Der Geßler-Hut

Von A. Bethe

Holocaust stündlich im Internet
In jeder Zeitung flammend und fett,
zu jeder Minute, zu jeder Stunde
in jeder Stammtisch- und Talkshow-Runde.

Auf jedem Sender, auf allen Kanälen
In Chorgesängen aus vollen Kehlen.
Holocaust auf fast jeder Seite.
In allen Büchern, an der Tafel mit Kreide.

Im Babyzimmer, im Kindergarten,
Im Wartesaal und auf Klassenfahrten.
In Kneipen, Kinos, Theatern, Museen.
Interpretiert von Koryphäen.

Holocaust auf Straßen und Plätzen
Durch Flaschenpost in Fischernetzen
In Leuchtbuchstaben über den Hügeln.
Und Pflichtlektüre beim Häkeln und Bügeln.

Beim Kochen und Backen in den Küchen,
An der Wand in Form von Kalendersprüchen.
Des Vormittags beim Kartoffelschälen.
Vor’m Schlafengehn beim Märchenerzählen.

Vielfältig, preiswert auf Platten, Kassetten
Auf Bechern, Pokalen und Wanderplaketten.
Sowohl bei Verlierern als auch bei Siegern
Als Himmelsschrift, hinterlassen von Fliegern.

Holocaust-Stempel für multiplen Gebrauch
Als Farb-Tattoo für Rücken und Bauch.
Holocaust ringsum an den Banden
Von Fußballstadien in deutschen Landen
Aphorismen, Gedichte, Toastas und Reden
Zentraler Gedanke in allen Gebeten
Feierlich deklamiert vor dem Altar
Das »Nie-wieder-Gelöbnis« vom liebenden Paar.

Und auch beim Tragen über die Schwelle,
Geflüstert am Beichtstuhl in der Kapelle,
eingehämmert in Hirne und Herzen
zur Schau getragen mit brennenden Kerzen.
Holocaust-Prüfung alle zwei Jahre.
Beginn in der Wiege, Schluß an der Bahre.


Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 9(1) (2005), S. 42.


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