufig recht, dennoch werfen seine letzten Lebensjahre kein günstiges Licht auf seine Persönlichkeit. Auszunehmen ist dabei jedoch ein Punkt: Sein Festhalten an der Partnerschaft mit Rußland, bei allen auch seinerseits bestehenden kritischen Einwänden Rußland gegenüber.

Die Bedeutung, die er (bei allen auch seinerseits bestehenden kritischen Einwänden) dem Verhältnis zu Rußland beimaß, gehört zu den politischen Konstanten im Leben und Werk Bismarcks. Das war - das ist - sein Vermächtnis an die deutsche Nation. Dies ist mehr als nur eine Frage der Politik, hier schwingen die historisch gewachsenen Gegebenheiten im Gegenüber und Miteinander zweier "Reichsvölker" mit, "Ich kenne in der Geschichte kein anderes Beispiel zweier Nachbarstaaten, deren Interessen zugleich so verschlungen und verbunden sind. Ich erblicke darin einen Wink der Vorsehung", hatte Bismarck 1879 zu Saburow gesagt.

Damals waren es weithin subjektive Empfindlichkeiten wichtiger Persönlichkeiten in beiden Staaten, die das politische Klima bestimmten, und das war kompliziert genug, wie die weitere Entwicklung zeigte; heute stehen zwischen Deutschen und Russen die (beiderseits) leidvollen Erfahrungen seit 1914. Diese umfassen ja nicht und nicht einmal hauptsächlich die Ereignisse zweier Kriege, die beide den Interessen unserer Völker zuwiderliefen. Sie umfassen vor allem auch 50 Jahre sowjetischer Besatzung in Deutschland mit einer systematischen Ausplünderung des sowjetisch besetzten Teils und der Dominierung dessen politischer und gesellschaftlicher Entwicklung bis hin zu der heute in ihrer Tragweite verschwiegenen furchtbaren Hinterlassenschaften dieser Besetzung, deren Spuren noch in weiteren 50 Jahren nicht völlig ausgelöscht sein werden.

Für die politische Klasse unserer Tage ist dies Verschweigen charakteristisch - wie ja von ihr alles unter den Teppich gekehrt wird, was von den einstigen Kriegsgegnern Deutschlands Deutschen angetan wurde. Das neue Selbstbewußtsein der Deutschen - und hoffentlich auch bald der Russen - aber wird es möglich machen, die Tatsachen unserer leidvollen Geschichte wieder auszusprechen, nicht um neuer gegenseitiger Schuldzuweisungen willen, sondern um sich über der Wahrheit gegenseitig die Hände zu reichen. Dann erst wird Europa frei sein!

Im Jahre 1944 besuchte am 7. Juli - zwei Wochen vor dem Umsturzversuch - der designierte Außenminister Ulrich von Hassell Friedrichsruh, den Alterssitz Bismarcks, und notierte in seinem Tagebuch: "Alles aber trat zurück hinter der Erinnerung an den Großen... Kaum zu ertragen; ich war dauernd den Tränen nah beim Gedanken an das zerstörte Werk. Deutschland, in Europas Mitte gelegen, ist das Herz Europas. "[19] Wenn ich am 30. Juli 1998 an Bismarck denke, werde ich es in ähnlicher Empfindung tun. Die Tränen freilich gehören der ausweglosen Situation von 1944 an; heute, ein halbes Jahrhundert nach der Zerstörung des Werkes Bismarcks, tritt an diese Stelle der Zorn auf die politische Masse Deutschlands, die im Werk dieser Zerstörung fortfährt und dabei Beachtliches geleistet hat. Dennoch: Heute gibt es auch wieder Hoffnung. Es ist diese Zerstörung selbst, die sich jetzt gegen die Zerstörer zu richten beginnt.

Anmerkungen

  1. Lothar Gall "Bismarck", Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1980, S. 725.
  2. Die Altmark, von der die Mark Brandenburg ihren Ausgang nahm, wurde nach dem Wiener Kongreß nur deshalb der preußischen Provinz Sachsen zugewiesen, weil sie 1807 von Napoleon dem Königreich Westfalen seines Bruders Jeróme ("König Lustig") angegliedert worden war. Daher ist heute die Altmark gemeinsam mit dem Jahrhunderte zu Brandenburg gehörenden Magdeburger Land der Kern des "Landes Sachsen-Anhalt"! Es ist überhaupt bezeichnend, daß deutsche Landesgrenzen in der Regel auf das Eingreifen fremder Besatzungsmächte zurückzuführen sind, ob nun um 1806 oder um 1945 - es gibt heute kein Land der BRD außer Hamburg, bei dem dies nicht der Fall wäre.
  3. In einer Rede vor dem Preußischen Landtag zu den in Folge der Veränderungen von 1866 notwendigen innerstaatlichen Neuordnungen führte Bismarck folgendes aus: "Ich befinde mich in der ungewöhnlichen Lage, fast ein Jahr lang dieselben Ziele verfolgt zu haben... nämlich die Provinzialordnung mehr in Einklang zu bringen mit den alten Stammesverhältnissen, mit den alten Reichskreisen... Ich hatte den Gedanken verfolgt, zunächst die rheinfränkischen Teile der jetzigen Provinz Hessen-Nassau, also etwa Nassau und Hanau, vielleicht auch Fulda, mit der Rheinprovinz zu verbinden zu einer Provinz Rheinfranken, den übrigen Teil von Hessen daran zu erinnern, daß Hessen früher Westthüringen war und Marburg neben der Wartburg die Hauptschlösser von Thüringen, und eine Provinz Thüringen zu schaffen, welche die in dem preußischen Besitz befindlichen Bestandteile dieses alten Stammlandes in sich begriff also den weitaus größeren Teil der Provinz Sachsen bis gegen Wittenberg hin; demnächst auch etwa die südliche Göttinger Enklave von Hannover, ferner die alten Teile des westfälischen Reichskreises, Osnabrück und Ostfriesland, wieder zu Westfalen zu weisen, und dann auch eine Provinz Niedersachsen - genau so war der Name, den auch ich dafür wünschte - unter Zufügung des alten niedersächsischen Landes Magdeburg herzustellen. Dieses - ich nenne es ein Ideal - hat sich nicht verwirklicht; es scheiterte vielleicht an dem Mangel an Zeit, an dem Mangel an Arbeitskräften." In: Wilhelm Schüßler, "Bismarcks-Brevier", Insel-Verlag Leipzig, 1933, S. 63/64.
  4. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden", Drei Bände in einem Bande, Stuttgart, Schwabachersche Verlagsbuchhandlung, o.J., Bd. 1., S. 51/52.
  5. Bismarck, "Gedanken und Erinnerungen", Stuttgart und Berlin, 1928, S. 300.
  6. Bismarck, "Gedanken und Erinnerungen", a. a. O., S. 382.
  7. Es dürfte von Interesse sein, diese "Verschiedenheit" einmal von einem Zeitgenossen Bismarcks in einem ganz anderen Zusammenhang, aber mit verblüffenden Übereinstimmungen dargestellt zu sehen, nämlich von Karl Marx in seiner "Kritik des Gothaer Programms" zum Programmpunkt einer "gerechten Verteilung des Arbeitsertrages", wo er ausführt: "Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportional; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine aber ist physisch oder geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hört sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit... es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht... Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andere nicht; einer hat mehr Kinder als der andere etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfond erhält also der eine faktisch mehr als der andere, ist der eine reicher als der andere etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein." In Marx/Engels/Werke, Berlin 1976, Bd. 19, S, 20/21.
  8. In seiner Rede zur Verlängerung der Geltung des Sozialistengesetzes vom 9. Mai 1884 beklagte Bismarck die Ablehnung dieser Maßnahmen "nach einem Obstruktionssystem, nach Verzögerungsprinzipien, die sehr kunstreich berechnet sind". "FürstBismarcks Gesammelte Reden", a. a. O., Bd. 3, S. 201.
  9. Vergl. Stribrny, Wolfgang, "Bismarck und die deutsche Politik nach seiner Entlassung (1890-1898)", Paderborn 1977; siehe auch: Hofmann, Hermann, "Fürst Bismarck 1890-1898" (Drei Bände), Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1913-1914.
  10. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden", a. a. O. Bd. 1, S. 276.
  11. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden", a. a. O., Bd. 2, S. 388/389.
  12. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden", a. a. O. Bd. 3, S. 286.
  13. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden', a. a, O. Bd. 1, S. 358/359.
  14. Bismarck, "Gedanken und Erinnerungen", a. a. O. S. 453.
  15. Bismarck über den Bundesrat (in den Debatten um die Deutsche Reichsverfassung): "Die Verfassung weist ihm die volle Gleichberechtigung (in der Gesetzgebung, H.-J. W.) an, und wenn ich sage, er wiegt schwerer als ein gewöhnliches erstes Haus, so ist das, weil er zugleich ein Staatenhaus im vollsten Sinne des Wortes ist, in viel berecbtigterem Sinne, als was man gewöhnlich Staatenbaus nennt, was z. B. in der Erfurter Verfassung Staatenhaus genannt wurde. Dort bestimmte im Staatenhaus nicht der Staat, sondern der Einzelne ab, er stimmte nicht nach Instruktion, sondern nach seiner Überzeugung ab. So leicht wiegen die Stimmen im Bundesrat nicht... es ist das ganze Gewicht der Bevölkerung einer reichen, großen, mächtigen, intelligenten Handelsstadt, was sich Ihnen in dem Votum der Stadt Hamburg im Bundesrat darstellt, und nicht das Votum eines Hamburgers, der nach seiner persönlichen Überzeugung so oder so votieren kann. Die Abstimmungen im Bundesrat nehmen für sich die Achtung in Anspruch, die man dem gesamten Staatswesen eines der Bundesglieder schuldig ist. Und das halte ich für außerordentlich schwerwiegend... Es ist das zugleich nützlich, indem die - nennen Sie es Weisheit oder Unweisheit, von fünfundzwanzig Regierungen in diese Beratungen hineingetragen wird, eine Manigfaltigkeit von Anschauungen, wie wir sie in einem Einzelstaate niemals gehabt haben. Wir haben, so groß Preußen ist, von den kleinen und kleinsten Mitgliedern doch manches lernen können; sie haben umgekehrt von uns gelernt.... Kurz, ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung sagen, daß ich glaube, in meiner politischen Bildung durch die Teilnahme an den Sitzungen des Bundesrates, durch die belebende Reibung der funfundzwanzig deutschen Zentren mit einander erhebliche Fortschritte gemacht und zugelernt zu haben." "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden" a. a. O., Bd. 1, S. 360/361. Es erübrigt sich angesichts dieser Äußerungen, auf die Deformation des heutigen Bundesrates zu einem Objekt der Bundestagsminorität zu verweisen.
  16. Wilhelm Schüßler, "Bismarck-Brevier", a. a. O., S. 49.
  17. Bismarck "Gedanken und Erinnerungen", a. a. O., S. 453.
  18. "Fürst Bismarcks Gesammelte Reden", a. a. O. Bd. 1, S. 343/344.
  19. Wolfgang Venohr, "Stauffenberg, Symbol der deutschen Einheit", Frankfurt/Main-Berlin, 1986, S. 342/343.


HANS-DIETRICH SANDER / ABRUNDENDE SÄTZE ZU EINER FAST OBJEKTIVEN WÜRDIGUNG

Der Philosoph Karl Löwith hatte einmal in einer Kongreßdebatte bestritten, daß es noch möglich sei, Hegel zu verstehen, wie er sich selbst verstanden hat. Der unmittelbare Zugang zum Werk sei durch die Fülle der Literatur über Hegel verstellt, die niemand aus seinem Gedächtnis löschen könne. Diese Frage des Einbruchs der Sekundärliteratur in die Rezeption stellt sich auch für die Historiographie, Sie stellt sich hier sogar dringlicher, weil die Geschichtsschreibung noch mehr als die Philosophie zu leiden hatte unter dem permanenten Wechselspiel gegensätzlicher politischer Systeme, wie es für die ideologischen Weltbürgerkriege des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist.

Als Armin Mohler zum ersten Mal meine Bibliothek sah, bemerkte er mokant, es stünde ja in den Regalen so gut wie keine Sekundärliteratur. Das hatte für mich einen guten Grund.

Ich habe immer den Überhang dieses Schrifttums als lästig und verhängnisvoll empfunden. Und das aus zwei Gründen. Zum ersten postuliert das Primat der Sekundärliteratur einen stetigen Fortschritt der Erkenntnis, von dem keine Rede sein kann. Zweitens sperrt er das Denken in die Schranken des Zeitgeistes ein.

Das letztere reproduziert immer wieder dieselben Kurzschlüsse und Vorurteile, das erstere multipliziert immer wieder einmalige, oft an bestimmte Lagen gebundene Einschätzungen. So wird Doktrinierungen und Stereotypisierungen frenetisch Vorschub geleistet. Wer sich auch nur einigermaßen kritisch mit Sekundärliteratur befaßt, entdeckt mühelos, wie die Verfasser voneinander abschreiben, wie sie stets dieselben Zitate anführen. Die Folge sind verkürzte Rezeptionen in wahrhaft abenteuerlichen Ausmaßen. In den Lehrbüchem der Rechtsphilosophie oder der Staatsrechtsgeschichte hat sich das schon über ein Jahrhundert verheerend ausgewirkt. Wer sich dann von der Sekundärliteratur in die Primärliteratur hineinbegibt, wird von Entdeckerfreude schier überwältigt.

Ich gehe heute nach jahrzehntelangen Erfahrungen so weit, zu behaupten, daß ein hinterlassungsfähiges Werk, wie Gottfried Benn das einmal nannte, nur dann geschrieben werden kann, wenn sich sein Verfasser nicht von den Vorgaben der Schriften über Schriften leiten läßt.

Die Tyrannei des Sekundären ist überdies das wirkungsvollste Mittel, den menschlichen Geist, der immer widersätzlich ist, wenn er Geist ist, zu domestizieren.

Das gilt heue vor allem für die Deutschen, die ihre Geschichte nicht mehr begreifen sollen, wie sie sie früher begriffen haben. Wer hier anders denkt und schreibt, tritt gegen eine ganze Welt feindlicher Autoritäten an. Dazu gehören auch die Kärrner, wie früher das Mittelmaß hieß, das heute als hochkarätig gilt. Für sie war die Bildung aus dem Sekundären der bequemste und sicherste Weg auf die Universitätskatheder, die sie massenhaft bevölkern, Wer den Königsweg der Schöpfung aus dem Primären einschlägt, wird von ihnen wegen Existenzgefährdung mit allen Mitteln ausgeschaltet.

Hans-Joachim Winter betrat diesen Weg mutig und gefaßt, als er für sein Bismarck-Porträt ganze Halden affektuoser Makulatur beiseite schob. Wenn er dabei die Bezeichnung "eine sehr persönliche Würdigung" wählte, so war sie sicher nicht als eine Schutzbehauptung gedacht, sondern einer wohltuenden Bescheidenheit, der ich quittieren kann, daß dem Verfasser, ausgehend von seiner Familiengeschichte, ein fast objektives Bild gelungen ist. Das "fast" will ich nun mit ein paar abrundenden Sätzen zunichte machen.

Bismarck saß in der Paulskirche, als ein konservativer Abgeordneter, dessen parteipolitische Einfärbung freilich nicht so weit ging, daß er, wie ihm angeboten, Minister im konservativen Kabinett des konservativen Königs Friedrich Wilhelm IV, sein wollte. Keineswegs war er später als preußischer Ministerpräsident unter Wilhelm I. noch konservativ. Er beschied einem der Gerlache, der ihn bewegen wollte, das konservative Element mehr zu berücksichtigen, er könnte an der Spitze des Staates keine Parteipolitik machen, sondern müsse das Wohl des Ganzen im Auge behalten. Wohl deswegen wurde er unter Wilhelm II. von einer konservativen Camarilla gestürzt.

Bismarck hatte mitnichten zu wenig Verständnis für die sozialen Belange. Er verstand sie im Gegenteil besser als ihre heutigen Verwalter, von denen die Sozialpolitik durch Gleichmacherei in die Irre geführt wurde. Wenn heute hier und da erwogen wird, die Sozialleistungen von Bedürftigkeit abhängig zu machen, so ist das genau die Voraussetzung der überlegenen Sozialphilosophie des Reichskanzlers, nach der der Gegensatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gottgewollte Realität war. Die schöpferische Kraft der Wirtschaft resultiert aus nichts anderem. Die gesamte Geschichte des vielfältig angewendeten Sozialismus hat seine Ablehnung der sozialistischen Doktrinen bestätigt.

Bismarcks Sozialpolitik wurde auch nicht von den Industriellen und den Großagrariern bekämpft - die letzteren haben sie, was heute nahezu vergessen ist, sogar unterstützt.

Der Krieg war nicht nur zu Bismarcks Zeiten noch ein legitimes Mittel zum Erreichen politischer Zwecke, Er hat bis heute nicht aufgehört, etwas anderes zu sein. Nur die Deutschen sollen keine Kriege mehr führen. Weder der Völkerbund noch die UNO konnten Kriege verhindern, es sind ihrer immer mehr geworden. Der Völkerbund führte einen Krieg, die UNO führte schon einige.

Bismarck hat als Abgeordneter in der Paulskirche erfahren, daß die deutsche Einheit mit Debatten allein nicht zu bewerkstelligen war, obwohl das Parlament sie wollte. Es ging ohne Blut und Eisen nicht, vor allem weil mächtige Nachbarn die Fortdauer eines geteilten Deutschlands bevorzugten. Das sah auch nicht Bismarck allein so. Die deutschen Truppen haben in den Einigungskriegen mit großem Enthusiasmus gekämpft.

Daß nach dem Sieg über Frankreich Elsaß-Lothringen nicht wieder zum Reich zurückkehren sollte, wäre den Deutschen nicht zu vermitteln gewesen. Es wäre vielleicht klüger gewesen, die Wiedereingliederung nach den bestehenden Sprachgrenzen vorzunehmen, wie Moltke es vorschlug. Aber auch das hätte die französischen Revanchegelüste nicht gedämpft. Sie wären auch unter Beibehalt des gesamten Elsaß-Lothringen aufgeloht. Frankreich hatte im 19. Jahrhundert weder die Einigung Deutschlands noch die Italiens gewollt.

Bismarcks Kritik an seinen Nachfolgern war berechtigt, Dasselbe gilt für die Testamente Friedrichs des Großen und des Großen Kurfürsten. Sie kannten die Kapazitäten der Männer, die auf sie folgen würden, nur zu gut. Selbst Adenauer ist einen von düsteren Gedanken erfüllten Tod gestorben. Welche Rolle die Persönlichkeit in der Geschichte wirklich spielt, kann wohl nur der ganz ermessen, der selbst den Zeitläuften mancherlei und vielerlei abtrotzte. In der Politik läuft nichts von selbst weiter.

Diese Sätze klingen grundsätzlich als sie in Beziehung zu den Ausführungen Hans-Joachim Winters sind. Es sind tatsächlich nur abrundende Sätze. Denn das alles ist im Keim in seiner Abhandlung schon enthalten und nur von aparten Einbrüchen sekundärer Lesereste an seiner stringenten Entfaltung gehindert worden.


Quelle: Staatsbriefe 9(5) (1998), S. 23-30 bzw. 30f.


Zurück zum Staatsbriefe-Menü