6. Die Zahl der Opfer
Über die Zahl der Vertreibungsopfer existieren sehr sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen, die 1955 bis 1957 im Statistischen Bundesamt angestellt wurden und seither nur unwesentlich korrigiert werden mußten. Entscheidend bleibt, daß kleinere oder auch mittlere Abweichungen am bestehenden Tatbestand des Völkermordes nichts ändern.
Um die Opfer der Vertreibungsverbrechen zu ermitteln, muß zunächst die Zahl der alteingesessenen Bewohner der betroffenen Gebiete bekannt sein. Allgemein wird heute eine Zahl von 16,5 Millionen Deutschen für die Vertreibungs- und Deportationsgebiete in Ostdeutschland, Ost- und Südosteuropa (ohne die Sowjetunion in den Grenzen von 1937) angenommen, wovon auf das Reichsgebiet von 1937 9,29 Millionen, auf Danzig, Memel, Sudetenland und die anderen Regionen rund 7,25 Millionen entfallen.
Diese Zahl beinhaltet die alteingesessenen Bewohner der genannten Gebiete, vermindert um die Kriegsverluste, also gefallene Soldaten, Bombenopfer und so weiter. Was fehlt, sind die nach 1939 Zugezogenen und die Rußlanddeutschen.
Die rußlanddeutschen Siedlungsgebiete werden nach der Bonner Sprachregelung als „Deportationsgebiete" bezeichnet. Ihre Bewohner sind nicht nur von einem Ufer der Oder auf das andere, sondern von Europa nach Asien vertrieben worden. Bei Hitlers Einmarsch in Rußland lebten etwa zwei Millionen Deutsche, verstreut in mehreren Siedlungsgebieten, in diesem riesigen Land.
Das Schicksal der einheimischen Ostdeutschen teilten die Zugezogenen, wovon der größte Teil aus den Luftkriegsevakuierten, etwa 1,5 Millionen, vor allem Frauen, Kindern und alten Menschen, bestand. Durch die Verlegung zahlreicher Industriebetriebe aus den bombengefährdeten west- und mitteldeutschen Gebieten, mit ihren Belegschaften und Familienangehörigen und sonstiger Zugezoge-
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ner kommen noch einmal l bis 1,5 Millionen zusammen. Insgesamt ergibt sich daraus ein Zugang von 2 bis 2,5 Millionen Menschen in den Vertreibungsgebieten, was auch andere Stellen ausdrücklich bestätigen.
Die erste Zwischenbilanz lautet daher:
16,5 Millionen einheimische Deutsche in allen Vertreibungsgebieten ohne Sowjetunion
1,5 Millionen Rußlanddeutsche (Mindestschätzung) 2,0 Millionen zugezogener Deutsche aus den westlichen und mittleren Landesteilen (Mindestschätzung)
Insgesamt 20,0 Millionen deutsche Aufenthaltsbevölkerung in den Vertreibungs-Deportationsgebieten gegen Ende des Krieges. Diese Personenzahl ist doppelt so hoch wie die Zahl der seinerzeitigen Einwohner von Australien und Neuseeland zusammen. Sie entspricht etwa der seinerzeitigen Summe aller Einwohner der Republiken Irland, Finnland und Island und der Königreiche Norwegen, Schweden und Dänemark.
Abgesehen von Resten der Ungarn- und Rumäniendeutschen sowie einer knappen Million Deutscher in Oberschlesien, die einer über vierzigjährigen kommunistischen, national-polnischen Polonisierung widerstanden, gibt es das alte Ostdeutschland und die deutschen Sprachinseln im Osten heute nicht mehr.
Noch niemals in der Geschichte ist eine so große Bevölkerung liquidiert und mit einem einzigen Federstrich aus Atlanten und Geschichtsbüchern getilgt worden!
Um die eigentlichen Vertreibungs- oder auch Nachkriegsverluste zu ermitteln, hat man im Statistischen Bundesamt alle Kriegsverluste (gefallene Soldaten, Opfer des Bombenkrieges und so weiter) aus den Bevölkerungsbilanzen zu eliminieren versucht und ist zu folgender Statistik der Vertreibungstoten gekommen:
Die deutschen Vertreibungsverluste (ohne die Verluste der Rußlanddeutschen und der zugezogenen Bevölkerung; alle Zahlen sind abgerundet):
300
|
In absoluten Zahlen |
In Prozent der dtsch. Einwohner |
Ostpreußen |
299000 |
14 |
Ostpommern |
346 000 |
20 |
Ostbrandenburg |
207 000 |
35 |
Schlesien |
466000 |
10 |
Danzig |
83 000 |
20 |
Baltische Staaten einschl. Memelland |
51000 |
21 |
Tschechoslowakei einschl. Sudetenland |
272000 |
8 |
Polen |
185000 |
14 |
Ungarn |
57000 |
15 |
Jugoslawien |
135000 |
25 |
Rumänien |
101000 |
12 |
Es ergibt sich eine Summe von rund 2,23 Millionen Todesopfern. Die Schätzungen wurden „mit größter Vorsicht vorgenommen", stellen also Mindestzahlen dar. Nicht in der Bilanz des Statistischen Bundesamtes enthalten sind die Verluste der verschleppten Rußlanddeutschen. Sie werden heute mindestens auf dreihundertfünfzigtausend geschätzt und ergeben sich aus den Opfern, welche die Verschleppung von neunhunderttausend Rußlanddeutschen in den asiatischen Teil der Sowjetunion während des Krieges und die Zwangsrepatriierung von über zweihundertsiebzigtausend geflüchteten Rußlanddeutschen nach dem Krieg kostete.
Bleiben noch die west- und mitteldeutschen Zuwanderer und Evakuierten in den Vertreibungsgebieten, deren Zahl weit über zwei Millionen lag. Grundsätzlich stellt die Dokumentation des Bundesvertriebenen-Ministeriums fest, daß dieser Personenkreis ähnlich hohe Verluste zu beklagen hatte wie die einheimische Bevölkerung. Um aber jede Gefahr der Überschätzung auszuschließen, wird man die Menschenopfer der nichteinheimischen Deutschen etwa ein Fünftel unter dem allgemeinen Mittelwert von 14,3 Prozent ansetzen, also bei mindestens elf Prozent, was eine (Mindest-)Zahl von 2220000 ausmacht. Es ergibt sich damit folgende Übersicht:
301
Vertreibungs- und Deportationsverluste der deutschen Zivilbevölkerung im Osten (Zahlen in Millionen)
Ostdeutschland, Ost- und Südosteuropa (ohne Rußlanddeutsche und zugezogene Bevölkerung) |
2,23 |
Rußlanddeutsche |
0,35 |
Später zugezogene Bevölkerung |
0,22 |
Gesamt |
2,80 |
Am Rand sei vermerkt, daß die genannten Zahlen bei weitem nicht alle Nachkriegsverbrechen erfassen, die im Osten an Deutschen ver übt wurden. An dieser Stelle wäre zum Beispiel an die zahlreichen Gewaltverbrechen der Roten Armee während des Einmarsches in Mit teldeutschland zu denken, die sich zum Teil nicht von denen östlich von Oder und Neiße unterschieden. Zu nennen wären ferner die einhundertfünfundachtzigtausend Zivilpersonen, die nach 1945 in der Sowjetzone festgenommen, teilweise in den Lagern Buchenwald, Sachsenhausen und vielen anderen interniert und teilweise in die Sowjetunion abtransportiert wurden; von ihnen starb ein außerordentlich hoher Prozentsatz.
Hierzu schreibt Gerhart Schirmer in seinem Büchlein „Sachsenhausen - Workuta, Zehn Jahre in den Fängen der Sowjets", Seite 12: ... Es starben von Mai 1945 bis Ende 1949 in den sowjetischen KZ - meist verhungert - insgesamt etwa: einhundertdreiundsechzigtausend.
Durch das Buch des Kanadiers James Bacque „Der geplante Tod" erfuhr die Öffentlichkeit erstmals, daß es auch im Westen unter der Obhut der Amerikaner „Vernichtungslager" gab, wo annähernd eine Million deutscher Kriegsgefangener verhungert sind. Trotzdem verdient das tragische Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen im Gewahrsam osteuropäischer Staaten besondere Erwähnung. Nach Berechnung der von der Bundesregierung beauftragten wissenschaftlichen Kommission starben etwa zwei Millionen, allein in Jugoslawien kamen achtzigtausend zu Tode. Addiert man alle genannten Zahlen und die Zahl der Vertreibungsopfer, so ergibt sich, daß annähernd fünf Millionen unschuldiger Menschen allein im Osten sterben mußten. Ihr einziges Vergehen bestand darin, Deutsche zu sein.
302
Als Bilanz des Geschehens östlich und südöstlich von Oder, Neiße und Böhmerwald ist festzustellen: Nach dem bisherigen Stand der Erkenntnisse liegen die Vertreibungsverluste (einschließlich der Deportationsverluste) der deutschen Zivilbevölkerung im Osten zwischen 2,8 und 3 Millionen; das entspricht etwa der seinerzeitigen Einwohnerzahl von Irland.
Zweifellos ist die Identität der ostdeutschen Volksgruppen vernichtet; die Stämme der Ostpreußen, Schlesier, Pommern etc. existieren praktisch nicht mehr. Angesichts dieses Sachverhalts und angesichts der Millionenzahl von Toten erscheint das Wort Völkermord in doppelter Weise gerechtfertigt.
Fünfzehn Millionen Menschen sind nach Recherchen des Juristen und Zeitgeschichtlers Heinz Nawratil von den „Befreiern" ums Leben gebracht worden - als die Waffen an den Fronten schon schwiegen. Dies ist - nach Stalins Blutorgien der 20er und 30er Jahre - der zweitgrößte Holocaust im 20. Jahrhundert.
„Unter den deutschen Nachkriegsverlusten stehen die Vertreibungsverluste an erster Stelle", beginnt Nawratil seine Zusammenfassung. „Im Zuge von Flucht, Vertreibung sowie Verschleppung in die Sowjetunion sind 2,8 bis 3 Millionen Menschen teils durch Verbrechen, teils durch Hunger, Seuche und Erschöpfung zu Tode gekommen. Für die 16,5 Millionen Bewohner Ostdeutschlands hat das Statistische Bundesamt rund 2,2 Millionen Opfer errechnet; der Rest entfällt auf die nach 1939 in die Vertreibungsgebiete zugezogenen West- und Mitteldeutschen und auf die Rußlanddeutschen."
Von über elf Millionen deutscher Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges seien fast 1,6 Millionen umgekommen. „Die absolut höchste Opferzahl verzeichnete die Sowjetunion mit 1,335 Millionen, die relativ höchste Jugoslawien mit einer Sterberate von rund fünfzig Prozent." Im Tito-Staat seien auch die meisten Massenerschießungen von Gefangenen und die schlimmsten Grausamkeiten zu registrieren gewesen. „Unter den westlichen Gewahrsamsmächten haben die Gefangenen in Frankreich die schlechteste Behandlung erfahren." Nach jüngsten Forschungen des kanadischen Historikers Bacque kamen rund eine Million deutsche Kriegsgefangene in US-Lagern um.
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„In die Sowjetunion verschleppt wurden rund neunhunderttausend Deutsche", fährt Nawratil fort. „Die größte Gruppe unter den Deportierten stellten mit fünfhunderttausend die sogenannten Reparationsverschleppten (ihre Zwangsarbeit stellte nach alliierter Auffassung eine Form der Reparation dar). Von den Fünfhunderttausend starb fast die Hälfte - siebenundvierzig Prozent - in sowjetischen Lagern." Aber auch die anderen Verschleppten, wie zum Beispiel die geflohenen und später zwangsweise repatriierten Rußlanddeutschen, ca. zweihundertsiebzigtausend an der Zahl, hätten mit siebenunddreißig Prozent sehr hohe Menschenopfer zu beklagen gehabt. Der Einmarsch der Roten Armee in Mitteldeutschland und im östlichen Österreich sei regional höchst unterschiedlich verlaufen. Während es mancherorts kaum Ausschreitungen gegeben habe, seien andere Gegenden ähnlich heimgesucht worden wie die Vertreibungsgebiete im Osten. Die Konzentrationslager in Mitteldeutschland seien erst 1950 geschlossen worden. „Nach Kriegsende dienten sie nicht nur der Internierung höherer NS-Funktionäre, sondern auch der Ausschaltung der bürgerlichen Oberschicht und derjenigen Demokraten, in denen man sowjetischerseits eine potentielle Gefahr für die kommunistische Diktatur sah." Die Verhältnisse in den Lagern seien nach 1945 nicht weniger unmenschlich gewesen als vorher. „Der Terror in sowjetzonalen Gefängnissen und Konzentrationslagern hat rund hunderttausend Menschenleben gekostet."
Die deutschen Nachkriegsverluste würden insgesamt bei fast fünf Millionen Menschen, mindestens aber bei 4 777 000 liegen. Sie würden nur einen Teil der europäischen Nachkriegsverluste darstellen. Sehr verlustreich seien die sogenannten Säuberungen 1944/45 in Frankreich, Italien, Jugoslawien und der Sowjetunion verlaufen. Mindestens acht Millionen Menschen seien ohne Zusammenhang mit Kampfhandlungen dem Moskauer Terror zum Opfer gefallen (davon mehrere Millionen, die vom Westen an Stalin ausgeliefert worden waren). Nawratil: „Bei vorsichtiger Schätzung wird man von einer Mindestzahl von fünfzehn Millionen Nachkriegsopfern ausgehen müssen." (Nawratil, Seite 66 f.)
(Die deutschen Nachkriegsverluste, München/Berlin 1987 - 2. Auflage.)
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