V. Die deutsche Wiederaufrüstung
Im Vertrauen auf die berühmten „14 Wilson'schen Punkte" des amerikanischen Präsidenten, die eine Beendigung des Krieges 1914/18 „ohne Sieger und Besiegte" ermöglichen sollten, kapitulierten Österreich-Ungarn am 28. Oktober und das Deutsche Reich am 11. November 1918.
Die Siegermächte aber dachten nicht daran, auf dieser Basis die Friedensverhandlungen zu führen. Das Versprechen eines „Kriegsendes ohne Sieger und Besiegte" war lediglich eine „vergessene Kriegslist", auf die die Mittelmächte hereinfielen. Deutschland war von den Verhandlungen ausgeschlossen. Am 7. Mai durfte dann die deutsche Delegation unter Führung von Außenminister Graf Brockdorf-Rantzau die Friedensbedingungen des Versailler-Diktates entgegennehmen.
Artikel 231, von insgesamt 440 Artikeln, die gegen Deutschland gerichtet waren, lautete: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben." Mit der Drohung, daß der Krieg weiter gehen würde, falls Deutschland nicht innerhalb von fünf Tagen unterzeichne, wurden die deutschen Vertreter entlassen. Die damalige Regierung Scheidemann und der Leiter der deutschen Friedensdelegation Graf Brockdorf-Rantzau traten zurück, da sie diese Vertragsbedingungen mit ihrer Ehre und der des deutschen Volkes nicht anerkennen und vereinbaren konnten. Da die Situation aber immer verzweifelter wurde, unterzeichnete Reichskanzler Bauer und der Abgeordnete Dr. Bell schließlich den Vertrag, nicht aber ohne vorher zu erklären, daß „durch einen Gewaltakt die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt wird" und bekundeten nochmal ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen.
Unter vielen anderen harten Bedingungen mußte Deutschland weitgehend abrüsten und durfte nur noch ein stehendes Heer von 100000
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Mann halten. Verboten waren alle schweren Waffen, Panzer, Flugzeuge und Luftschiffe, Kriegsschiffe über 10000 to, U-Boote und jeglicher militärischer Luftschutz.
Die deutsche Abrüstung sollte laut Vertragsabstimmung der erste Schritt einer allgemeinen Abrüstung aller dem Völkerbund angeschlossenen Länder sein. Der erste Reichswehrminister der Weimarer Republik, Gustav Noske, erkannte sofort die Auswirkungen des Versailler Diktats von 1919. Er äußerte: „Deutschland wird der Willkür, frivolsten Angriffen jedes Nachbarn preisgegeben, der böswillig handeln will ... Es ist nicht wahr, daß die demütigende Entwaffnung Deutschlands eine allgemeine Rüstungsbeschränkung einleitet." (Brennecke, „Die Nürnberger Geschichtsentstellung", S. 73) Noskes Prophezeiungen trafen ein: Erstens folgten die anderen Staaten dem Beispiel des abrüstenden Deutschland nicht, sondern rüsteten auf. Und zweitens war das entwaffnete Deutschland tatsächlich in den anderthalb Jahrzehnten nach Abschluß des Versailler Vertrages ständigen Aggressionen von Nachbarn ausgesetzt. Im Februar 1923, zu Beginn der Genfer Abrüstungsverhandlungen, die im darauffolgenden Jahrzehnt zu keinem greifbaren Ergebnis führten, beurteilte die führende britische Zeitung Observer die Lage in Mitteleuropa wie folgt: „Deutschland, eines der zivilisiertesten Länder Europas, abgerüstet inmitten bis an die Zähne bewaffneter Nationen: Niemals hat die Geschichte einen barbarischeren Zustand gekannt." (Henning, „Zeitgeschichtliche Aufdeckungen", S. 51) Als Totengräber der abendländischen Kultur sah Thomas Mann 1919 den Hauptverantwortlichen des Versailler Vertrages, Frankreichs Ministerpräsidenten Clemenceau, den er als „giftigen Greis" charakterisierte. Der Dichter schrieb: „Über den Entente-Frieden kein Wort. Er offenbart die Gottgeschlagenheit der Sieger. Das giftige alte Mannsbild, das ihn in seinen schlafarmen Greisennächten ausgeheckt hat, trägt Schlitzaugen. Vielleicht hat er ein Blutsrecht darauf, der abendländischen Kultur das Grab zu graben und das Kirgisentum heraufzuführen." (Versailles, S. 103 f.)
Später urteilte Mann wie folgt über den Versailler Vertrag („Deutsche Ansprachen", 1930): „Der Versailler Vertrag war ein Instrument, dessen Absichten dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen
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Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten. Und dieses Instrument als die Magna Charta Europas zu betrachten, auf der alle historische Zukunft sich aufbauen müsse, war ein Gedanke, der dem Leben und der Natur zuwiderlief... Es ist kein haltbarer Zustand, daß inmitten von bewaffneten und auf ihren Waffenglanz stolzen Völkern Deutschland allein waffenlos dasteht, so daß jeder, der Pole in Posen, der Tscheche auf dem Wenzelsplatz, ohne Scheu seinen Mut daran kühlen kann; daß die Erfüllung des Versprechens, die deutsche Abrüstung solle der Beginn der allgemeinen sein, immer wieder auf den ,Sankt Nimmerleinstag' vertagt wird und jede Unmutsäußerung des deutschen Volkes gegen diesen Zustand als eine zu ,neuen Rüstungen auffordernde Bedrohung' aufgefaßt wird.
Diese Ungerechtigkeit ist die erste, die man nennen muß, wenn man dem deutschen Gemütszustand gerecht werden will; aber es ist nur zu leicht, fünf, sechs andere aufzuzählen, die sein Gemüt verdüstern, wie die absurden Grenzregelungen im Osten, das niemandem heilsame, auf das ,Wehe dem Besiegten' stumpfsinnig aufgebaute Reparationssystem, die völlige Verständnislosigkeit des jakobinischen Staatsgedankens für die deutsche Volksempfindlichkeit in der Minderheitenfrage, das Problem des Saargebietes, das keines sein dürfte, und so fort." (Versailles, S. 402)
Auf einen Nenner gebracht besagen diese Aussagen doch alle eines: „Die große Gefahr, die durch die Verzögerung der Abrüstung entsteht, ist die Wirkung, die dadurch auf Deutschland ausgeübt wird. Man kann von Deutschland nicht verlangen, daß es die tiefe Erniedrigung einer einseitigen Abrüstung ständig erträgt."
Es ist eine Legende und entspricht keinesfalls der Wahrheit, daß Hitler bald nach der Machtübernahme eine große Wiederaufrüstung Deutschlands in die Wege geleitet hat. Begründung: Er wollte möglichst schnell Vorbereitungen für seine schon lange geplanten „Welteroberungspläne" treffen. Gleichzeitig konnte damit das Problem der Arbeitslosigkeit beseitigt werden. Dieser auch heute noch vertretene Standpunkt vieler Menschen konnte schon aus wirtschaftlichen Gründen so nicht gehandhabt werden. Die fast sieben Millionen nach Arbeit hungernden Menschen mußten unbedingt „produktiv" beschäftigt werden.
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Aber lassen wir wieder Fachleute zu Worte kommen: „Die Wirtschaftspolitik Hitlers hätte langfristig den Ruin des althergebrachten Systems der internationalen Hochfinanz, das von zinsträchtigen Anleihen an Nationen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten abhängig gewesen sei, bedeutet", meint der Historiker Professor Dr. Helmut Gordon. Er fährt fort: „Würde Hitlers Beispiel Schule machen, was zum Teil der Fall war, würde das letzthin darauf hinauslaufen, daß sich die gold- und devisenarmen Staaten zusammentun würden, um Ware gegen Ware zu tauschen. Die Konsequenz wäre gewesen, daß Anleihen austrocknen und das Gold seine Rolle als führender Leitwert einbüßen würde und, um Roosevelts eigenes Wort zu gebrauchen, ,die Geldverleiher im Tempel' ihre Läden schließen müßten. An erster Stelle würde davon die Wall Street betroffen, an zweiter die Londoner City. Daß die ,Geldverleiher im Tempel' Hitler nicht gewogen waren, versteht sich auch ohne den NS-Antisemitismus." (Gordon, „Es spricht der Führer", S. 71)
Um Hitlers „anfängliche Bescheidenheit in der Wiederaufrüstungsfrage nachzuweisen", führt Gordon folgende Fakten an: „Genau zwei Monate vor seiner Rede des 17. Mai 1933 gab Hitler dem deutschen Mitglied der Völkerbunds- und Abrüstungskonferenz, Baron Werner von Rheinbaben, die Anweisung: ,Keine Sabotage, hinarbeiten auf positiven Abschluß, der vertragsloser Aufrüstung vorzuziehen ist. . .' Und noch am 30. September erklärte Hitler dem deutschen Außenminister Baron von Neurath, daß es ,auf alle Fälle wünschenswert sei, eine Abrüstungskonvention zustande zu bringen, selbst wenn dabei nicht alle unsere Wünsche erfüllt werden'."
Erst nachdem alles versucht worden und gescheitert gewesen sei, seien Hitler, die Reichswehr und das Außenamt übereingekommen, die Abrüstungskonferenz zu verlassen und aus dem Völkerbund auszutreten. Dies aber habe deutscherseits „keineswegs die Aufgabe jeder Abrüstungsverhandlungen" bedeutet. Truppenamtschef Generalleutnant Ludwig Beck, der spätere 20.-Juli-Mitverschwörer, habe für einen Verteidigungskrieg 33 Felddivisionen, drei Kavalleriedivisionen, eine motorisierte, 30 Landwehrdivisionen, einen Panzerverband sowie Armee- und Korpstruppen für notwendig erachtet. Gordon: „Hitler dagegen glaubte ein Heer von 300000 Mann mit einjähriger
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Dienstzeit mit den notwendigen Waffen, aber Verzicht auf schwere Artillerie, Panzer über sechs Tonnen und Bombenflugzeuge, würde genügen, was die Reichswehr mit Überraschung und Unwillen zur Kenntnis nahm, denn Hitlers Vorschläge bewegten sich weit unterhalb der Grenze der paritätischen Sicherheit, was praktisch ein Friedensheer von 21 Divisionen bedeutete." (Gordon, a. a. O., S. 78) Demgegenüber stieg der britische Verteidigungshaushalt von 102 Millionen auf 280 Millionen Pfund im Jahre 1937 (l Pfund = 20 Reichsmark), und auf 700 Millionen Pfund im Jahre 1939. Gegen Ende des Jahres 1938 habe Hitler eine Weisung an die Wehrmacht gegeben, „in der er feststellte, daß bei der gegenwärtigen politischen Lage militärische Spannungen für absehbare Zeit unwahrscheinlich seien. Daher sei es nun die Aufgabe des Heeres, den bis zum Jahr 1945 vorgesehenen Aufbau planmäßig durchzuführen; jegliche Vorbereitungen für einen Aufmarsch oder eine Operation seien verboten." (Gordon, a. a. O., S. 149)
Über die Aufrüstung in den USA notiert Gordon: „Seit Ende 1937 war in den Vereinigten Staaten ein riesiges Rüstungsprogramm angelaufen, ein Jahr später wurde es noch wesentlich erweitert unter der Vorgabe, den japanischen Expansionsbestrebungen möglicherweise entgegentreten zu müssen, während in Roosevelts Denken nicht erst 1941, sondern seit seinem Amtsantritt die Parole ,Europa first!' den Vorrang hatte." (Gordon, a. a. O., S. 191)
Über die militärische Lage des Jahres 1935 äußerte sich Verteidiger Dr. Laternser im Nürnberger Prozeß wie folgt: „Deutschland hatte eine Heeresstärke von höchstens 250 000 Mann einschließlich der Reservisten, keine modernen Waffen, keine Geschütze über 10,5 Zentimeter Kaliber, keine Luftwaffe, gänzlich veraltete Befestigungen. Die Marine bestand nur aus 15000 Köpfen, sie durfte kein Schiff von mehr als 10000 Tonnen haben, sie hatte keine U-Boote . . . Diesem so schwach gerüsteten Reich standen gegenüber: Frankreich mit 600000 Mann Friedensstärke, 1,5 Millionen Mann im Kriegsfall, die Tschechoslowakei mit 600000 Mann im Kriegsfall, Polen mit einer Million Mann im Kriegsfall.
Alle diese Staaten hatten modernste Bewaffnung, Luftstreitkräfte und Panzerformationen. Kann wirklich ein Mensch diese bescheidenen -
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gemessen an modernen Kriegserfordernissen geradezu lächerlichen -deutschen Rüstungsmaßnahmen im Verhältnis zu denen der Umwelt als Vorbereitung und Grundlage für die späteren Angriffskriege ansehen?" (IMT, XXII, S. 76)
Generaloberst Alfred Jodl, der im Oktober 1946 hingerichtet wurde, sagte vor dem IMT: „Die wirkliche Aufrüstung wurde erst nach Kriegsbeginn durchgeführt. Wir traten in diesen Weltkrieg mit etwa 75 Divisionen, 60 Prozent der wehrfähigen Bevölkerung waren un-ausgebildet, das Friedensheer war etwa 400 000 Mann stark gegenüber 800000 im Jahre 1914. Die Vorräte an Munition und Bomben waren geradezu lächerlich. Für zehn bis fünfzehn Kampftage hatten wir Munition. Wir waren bis zum Jahre 1939 zwar in der Lage, Polen allein zu schlagen, aber wir waren niemals, weder 1938 noch 1939, eigentlich in der Lage, einem konzentrischen Angriff Englands, Polens und Frankreichs standzuhalten." (IMT, XV, S. 385/386) Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Burton H. Klein hat das gesamte erbeutete Material an deutschen Dokumenten über die Aufrüstung ausgewertet und beim Harvard College als Band CIX der Harvard Economic Studies veröffentlicht. („Germany's Economic Preparations for War", Cambridge, Mass., 1959.) Ihm behilflich waren dabei die Professoren Capton (Stanford University), Rüssel Nichols (Rand University), Adelmann (M. I. T.), Kaysen und Gal-braith (Harvard College) sowie Mason (Littauer School of Public Administration).
Kleins Forschungen zufolge stand im Jahre 1939 die deutsche Produktion von Flugzeugen, 675 im Monat, auf der gleichen Höhe wie die britische; und Panzer, die Hauptwaffe in Hitlers Blitzkriegen, wurden in Deutschland sogar weniger gefertigt als in England. Klein konnte auf Grund der Beuteakten feststellen, daß bis zur Wiederbesetzung des Rheinlands (Frühling 1936) die deutsche Aufrüstung kaum mehr als eine Legende gewesen war, denn bis zu diesem Augenblick waren nur etwa fünf Prozent der Gesamtproduktion in die Rüstung gegangen. Trotz der darauf einsetzenden Steigerung der Rüstungsausgaben beanspruchten sie in den drei Jahren bis 1939 noch immer nicht mehr als fünfzehn Prozent der Gesamtproduktion (insgesamt acht Milliarden Reichsmark), entsprachen also jetzt den
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Rüstungsaufwendungen der Alliierten (auch Großbritannien setzte in jener Zeit fünfzehn Prozent seiner Produktion für die Rüstungsaufwendungen ein).
Professor Klein, auf Grund seiner jüdischen Herkunft gewiß nicht verdächtig, NS-Deutschland „reinwaschen" zu wollen, faßte die Ergebnisse seiner Untersuchungen in dem Satz zusammen: „Deutschland produzierte sowohl Butter wie ,Kanonen' - und zwar viel mehr Butter und viel weniger Kanonen als allgemein angenommen wurde." Zum Rüstungsstand des Jahres 1939 schreibt Klein: „Das allgemeine Bild der deutschen Kriegswirtschaft, das sich aus dieser Untersuchung ergibt, ist nicht das einer Nation, die auf den totalen Krieg geschaltet war, sondern eher das einer Volkswirtschaft, die ursprünglich nur zur Durchführung kleiner und örtlich beschränkter Kriege mobilisiert war und erst in der Folge dem Druck der militärischen Notwendigkeit nachgab, als dieser zur harten Tatsache geworden war. So sind die deutschen Vorbereitungen zur Versorgung mit Stahl, Öl und anderen wichtigen Rohstoffen im Herbst 1939 alles andere als ausreichend für einen nachdrücklichen Einsatz gegen die Großmächte gewesen. Der Ausstoß an ziviler Produktion war noch mehr als ausreichend, dagegen die Erzeugung von Kriegsmaterial nicht wesentlich größer als die britische."
Klein ferner: „Erst nach der Schlacht von Stalingrad und dem Einsetzen von Luftangriffen großen Stils gegen die deutschen Städte, begann Deutschland endlich seine Kriegswirtschaft ernstlich zu mobilisieren. Höchstleistungen wurden aber nicht vor Mitte 1944 erzielt, nachdem die Niederlage bereits unabwendbar geworden war." Kein Dokument, das heute in gängigen Schul- und Geschichtsbüchern zum Beweis Hitlerschen Kriegs- beziehungsweise sogar Weltkriegswillens abgedruckt ist, taugt dazu, das deutsche Volk insgesamt zu belasten. Vielmehr handelt es sich um Wiedergaben angeblicher oder tatsächlicher Äußerungen des Diktators im kleinsten Kreise Vertrauter. Es ist infam, ein halbes Jahrhundert danach und mit der Arroganz der Jetztzeit den damaligen Deutschen vorzuhalten, sie hätten doch „erkennen müssen", woher der Wind wehte und wohin der Hase lief und daraus eine Kollektivverantwortung sogar der nach 1945 Geborenen für die Geschehnisse zu konstruieren.
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Aber besonders verwerflich, wenn solche Äußerungen von führenden „deutschen" Politikern verkündet werden. Hat man schon jemals gehört, daß derartige Anschuldigungen gegen Angehörige anderer Völker erhoben worden sind? Auch da haben die betreffenden Regierungen mehr oder weniger Schreckenstaten in Kriegs- und Nachkriegszeiten ausführen lassen. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob diese Länder demokratisch oder diktatorisch regiert worden sind.
Die Mär von der gigantischen Aufrüstung, durch die das deutsche Volk schon frühzeitig hätte erkennen müssen, daß man in Berlin kriegs- oder gar weltkriegslüstern gewesen sei, zieht sich wie ein roter Faden durch Schulbuch- und Umerziehungsliteratur. Ausnahmen gibt es nur wenige. Als positives Beispiel soll aus dem Stichwort „Aufrüstung" des „Großen Lexikon des Dritten Reiches" (herausgegeben von C. Zentner und F. Bedürftig; München 1985) zitiert werden: „Hitlers Behauptung vom 1. September 1939, er habe bereits ,über neunzig Milliarden Mark für den Ausbau unserer Wehrmacht aufgewendet', war zur propagandistischen Abschreckung übertrieben. Die deutsche Rüstung erreichte bis zum Krieg keine Tiefe und kam auch danach erst zögernd in Gang. Zum Beispiel wurden vom 1. September 1939 bis zum 31. Dezember 1939 mit 247 Panzern nur dreißig mehr produziert, als im Polenfeldzug verloren gegangen waren. Insgesamt hatte die deutsche Aufrüstung bis 1939 keinen Standard erreicht, der für in die Zukunft reichende Kriegsplanungen erforderlich gewesen wäre.
Auch als die deutsche Wehrmacht im Morgengrauen des 10. Mai 1940 zum großen Angriff nach Westen antrat, war das Kräfteverhältnis äußerst negativ. Nach der Anzahl der einsatzfähigen Divisionen stand es bestenfalls eins zu eins (ein katastrophales Verhältnis für Offensiven, die drei zu eins benötigen). In bezug auf Technik und Bewaffnung sah es für die deutsche Seite noch beängstigender aus. Panzerkampfwagen hatte Deutschland ca. 2250, der Gegner ca. 4500. An Kampfflugzeugen verfügte die deutsche Luftwaffe über ca. 4000, die gegnerische über ca. 5000."
Der Zeitgeschichtler Wolf gang Venohr schreibt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es - bis auf den heutigen Tag - Mode geworden, über
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das deutsche Heer des Jahres 1940 herabsetzend, jedenfalls negativ zu sprechen. Eine überwältigende, ,seelenlose' und barbarische Kriegsmaschinerie Hitlers sei damals über das schwache Westeuropa hereingebrochen." Nichts könne verkehrter sein als eine solche Betrachtungsweise. In Belgien und Frankreich habe nicht die Übermacht, sondern eine geniale Operationsidee („Sichelschnitt") obsiegt. Venohr schreibt: „Aber vor allem triumphierte die Intelligenz und die Kühnheit der deutschen Soldaten und Offiziere. Es war eine junge Armee, die nach Westen stürmte, deren seelische Motivation, deren geistige Disziplin alles in den Schatten stellte, was es zuvor gegeben hatte." „Niemals früher oder später hat es eine so vorbildliche Kameradschaft zwischen Offizier und Mann gegeben wie in der Deutschen Wehrmacht des Zweiten Weltkrieges", schreibt Venohr weiter. „Nicht seelenlose Roboter marschierten nach Frankreich hinein, sondern junge Soldaten, die sich im Recht glaubten, die gegen die arroganten Sieger von Versailles zogen." (Zitate aus: Wolfgang Venohr, Stauffenberg -Symbol der deutschen Einheit.)
Schamlos, skrupellos und mit äußerster Brutalität hatten sich die Sieger nach 1918 die Tatsache zunutze gemacht, daß das deutsche Volk weitgehend ungeschützt war:
- Im Oktober 1918 besetzen Truppen Prags die später als „Sudetenland" bekannten deutschbesiedelten Gebiete und verleiben sie gewaltsam dem neuentstandenen Staat CSR ein. Dies, obwohl die dortige deutsche Bevölkerung durch ihre gewählten Organe klar bekundet hat, in der staatlichen Gemeinschaft der Deutschen verbleiben zu wollen.
- Im Januar 1919 fallen polnische Truppen in der Provinz Posen ein und besetzen fast das gesamte Gebiet, auch die deutschbesiedelten Teile.
- Im Mai 1919 besetzen belgische Truppen die deutschbesiedelten Gebiete von Moresnet, Eupen, Malmedy, Herbestal und Rören, die dann von Brüssel annektiert werden. Eine Volksabstimmungs-Farce mit brutaler Repression gegen Deutschgesinnte soll das Unrecht vertuschen.
-Im August 1919 kommt es zu einem polnischen Einfall in Oberschlesien mit Besetzung der Kreise Myslowitz, Kattowitz und Beuthen.
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- 1919/20 fallen Truppen Südslawiens (Jugoslawien) in die Steiermark und nach Kärnten ein; Italien annektiert das deutsche Südtirol.
- Im Februar 1920 kommt es zur Abtrennung des Saargebietes von Deutschland.
- Im April 1920 besetzen französische und belgische Truppen das linke Rheinufer und die Brückenköpfe Köln, Koblenz, Mainz, Frankfurt am Main sowie Darmstadt.
- Im August 1920 fallen polnische Truppen (Anführer: Korfanty) unter Duldung der dort stationierten französischen Militärs in Oberschlesien ein.
- Im März 1921 besetzen französische Truppen Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort.
- Im Mai 1921 kommt es zu einem erneuten gewaltsamen Versuch der Korfanty-Banden, Deutschland Oberschlesien zu entreißen.
- Im Oktober 1921 wird Oberschlesien geteilt, und 3477 Quadratkilometer des Landes werden unter dem Druck der Sieger von 1918 an Polen gegeben, obwohl die vorangegangene Volksabstimmung für Deutschland positiv verlaufen war. Auch Kattowitz mit 87 Prozent deutscher Bevölkerung wird polnisch, gleichfalls Königshütte (75 Prozent Deutsche).
- Im Januar 1923 besetzen französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Die Verantwortlichen der französischen Besatzungsmacht etablieren ein Terror- und Ausplünderungsregime.
- Im Januar besetzen litauische Truppen das deutsche Memelland.
- Im Oktober 1923 beginnen, von Frankreich geschürt, separatistische Unruhen im Rheinland und der Pfalz mit dem Ziel, die Gebiete vom Deutschen Reich abzutrennen.
Aus Ost und West war das weitgehend entwaffnete Deutsche Reich nach 1918 brutalsten Überfällen und Annektionen ausgesetzt. Hauptaggressoren waren Frankreich und Polen. Aus Fundstücken in Geheimarchiven und Aussagen hochkarätiger Zeitzeugen weiß man, daß weitere Überfälle geplant waren. Infolge der Wehrlosigkeit des Reiches hatten Kanzler Brüning und Reichswehrminister Gröner 1930/31 bereits die Räumung ganz Schlesiens im Falle eines zu erwartenden polnischen Angriffskrieges erwogen.
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Auch 1933 waren polnische Planungen einer Aggression gegen Deutschland weit gediehen. Die Reichsregierung startete eine diplomatische Offensive, die zum Abschluß eines als sensationell empfundenen deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes im Januar 1934 führte. Die Politik der Verständigung wurde polnischerseits nach dem Tode des Staatschefs Marschall Pilsudski 1935 beendet und wich später dem alten Konfrontationskurs.
So erschienen die deutschen Aufrüstungsmaßnahmen, die bis 1936 äußerst spärlich waren und auch danach nicht Kriegs- oder gar Weltkriegsabsichten zum Ziele hatten, dem deutschen Volk als logische Antwort auf die bitteren Erfahrungen der vergangenen Zeit. Allein die Bescheidenheit der deutschen Aufrüstung in jenen Jahren beweist, daß Deutschland nicht Urheber für den Zweiten Weltkrieg sein konnte. Hierfür gibt es unzählige Kronzeugen, doch wir lassen einen britischen Historiker zu Wort kommen, der als „einer der rabiatesten britischen Deutschenhasser" bezeichnet wurde („FAZ", 15. März 1965).
Also A. J. Taylor (Die Ursprünge des 2. Weltkrieges - „The Origins of the Second World War", Gütersloh 1962): „Ich bezweifle, daß Hitler einen großen Krieg plante, bestimmt plante er keinen gegen den Westen. Seine militärischen Vorbereitungen scheinen der entscheidende Beweis zu sein."
„Hitler beabsichtigte, Erfolge ohne Krieg zu erringen oder auf jeden Fall nur mit einem Krieg, der von Diplomaten nur schwerlich unterscheidbar wäre. Er hatte keinen größeren Krieg geplant ... Er war nicht an der Vorbereitung für einen langen Krieg gegen die Großmächte interessiert."
„Das Nazi-Geheimnis war nicht Rüstungsproduktion; es war Freiheit von den damals vorherrschenden orthodoxen Wirtschaftsprinzipien." „Unter Hitlers Leitung war Deutschland ausgerüstet, den Nervenkrieg zu gewinnen - den einzigen Krieg, den er verstand und der ihm genehm war; er war nicht ausgerüstet, Europa zu erobern . . ." „Viele der frühen Alarme über die deutsche Rüstung waren falsche Alarme. Sogar 1939 war die deutsche Armee nicht für einen längeren Krieg ausgerüstet; und 1940 waren die Deutschen den Franzosen in allem unterlegen, mit Ausnahme der Führerschaft."
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„Die Zerstörung Polens war nicht Hitlers Plan. Im Gegenteil, er hatte die Frage Danzig so zu lösen gewünscht, daß Deutschland und Polen gute Beziehungen aufrechterhalten konnten." (Zitat-Ende des Historikers Taylor)
Wem gebührt also die Ehre vor der Geschichte, die „Brandfackel des Krieges" vermeiden zu wollen?
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