HANS-JOACHIM WINTER / BÖHMEN UND DAS REICH

Seit Jahren fahren meine Frau und ich regelmäßig in die Ferien nach Böhmen. Es ist nicht nur das Erlebnis einer überaus reizvollen Landschaft mit ihren freundlichen Bewohnern, das uns immer wieder in ein herrliches Fleckchen Erde zieht, das denn auch "Cesky Rai" - Böhmisches Paradies - genannt wird, gelegen zwischen Münchengrätz und Gitschin. In dem man noch immer stolz ist auf Albrecht von Wallenstein, der hier - im Herzogtum Friedland - so etwas wie ein Landesherr war. Ohne dabei freilich Wallensteins historisch-politische Bedeutung auch nur annähernd zu begreifen!

Wallenstein, ein Böhme aus tschechischer Familie und doch ganz ein Mann des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Zur Zeit des verhängnisvollen Dreißigjährigen Krieges die letzte Persönlichkeit von Macht und wirklichem Einfluß auf das Zeitgeschehen, dessen Streben in einer Zeit engen konfessionellen - und damit parteiischen - Denkens ganz auf die Einheit des Reiches und - was letztlich dasselbe ist - die Macht des Reichsoberhauptes gerichtet war. Für den die Reichsfürsten Reichsstände waren - und deren Bestand er dennoch nicht antasten wollte. Ein Mann, dem es beinahe gelungen wäre, inmitten der Katastrophe dieses Krieges den Prozeß des Zerfalls des Reiches in eine seine Nachbarn zur Selbstbedienung einladende Konkursmasse aufzuhalten.

Erst das Scheitern Wallensteins war Voraussetzung und historische Legitimation für den Aufstieg Brandenburg-Preußens als jener Partikularmacht, deren Kraft nach fast zwei Jahrhunderten schließlich eine neue Reichseinigung ermöglichte. Und Wallenstein scheiterte letztlich an der schon damals ausgeprägten Unfähigkeit des Hauses Habsburg, sich aus einer bloß reichsfürstlichen zur Dynastie des Reiches zu entfalten, nicht nur über die Prädikate des reichsoberhauptlichen Amtes (und dies möglichst konstant) verfügen, sondern auch dessen wirkliche Macht und Verantwortung tragen zu wollen.

Auch uns Deutschen ist diese historische Stellung Wallensteins nie recht klar geworden (vor allem den Schulhistorikern nicht); im preußisch geprägten Norden nicht wegen seiner Verkörperung des katholisch-habsburgischen Systems (man hielt es hier lieber mit dem fremden Eroberer Gustav Adolf, gefeiert als Retter des Protestantismus und der ständischen Reichsfreiheit, was besser heißen sollte der Ausweitung und Vertiefung der Zersplitterung des Reiches); im mehr katholisch geprägten Süden aber auch nicht -wegen des auf ihm ruhenden Verdikts als Verräter.

Natürlich weiß man in Böhmen nichts mehr von der einstigen Stellung dieses Landes im und zum Reich -die Museumsführer durch die zahllosen Burgen und Schlösser geben das Wissen und Denken der historisch gebildeten oder interessierten Tschechen ziemlich repräsentativ wieder. Höchstens gibt es einmal marginal einen Hinweis auf Böhmens einstige Zugehörigkeit zum Österreichischen Kaiserstaat. Daß aber Böhmen seit Karl IV. und bis hin zum Prager Fenstersturz als Kurland und Königreich ein geradezu besonders herausragender Teil des Heiligen Römischen Reiches etwa und Prag als die häufige Residenz der Kaiser neben Wien so wie dessen Hauptstadt war - davon weiß man nichts. (Was allerdings weiß man davon in Deutschland?)

Dies alles wirft für mich Fragen nach aktuellen Bezügen der Konfiguration des Alten Reiches auf, dessen Kern zwar das Königreich der Deutschen war, das aber als Römisches Reich den Anspruch des römischen Imperiums verkörperte (just vor 100 Jahren regierte Otto III., ganz von diesem Gedanken durchdrungen) und dem mit dem alten großflächigen Lotharingen (von Toul bis Utrecht), mit Burgund, Ober- und Unteritalien, Böhmen, Ungarn, Polen und Dänemark auch Länder nichtdeutscher Zunge ein- und angefügt waren.

Wer über einen künftigen Neubau des Reiches nachdenkt, kommt an Böhmen nicht vorbei. Allein die brisante und nationalstaatlich nicht lösbare sudetendeutsche Frage zwingt hier zu einem Neuansatz. Ich wehre mich gegen eine bloße Scheidung Böhmens in die zwei Volks- und Sprachbereiche deutsch (sudetendeutsch) und tschechisch, die übrigens sachlich nie völlig zutreffend war, und auch Prag war eine zweisprachige Stadt. Das Charakteristische dieses alten Kulturlandes bestand ja gerade in seiner zweisprachigen Prägung, in dem Miteinander von Deutschen und Tschechen, in dem die überwiegende Zahl der Tschechen auch deutsch und eine große Zahl der Deutschen auch tschechisch sprachen. Wallenstein als historische Persönlichkeit ist geradezu eine Symbolfigur dieser gegenseitigen sprachlich-kulturellen Durchdringung.

Dieses auf Verschiedenheit basierende Miteinander schloß ja ihren punktuellen Gegensatz nicht aus, ohne daß eine solche Gegensätzlichkeit auch notwendig ein feindliches Gegenüber sein mußte. Der Gegensatz beider wurde zuerst durch die Germanisierungsbestrebungen Maria Theresias und Josefs II. akzentuiert, politisch wirksam aber wurde er vor gut 150 Jahren (siehe den fundamentalen Beitrag Carsten Ludwig Radetzkys in Staatsbriefe 11-12/1997). Bis heute werden einseitige Rechtsstandpunkte diesem Problem ebenso wenig gerecht wie einseitige Verzichtleistungen.

Bismarck hatte die Größe, 1866 in Nikolsburg in buchstäblichem Ringen mit König Wilhelm um einen maßvollen Frieden mit Osterreich seinem Könige gegenüber herauszustellen: "Wir hätten nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben; Österreichs Rivalitätskampf gegen uns sei nicht strafbarer als der unsrige gegen Österreich" (in "Gedanken und Erinnerungen".) Tragfähig für ein mögliches Miteinander von Deutschen und Tschechen wird ein Herangehen an diese Frage nur dann, wenn jede Seite die Berechtigung auch des Nationalismus des jeweils anderen anerkennt!

Wenn die heutige Tschechei in ihrem ganz alltäglichen Leben ein Defizit aufweist, dann ist es der Verlust ihrer ursprünglichen Doppelidentität - auch das tschechische Element ist ohne die deutsche Komponente amputiert und leidet darunter, freilich ohne sich dessen bewußt zu sein. Nur wenige Tschechen der älteren Generation sprechen deutsch, diese Tradition ist abrupt abgebrochen. Läßt man sich durch die böhmischen Burgen und Schlösser führen, ist es manchmal geradezu belustigend, die gewaltsamen Konstruktionen historischer Zusammenhänge zu hören, obwohl die Tatsachen mit Händen zu greifen sind. - Daß hier heute junge Leute wieder gern deutsch lernen und sprechen, sollte keineswegs überbewertet werden; für sie sind die Deutschen das erste "westliche" Volk. Dennoch ist dies auch eine Chance zu neuer unbefangener Begegnung.

Heute deuten in Böhmen - "Tschechien" - alle Anzeichen auf eine rasche Einbindung in die Finanz- und Wirtschaftsordnung Westeuropas. Wie in der DDR während jener kurzen Übergangszeit von 1990 bis 1995 ist hier feststellbar, daß schon mental der Reiz der bunten Welt der Konsumgesellschaft, die Kauflust auf westliche Produkte und die gleichzeitige Abwendung von eigenen, wenngleich häufig besseren und preisgünstigeren Erzeugnissen die rasche und gründliche Ausschaltung jeglicher Konkurrenz für die Produktions- und Handelsketten vor allem Westdeutschlands leicht machen. Im Bankwesen, in den Supermärkten, aber auch in anderen Bereichen (das Flaggschiff der tschechischen Industrie, die Skoda-Werke, sind im Besitz von VW) zeichnet sich bereits jetzt die Dominanz (west-)deutscher Konzerne ab. Und die Tschechen werden ihren erstrebten Anschluß an die EU ebenfalls mit hoher Arbeitslosigkeit, mit Massenarmut und mit dem Ausverkauf der nationalen Besitztümer, etwa der so ziemlich vollständig erhaltenen historischen Bauten dieses vom Krieg ja kaum berührten Landes zu bezahlen haben - eine Entwicklung, die bereits in vollem Gange ist.

Im Blick auf das recht ausgeprägte Nationalbewußtsein der Tschechen hatte die Trennung von der Slowakei keine bösen Folgen - nach einem in den ersten Jahren noch spürbaren Zorn auf die "undankbaren" Slowaken ist man heute irgendwie froh, sie los zu sein. Vaclav Havel, der zum Staatsmann mutierte Literat, ist für die Tschechen zur unentbehrlichen Integrationsfigur geworden. Seine Autorität in der Bevölkerung ist erstaunlich hoch, und nicht die Verfassung, sondern diese allgemeine Geltung erlaubt es ihm, die schon wieder fest etablierten Parteien (geradezu verblüffend, daß wenige Jahre nach dem Übergang zur westlichen Werte-Demokratie eine Regierung bereits an einer "Parteispenden-Affäre" strandete!) zuweilen in die Schranken zu weisen. Aber der Präsident ist todkrank - er konnte auch in seinen besten Zeiten den Zerfall des von den Entente-Mächten geschaffenen Doppelstaates nicht verhindern - was wird wohl aus "Tschechien" nach Havel?

Der EU-Beitritt - von Havel selbst mit aller Kraft gefördert - ist mit all seinen Konsequenzen jedenfalls vorprogrammiert. Havel ist eben kein Frantisek Palacky, der vor 150 Jahren das Heil der tschechischen Nation, für das er sich leidenschaftlich einsetzte, im Zusammenhalt und in der staatsrechtlichen Einheit Mitteleuropas - des Vielvölkerstaates Österreich und des Deutschen Bundes - sah und dies mit der Unmöglichkeit der kleineren Völker zur Selbstbehauptung gegenüber "dem überlegenen Nachbarn im Osten" und dem übrigen Europa begründete (siehe den genannten Beitrag Radetzkys in Staatsbriefe 11-12/1997).

Mit Tschechien werden Polen und Ungarn der EU beitreten (die anderen Beitrittskandidaten spielen in diesem Zusammenhang keine erhebliche Rolle). Nur die Vertreter der heutigen politischen Klasse Deutschlands sind blind genug, die Folgen nicht zu sehen (nicht sehen zu wollen), die sich aus diesem Beitritt für die Stabilität der Europäischen Union ergeben werden. Bisher ist die EU, soweit sie "real existiert", wesentlich eine auf mühsamer politischer Balance beruhende Wirtschaftsbürokratie. Inzwischen wird es mit dem Euro eine gemeinsame Währung geben, die aber schon nicht mehr für alle gegenwärtigen EU-Mitglieder bestehen wird. Sodann denkt man an eine stärkere politische Gemeinsamkeit, verschiebt aber dieses Projekt regelmäßig auf Grund der nun einmal zwischen den Hauptexponenten bestehenden politischen und wirtschaftlichen Gegensätzen.

Die Gegensätze, die mit den Lebensinteressen in Jahrhunderten gewachsener Nationen identisch sind und damit nicht im Ermessensspielraum der jeweiligen Regierungen stehen, werden in Krisenzeiten schon gar nicht geringer. Und just in diesem Moment treten der EU neue Mitglieder bei, weil man gewissen ost-mitteleuropäischen Staaten den Mitgliedsstatus nicht länger verweigern kann, obwohl deren wirtschaftliche Stabilität gleich null anzusetzen ist. Die sich damit vergrößernde Interessenverschiedenheit der verschiedenen Bestandteile dieser Gemeinschaft" kann sich gar nicht anders als in zentrifugalen Bewegungen auswirken.

Dies könnte die Chance für den mitteleuropäischen Raum bedeuten, der sich bereits innerhalb der "Europäischen Union" als ein Komplex relativ homogener Interessen erweisen wird. Freilich nur, wenn in Berlin eine deutsche Regierung sitzt, die einen solchen Namen verdient. So könnte sich im Schoße der EU der Keim für ein neues Reich heranbilden.

Warum sollte das Deutsche Reich der Zukunft nicht völlig neue Züge aufweisen, etwa - und darin anknüpfend an Traditionen des Heiligen Römischen Reiches - die eines deutschen Staates im gegenwärtigen Umfang als Kern mit auf der Basis einer mitteleuropäischen Konföderation assoziierten Ländern an seiner Peripherie? (Dies durchaus auch im Blick auf Österreich, was jedem national empfindenden Deutschen als Zumutung erscheinen mag, aber das einfache Zusammenschlagen zweier nur 45 Jahre nebeneinander bestehender deutscher Staaten sollte uns in Fragen der Wiedervereinigung unzweifelhaft zusammengehörender Elemente Vorsicht lehren.)

Das Polen in seinem heutigen Umfang hat - wenn auch nur zwanzig Jahre - schon einmal zu Preußen und Österreich gehört, und die jetzt "souveränen" südslawischen Staaten Slowenien und Kroatien hängen ebenso in der Luft wie die frisch gebackene Slowakei, von Ungarn, in dem noch immer die Donaumonarchie zu spüren ist (sprachlich sogar mehr als in Böhmen), ganz zu schweigen. Und Böhmen selbst natürlich, nicht nur das Sudentenland, und wie bei allen genannten Ländern bei voller Bewahrung des je eigenen Volkstums.

Die EU könnte durchaus ein Schritt hin zu einem neuen Reich bedeuten, nur eben konzentriert auf den begrenzteren mitteleuropäischen Raum, und ich bin davon überzeugt, daß sich dessen Grundstrukturen im Verlaufe der weiteren Entwicklung von selbst herausbilden werden: Ein multinationaler Staatsverband, deutsch in seinem Kern, aber eben nicht im übersteigert nationalem Sinne (was für mich - immer noch im DDR-Sprachgebrauch - nationalistisch heißt), sondern wie es Kirchenrat Sauerzapf in seinem Beitrag über das Reich Gottes und das Reich der Deutschen (Staatsbriefe 11/1991) beschrieben hatte: völkisch im Sinne von am Volk orientiert und an jeden Kriterien, die wir mit dem Begriff Preußen verbinden. Dies halte ich für ein mögliches Modell und, etwa im Gegensatz zu dem von Thomas Finke in seiner Vertragswegskizze zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches (Staatsbriefe 7-8/1993) gezeichneten, für durchaus "politikfähig". Es bedingt freilich eine entsprechende innere Entwicklung in Deutschland - es muß auch gewollt werden. Aber dies ist ein anderes Thema.

Für mich ist es nicht zweifelhaft, daß wir uns mit der nun nicht mehr zu verhindernden Euro-Einführung in einem Jahrzehnt (wenigstens) des Experimentierens gemeinsamer europäischer oder teil-europäischer Regelungen in Wirtschafts-, Währungs und Finanzfragen bewegen werden. Aber entgegen allen Beschwörungen aus Bonn und Brüssel und allen Unkenrufen zum Trotz wird diese Entwicklung nicht irreversibel sein.

An den nicht zu überbrückenden Gegensätzen im Wirtschaftsleben, noch mehr aber im Politischen wird dieses Experiment rasch an seine Grenzen gelangen, ohne daß es einen Rückfall in den status ante geben muß. Europa ist nun einmal ebenso ein Faktum wie die in Europa existierenden Nationen und kleinen Völker; von seiner Mitte her kann es eine Einheit werden, ohne in einem supranationalen Einheitsbrei versinken zu müssen. Und darin besteht auch eine geschichtlich begründete wie bewährte Hoffnung für die kleineren Völker, so für Böhmen.

Wenn ich eingangs schrieb, daß es nicht nur die Schönheit des Landes ist, die meine Frau und mich immer wieder nach Böhmen führt, so ist das zweite Moment unsere Solidarität mit diesem Land und seinen Menschen. Denn sie werden ähnlich den DDR-Deutschen zunächst die Segnungen der sogenannten Marktwirtschaft zu durchleben und zu durchleiden haben, ohne jedoch von dem sozialen Netz der Deutschen aufgefangen zu werden.

Mit ihnen teile ich aber auch die Hoffnung auf eine gute Zukunft. Und wenn ich in der St. Annenkirche des Schlosses zu Münchengrätz an der letzten Ruhestätte Albrecht Wallensteins verweile, so ist es mir eine Genugtuung, daß eine Perspektive besteht, die wohl auch in seinem Sinne läge, ein zentraleuropäisches Reich Deutscher Nation.


Quelle: Staatsbriefe 9(9) (1998), S. 29ff.


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