Grundlagen zur Zeitgeschichte: Gutachterliche Stellungnahme
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Dr. Joachim Hoffmann
Vorbemerkung
Herr Diplom-Chemiker Germar Rudolf-Scheerer* hat mich schriftlich um eine
gutachterliche Stellungnahme zu einer 1994 im Grabert-Verlag in Tübingen
erschienenen Anthologie unter dem Titel Grundlagen
zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch über strittige Fragen des 20. Jahrhunderts,
hrsg. von Ernst Gauss, gebeten. Es sollte hierbei vor allem die Frage nach
der Wissenschaftlichkeit, nicht so sehr die nach dem Inhalt beantwortet
werden.
Als Historiker der Neueren und Osteuropäischen Geschichte und aufgrund
meiner jahrzehntelangen Berufserfahrung und Berufsausübung im wissenschaflichen
Dienst des Bundes bin ich berechtigt, mich in der gewünschten Angelegenheit
sachverständig zu äußern. Zu meiner Person möchte ich
bemerken, daß ich von 1960 bis 1995 dem Militärgeschichtlichen
Forschungsamt in Freiburg angehört habe. Seit fast drei Jahrzehnten
bin ich dienstlich ausschließlich mit Fragen des deutsch-sowjetischen
Krieges befaßt gewesen. Durch Veröffentlichungen wissenschaftlicher
Bücher und Zeitschriftenausfsätze über dies Thematik bin
ich im Inland und Ausland fachlich bestens ausgewiesen. Herr Dipl.-Chem.
Rudolf Scheerer* und die Mitautoren des Sammelwerkes sind mir nicht bekannt.
Die formelle Seite
Das vorliegende Werk, wie völlig richtig bemerkt, gibt keinen Gesamtüberblick
über den Verlauf der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten
im zweiten Weltkrieg. Behandelt werden vielmehr herausgehobene Einzelthemen
über strittige und kontroverse Fragen der Judentötungen. Die verschiedenen
Beiträge sind fachgerecht und überwiegend in einem untersuchenden
Stil geschrieben. Der Anmerkungsapparat läßt, was Ausführlichkeit
und Vollständigkeit angeht, wenig zu wünschen übrig und ist
für den Suchenden überaus hilfreich, zumal da auch die Gegenliteratur
ohne Einschränkung angezogen ist. Dieser Sammelband ist augenscheinlich
also Teil der großangelegten wissenschaftlichen Auseinandersetzung
über ein ernstes zeitgenössisches Problem, das über den eigentlichen
wissenschaftlichen Bereich hinaus weit in das Politische hineinwirkt.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes sind folgerichtig und sachlich-darstellend
aufgebaut, wenngleich bei einer derart emotionsgeladenen Thematik
vielleicht unvermeidlich und in politisch-historischen Kontroversen ja auch
üblich ein polemischer Ton bisweilen nicht zu überhören
ist. Durchgängig ist jedenfalls ein auf neue Erkenntnis gerichtetes
Bemühen feststellbar und spürbar. Der Charakter der Wissenschaftlichkeit
kann diesem Sammelwerk von daher nicht abgesprochen werden, zumal wenn man
zum Vergleich manche Veröffentlichung der Gegenseite heranzieht, deren
Wissenschaftsgehalt ja auch niemals in Zweifel gezogen wird. Manches in
den verschiedenen Einzelbeiträgen wirkt durchaus überzeugend.
Manches nimmt man mit sachlichem Interesse zur Kenntnis. An anderer Stelle
freilich melden sich auch Zweifel und Kritik. Vereinfachend läßt
sich vielleicht feststellen, daß wir es in dieser großen Auseinandersetzung
einerseits mit einer mehr akkusatorischen, andererseits mit einer mehr apologetischen
Literatur zu tun haben. Damit soll angedeutet werden, daß im Eifer
der Kontroverse sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite allzu
leicht die Neigung entsteht, über das Ziel hinauszuschießen und
den Boden beweisbarer Fakten zu verlassen. Überhaupt läßt
sich vielleicht sagen, daß die Zeit für endgültige Aussagen
hinsichtlich der großen Judenverfolgung noch nicht gekommen ist.
Der Historiker Dr. phil. Joachim Hoffmann, am 1.12.1930 in Königsberg/Pr. geboren, war 1960 - 1995 Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr. In dieser Funktion konnte er sich gerichtlich erfolgreich gegen seine Vorgesetzten wehren, die ihn zu zwingen versuchten, die Geschichtsschreibung zu Lasten Deutschlands zu fälschen. |

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Das Problem der Offenkundigkeit
An der Tatsache des Genocides an den Angehörigen des jüdischen
Volkes durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD und durch
das entsprechenden SS-Personal in den Konzentrationslagern des ehemaligen
Generalgouvernements Polen ist jedenfalls nicht zu zweifeln. Hitler, Himmler
und Dr. Goebbels haben diese Untaten bei verschiedenen Gelegenheiten unmißverständlich
zugegeben. So hält auch der Herausgeber Gauss ihn in seinem Beitrag
für gegeben. Tatsächlich steht der Genocid unausgesprochen auch
im Hintergrund des besprochenen Sammelwerkes. Vielleicht aber wäre
es, um jedes Mißverständnis auszuschließen, ratsam gewesen,
diese Dinge eindeutig beim Namen zu nennen und klarzustellen, daß
es heute bei einer wissenschaftlichen Kontroverse nicht mehr um die Massentötungen
an sich, sondern nur noch um die Opferzahlen und um die Methodik des Mordens
gehen kann. In dieser Hinsicht allerdings sind freilich noch gewichtige
Modifikationen zu erwarten. Insofern bedarf auch der heute so vielstrapazierte
Begriff der Offenkundigkeit einer Einschränkung, zumindest aber einer
genauen Definition.
Zwei wichtige Beispiele
Es sollen hierfür zwei herausragende Beispiele angeführt werden.
1) [Reduktion der Auschwitz-Opferzahlen]
Von 1945 bis 1990 galt anerkannt auch von Gerichten der Bundesrepublik
eine Opferzahl von 4 Millionen in Auschwitz als offenkundig. Doch
woher stammte diese Zahl? Diese Zahl entstammte der sowjetischen Kriegspropaganda.
Eine sowjetamtliche Erklärung hatte am 1. März 1945 erstmals gemeldet,
in Auschwitz seien "mindestens fünf Millionen Menschen vernichtet
worden". In dem sowjetamtlichen Kommunique vom 7. Mai 1945 wurde diese
Zahl dann aber auf 4 Millionen reduziert. Diese von der sowjetischen Kriegspropaganda,
d.h. vom NKVD, aufgebrachte und durch nichts bewiesene Opferzahl von 4 Millionen
wurde auch von der breiten Öffentlichkeit in westlichen Ländern
übernommen und galt von nun an unverändert, bis sie überraschenderweise
im Jahre 1990 von heute auf morgen offiziell auf 1,5 Millionen reduziert
wurde. Gegenwärtig werden nur noch 631000 - 711000 Auschwitztote genannt
und eine weitere Reduzierung wird offengelassen.
2) [Die Gesamtopferzahl der Juden]
Bis heute wird allenthalben eine Gesamtopferzahl von 6 Millionen Juden genannt.
Nach der gängigen Meinung der zeitgeschichtlichen Sachverständigen
in Deutschland war sie von dem SS-Sturmbannführer Dr. Hoettl im Frühjahr
1945 den Amerikanern erstmals mitgeteilt und vor dem IMT in Nürnberg
am 26. November 1945 wiederholt worden. Hierzu ist jedoch zu bemerken, daß
sie nachweislich bereits am 4. Januar 1945, mehrere Wochen vor der am 27.
Januar 1945 erfolgten Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (mit
doch angeblich 4 Millionen Todesopfern) von niemand anderem als dem berüchtigten
Ilja Ehrenburg in der sowjetischen Auslandspresse verbreitet worden ist.
Somit war es [vgl. Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, München:
Verlag für Wehrwissenschaften, 1995, S. 160f.].
Zur Charakterisierung von Ehrenburg sei bemerkt, daß er von Stalin
1941 den Generalauftrag erhalten hatte, einen zügellosen Volks- und
Rassenhaß gegen alle Deutsche zu entfachen. Seine jahrelangen, durch
nichts gezügelten Haßorgien gipfelten in dem Ausruf, "mit
Deutschland ein Ende zu machen", in dem Anliegen, das er "bescheiden
und ehrenwert" nannte, nämlich, "die Bevölkerung von
Deutschland zu vermindern", wobei es nur noch darauf ankomme zu entscheiden,
ob es besser sei, "die Deutschen mit Äxten oder Knüppeln
zu erschlagen".
Man sieht aus beiden Beispielen, daß eine angebliche Offenkundigkeit
durch neue Beweise sofort aus den Angeln gehoben werden kann, wie es dann
ja auch die Aufgabe des Zeitgeschichtsforschers ist, angeblich feststehende
Ergebnisse immer wieder in Frage zu stellen. Das Prinzip der Offenkundigkeit
ist auch bei gravierenden Anklagen schon hinfällig geworden. Es sei
nur auf die bis vor kurzem besonders in Deutschland verbreitete, inzwischen
aber selbst von Yad Vashem dementierte Behauptung verwiesen, die Deutschen
hätten aus den Körpern ermordeter Juden fabrikmäßig
Seife hergestellt, eine Fälschung, die ebenfalls der sowjetischen Kriegspropaganda
entstammt. Das hier besprochene Sammelwerk begeht also nichts Ungesetzliches,
sondern wissenschaftlich Berechtigtes und Notwendiges, wenn es versucht,
landläufige Offenkundigkeiten anhand neuer Zeugnisse oder Beweismittel
kritisch zu überprüfen, wie es ja auch zu den naürlichen
Aufgaben der Geschichtswissenschaft gehört.
Das Problem der Zeugenaussagen
Völlig zu Recht wird in mehreren Beiträgen dieses Sammelwerkes
auf die Unzuverlässigkeit der Aussagen von Zeugen hingewiesen und an
zahlreichen, bisweilen wirklich grotesken Beispielen aufgezeigt. Solche
Erfahrungen stehen durchaus im Einklang mit denen des Historikers der Geschichte
des Zweiten Weltkrieges. Nicht etwa, daß Aussagen der Augenzeugen
völlig überflüssig sein würden. Aber die Erfahrungen
haben doch erwiesen, daß sie in jedem Fall anhand authentischer Unterlagen
überprüft werden müssen. Zeugenaussagen über Einzelheiten
des Kriegsgeschehens erwiesen sich nach eigener Erfahrung schon 1970 als
so fragwürdig, daß es ein Verstoß gegen Berufspflichten
gewesen wäre, eine historische Abhandlung allein auf ihnen zu fundieren.
Das Sammelwerk von Benz
Insgesamt geht aus den Beiträgen des besprochenen Sammelwerkes an zahlreichen
Stellen eine profunde Sach- und Literaturkenntnis hervor, selbst wenn manche
Andeutungen durchaus auch fragwürdig erscheinen. Sachliche Mängel
sind aber auch in der gängigen Literatur zum Holocaust vielfach zu
finden. Es sei hier nur auf das 1991 von Benz herausgegebene Sammelwerk
"Dimension der Völkermords" verwiesen, das eine geradezu entwaffnende
Ahnungslosigkeit den Verhältnissen auf sowjetischer Seite gegenüber
an den Tag legt. Völlig zu Recht beanstanden die hier besprochenen
Autoren, daß Benz sich bei seinen Untersuchungen kritiklos auf die
Verlautbarungen der sowjetischen Kriegspropaganda und auf die Veröffentlichungen
über sowjetische Schauprozesse stützt. In umständlichen statistischen
Einzelstudien wird in dem von Benz herausgegebenen Sammelband versucht,
den Beweis für die Richtigkeit der Sechsmillionenzahl zu erbringen.
Jeder, der statistisch über Bevölkerungszahlen gearbeitet hat,
weiß, welche Fehlerquellen sich selbst bei einem ernsthaften Bemühen
in derartig komplizierte Untersuchungen einschleichen. Benz hat keine Kenntnis
davon, daß Ehrenburg bereits am 4. Januar 1945 die Sechsmillionenzahl
in die Kriegspropaganda eingeführt hat. Er wird sich daher den Vorwurf
gefallen lassen müssen, daß er, wenn auch unwissentlich, eigentlich
nur eine Propagandazahl Ehrenburgs bestätigt. Seine und seiner Mitautoren
Forschungsergebnisse bieten von daher einen Ansatzpunkt zu grundlegender
Kritik.
Babij jar
Auch die unter dem Begriff Babij jar bekanntgewordene Massenerschießung
jüdischer Einwohner der Stadt Kiev wird in dem hier besprochenen Sammelwerk
einer berechtigten und notwendigen Kritik unterzogen. Denn die Handlungen
des Einsatzkommandos 4a der Sicherheitspolizei und des SD unter Blobel haben
propagandistisch im Laufe der Zeit eine derartige Überhöhung erfahren,
daß die Rückführung des Tatgeschehens auf die wirklichen
Dimensionen ein Gebot der geschichtlichen Wahrheitspflicht ist. Die Tatsache,
daß Tausende von Juden in Kiev ermordet worden sind, wird hiervon
natürlich nicht berührt.
Gesamteindruck
Der Gesamteindruck des von Gauss herausgegebenen Sammelwerkes ist der, daß
sein Inhalt, wenngleich natürlich mit kritischem Verstand, ebenso zur
Kenntnis genommen werden muß, wie dies bei der "offiziellen"
Literatur zum Holocaust ja unbestritten und unbehindert immer der Fall ist.
Auch in dieser Hinsicht gilt eben das audiatur et altera pars! Eine Unterdrückung
dieser sorgfältig belegten Untersuchung aber würde einer gewaltsamen
Behinderung des legitimen Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis gleichkommen.
Denn der Erkenntnisstand bleibt ja niemals unverändert. Übertreibungen
und Fehler hingegen schleifen sich im Verlauf einer normalen wissenschaftlichen
Kontroverse erfahrungsgemäß immer von selber ein. Man sollte
dem souveränen, freien Forscher und Leser nicht von vornherein das
Kritikvermögen absprechen wollen. Von der Unterdrückung mißliebiger
Bücher bis zu ihrer Verbrennung ist es dann nur ein kleiner Schritt.
Und damit wären wir, wenn auch unter anderen Vorzeichen, wieder dort
angelangt, wo das ganze Unglück begonnen hat.
Ein Schlußwort
In dienstlichem Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
habe ich als Historiker zweieinhalb Jahrzehnte lang die sowjetische Militärliteratur
zur Geschichte der Roten Armee und des Zweiten Weltkrieges im Urtext studiert
eine endlose Kette von Klitterungen, Fälschungen, Verdrehungen
und Verleumdungen. Doch auch in dieser Geschichtsliteratur fanden sich immer
wieder historische Wahrheiten. Ich hätte meine wissenschaftlichen Aufgaben
nicht erfüllen können, wenn ich die sowjetischen Veröffentlichungen
von vornherein als unwissenschaftlich abgelehnt hätte. Um wieviel eher
muß das für das hier besprochene Sammelwerk gelten, das auf einem
respektablen Niveau angesiedelt ist und das, ungeachtet mancher Vorbehalte,
die man hegen mag, unser Wissen über Fragen des furchtbaren Geschehens
zweifellos bereichert.
(gez.) Dr. J. Hoffmann, Wiss. Direktor a.D.
(Verfaßt am 28. September 1995)
*Anm. Juli 2002: Nach der Scheidung von seiner Ex-Frau Scheerer nahm G. Rudolf seinen Geburtsnamen wieder an.
Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 1(3)
(1997), S. 205ff.
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