III. TEIL
Die Euthanasierungen
"Man wagte es, den politischen Prozessen in Nürnberg die Ärzteprozesse folgen zu lassen. Die deutschen Ärzte, die mit Euthanasie zu tun hatten und in verzweifelter Zeit eine harte Pflicht für die Erbgesundheit zu erfüllen versuchten, wurden - darunter Professor Brandt - umgebracht bis auf zwei, davon einer zu fliehen vermochte."
(Grimm, Warum, woher, wohin? S. 489.)
Im klassischen Altertume war die Beseitigung lebensunwerten Lebens eine völlige Selbstverständlichkeit. Man wird nicht behaupten können, daß die Ethik Platos und Senecas, die unter vielen anderen diese Ansicht vertreten haben, tiefer steht, als jene der Gegenwart.
Die Euthanasierungen
Das "Töten aus Barmherzigkeit" ist zweifellos eines der ernstesten Probleme der modernen Gesellschaft.
Die Kirche verwirft die Euthanasie als Eingriff in die göttliche Ordnung; der Jurist gleichfalls aus den schwerstwiegenden rechtlichen Gründen, weil es fast unmöglich ist, sich rechtlich gegen einen Mißbrauch zu schützen.
Geht man an dieses Problem nicht vom rein kirchlich-religiösen oder rein rechtlichen Standpunkt heran, dann kann man die Euthanasierung keinesfalls durch die Klassifizierung als "Mord" einfach abtun.
Vor den USA-Gerichten sind mehrere Freisprüche in diesem Zusammenhange ergangen.
Die Geistesgestörten und unheilbar Kranken durch einen sanften Tod der Barmherzigkeit von ihren Qualen zu erlösen und damit gleichzeitig auch die Gesellschaft von einer unheimlichen Last zu befreien, ist sicher etwas, für das man sowohl ethische Gründe wie wirtschaftliche Überlegungen ins Treffen führen kann. Zu diesem schwerwiegenden und ernsten Problem eine parteinehmende Stellung zu beziehen, kann nicht Aufgabe dieser rein berichtenden, informierenden Schrift sein. Sie will nur alles wesentliche Material für eine Beurteilung zusammentragen, um den Leser in eine bessere Lage zu versetzen, für sich eine Entscheidung treffen zu können.
Selbst die Verfechter der Zulässigkeit oder Notwendigkeit der Euthanasie werden sich über die ungeheure - in Wahrheit vielleicht unlösbare - Schwierigkeit klar werden müssen, eine tragbare und einwandfreie gesetzliche Grundlage für die Institution der Euthanasie zu schaffen. Selbst den tüchtigsten Juristen und Sozialingenieuren der menschlichen Gesellschaft scheint es bis heute unmöglich, eine Institution zu schaffen, die die Möglichkeit eines rechtlichen Mißbrauches dieser ungeheuren Entscheidungsmacht über die Notwendigkeit und Zulässigkeit einer Euthanasie verläßlich ausschließt.
In Deutschland versuchte man nach 1935, die Euthanasie für unheilbar Geisteskranke einzuführen; dieser Versuch mißlang.
Daß dieser Versuch unternommen wurde, besagt nicht, daß die Euthanasie ein spezifisch oder auch nur vorwiegend nationalsozialistisches Problem ist.
Die Euthanasie als solche hat mit dem Nationalsozialismus, mit seinen Grundsätzen und Parteiprogramm, überhaupt nichts zu tun; sie ist, ebenso wie das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und das Ehegesundheitsgesetz, eine Maßnahme, deren Ursache auf schon jahrhundertealte Denkungsart und Überlegungen zurückgeht, und deren gesetzliche Formulierung und Regelung für spätere Zeiten in Aussicht genommen war.
Es ist auch nicht so, daß das deutsche Recht sich in jenen Jahren den eugenischen Forderungen unterordnete und grundsätzlich, allgemein und absolut auf dem Standpunkte der Berechtigung der Euthanasie stand.
In dem von Reichsjustizminister Dr. Gärtner herausgegebenen Werke: "Das kommende deutsche Strafrech" heißt es in dem von Univ.-Prof. Grafen Dr. Gleispach bearbeiteten Abschnitt:
"Eine Freigabe der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens kommt nicht in Frage. Der Hauptsache nach handelt es sich um schwer Geisteskranke und Vollidioten. Der nationalsozialistische Staat sucht dem Entstehen solcher Entartungen im Volkskörper durch umfassende Maßnahmen vorzubeugen, so daß sie allmählich immer seltener werden müssen. Aber die Kraft der sittlichen Norm des Tötungsverbotes darf dadurch nicht geschwächt werden, daß aus bloßen Zweckmäßigkeitsgründen Ausnahmen für die Opfer schwerer Erkrankungen und Unfälle gemacht werden Andrerseits hat sich bereits unter der Herrschaft des geltenden Rechtes, das auch keine besondere Vorschrift dieser Art kennt, die richtige Ansicht herausgebildet, daß in Fällen echter Sterbehilfe (Euthanasie) keine Tötung zu erblicken sei, d. b. auch dann nicht, wenn der Arzt es unterläßt, ein bereits erlöschendes, qualvolles Leben künstlich zu verlängern oder wenn er den Todeskampf in ein sanftes Hinüberschlummern verwandelt.
jenseits dieser Grenze muß die Herrschaft des Tötungsverbotes ungeschmälert bleiben. Das Gesetz muß sich davor hüten, das Vertrauen des Kranken zum Arztstand zu erschüttern."
Im "Kommentar zum Strafgesetzbuch" schreibt Ohlshausen im Jahre 1944:
"Ein Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie), Verdrängung der schmerzhaften, vielleicht noch lange dauernden, in der Krankheit oder einer Verwundung wurzelnden, sicheren Todesursache durch eine schmerzlose andere, oder auch nur durch Straffreiheit einer solchen Handlungsweise, ist nach dem geltenden Recht weder dem Arzt, noch sonst einer Person zuzubilligen. Und zwar gilt dies auch für den letzten Zeitabschnitt, wenn der Tod schon ganz nahe bevorsteht, und auch dann, wenn der Todkranke selbst seine Erlösung herbeisehnt - vielmehr kommt für letzteres nur strafmildernd § 216 in Betracht. Dagegen ist ein Arzt für die Unterlassungen durch Nichtanwendung besonderer Stimulantien - wie Kampfereinspritzungen - in solchen Fällen nicht strafbar, da eine Rechtspflicht des Arztes, das Leben unter solchen Umständen auf alle Fälle tunlichst zu verlängern, nicht mehr angenommen werden kann. Alle anderen Arten von Vernichtung lebensunwerten Lebens, z. B. die Tötung unheilbar Blödsinniger, könnte erst recht nur durch eine Änderung des Gesetzes straffrei werden."
Vgl. hiezu auch "Euthanasie und Menschenversuche" Psyche, I/1, 1947, S. 101 f. Verlag Lambert Schneider. Heidelberg.
Beweggründe der Euthanasie-Bestrebungen
Dreierlei sind diese Beweggründe:
1. Barmherzigkeit. (Sterbehilfe.)
In erster Linie ist der Beweggrund der Euthanasie der Wunsch, unheilbar Kranke von ihren oft qualvollen Leiden zu befreien, sie von ihrem langsamen Dahinsiechen zu erlösen, einen qualvollen Tod zu ersparen und einen gnadenvollen, leichten und schmerzlosen Tod zu, verschaffen.
2. Wirtschaftliche Gründe.
Ein zweiter Beweggrund ist wirtschaftlicher Natur: Die Gesellschaft von einer unheimlichen, drückenden wirtschaftlichen Last zu befreien.
Nach Angaben des Reichskommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Prof. Dr. Karl Brandt, belief sich die Zahl der Geisteskranken und Schwachsinnigen im Deutschen Reich auf etwa d r e i Millionen. Davon standen 600.000 in ständiger ärztlicher Behandlung, während 250.000 stationär Kranke waren. Von den letzteren waren allein 70-80% schizophren.
Prof. Dr. Karl Brandt beziffert alle bis zur Einstellung der Euthanasie euthanasierten Personen mit 60.000. Es waren nur die schwersten Fälle. Von 3 Millionen Geisteskranken nur 60.000 euthanasiert! Das sind 2%! Nichts beweist besser als diese Zahl, wie ernst man diese Frage nahm.
3. Verhütung erbkranken Nachwuchses. Sorge für die Nachkommenschaft.
Der dritte und schwerstwiegende Beweggrund für die Euthanasie ist ein soziologischer- Die Sorge für die Nachkommenschaft: die Verhütung erbkranken Nachwuchses.
Die deutsche Regierung beabsichtigte besonders auf "eugenischem" Gebiete durchgreifende Maßnahmen.
Bereits am 14. Juli 1933 erschien das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". (Dazu siehe Gütt-Rhein-Ruttke, Kommentar zu diesem Gesetz. 1934.)
Euthanasie finden wir bei den meisten Völkern und zu allen Zeiten der Geschichte.
Der Geograph S t r a b o berichtet von der Tötung der Greise auf der Insel Ceos. Die Greise gaben sich selbst den Tod und baten darum, sobald sie sich für das Vaterland unnütz fühlten und Körper und Geist anfingen, schwach zu werden. Wie zu einem Fest versammelten sie sich, mit Kränzen geschmückt, um den Schierlingsbecher zu leeren.
Plutarch (40-120 n. Chr.) berichtet in einer Biographie über den Spartaner Lykurgos von dessen Gesetzgebung im 9. Jh. v o r Christus:
"Wenn ein Kind geboren wurde, hatte der Erzeuger nicht das Recht, zu entscheiden, ob es aufgezogen werden soll. Er mußte es vielmehr an einen Ort bringen, der die "Halle" genannt wurde. Dort saßen die Ältesten und besahen das Neugeborene. Wenn es wohlgefügt und kräftig war, so befahlen sie, es aufzuziehen Wenn es aber ungestaltet und entartet war, ließen sie es in einer Schlucht im Taygetosgebirge aussetzen."
Der römische Philosoph Seneca berichtet:
"Tolle Hunde, einen wilden und unbändigen Stier töten wir, sieches Vieh schlachten wir, Mißgeburten schaffen wir aus der Welt, selbst Kinder ertränken wir, wenn sie schwächlich und mißgestaltet zur Welt gekommen sind. Und es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, Untaugliches von Gesundem zu scheiden."
Laut Cicero durften auf Grund des altrömischen 12-Tafel-Gesetzes Mißgeburten nicht am Leben bleiben.
Auch die Germanen setzten mißgebildete Kinder aus und über, ließen sie dem Hunger oder den wilden Tieren.
Aus Neuguinea berichteten Forschungsreisende, daß die alten Stammesangehörigen, um ihren Stamm nicht mit ihrer Erhaltung zu belasten, sich freiwillig in die Wildnis zurückzogen, und sich dort dem Tode durch die wilden Tiere preisgaben.
Bei den ostafrikanischen Wanika, Waseguha und Wakykuyu werden Frühgeborene, mißgestaltete Kinder, ja schon solche, die in einer anderen als der Kopflage zur Welt kommen, getötet. Die Wasiba am Viktoriasee töten neugeborene Krüppel. Mißgestaltete Kinder werden von den Nyangea am Ufer des Tschiloango zur Zeit der Ebbe ausgesetzt, damit die rückkehrende Flut sie fortspüle und hinführe, woher sie gekommen sind.
Auch die Kaffern töten mißgestaltete Kinder. Die Basutos, bei denen schon jedes mit irgend einem Fehler behaftete und nicht in jeder Hinsicht gesunde Kind als Mißgeburt gilt, ertränken diese in einem Gefäß mit Wasser.
Die Buschmänner töten ebenfalls jedes mißgestaltete und schwächliche Kind.
Im Kaiser-Wilhelms-Land auf Neuguinea werden mißgestaltete Neugeborene sofort von den hilfereichenden Weibern erdrosselt.
Die grönländischen Eskimos töten ihre Mißgeburten.
Die Botokuden ertränken sie. Die Manaos am Amazonas begraben sie lebendig in ihrer Hütte.
Dem Heidentum schien das Leben nichts ohne Gesundheit des Leibes und des Geistes und den vollen Gebrauch der Glieder.
Bei Nahrungsmangel griff man oft zu den grausamsten Mitteln: Man tötete oft bis zu zwei Drittel der neugeborenen Kinder; Greise und unheilbar Kranke gaben sich oft selbst den Tod, um nicht unnütze Esser zu sein.
Es galt für recht, schwächliche Kinder auszusetzen, unheilbar Kranke durch Tötung von ihrer Qual zu erlösen.
Die Nichtachtung des Lebens bei Alter und Gebrechlichkeit bei vielen Naturvölkern würde uns noch barbarischer erscheinen, wenn sich nicht ergäbe, daß sie der Sinnesart und dem Willen der Greise selbst völlig entsprach. Es galt für erwünscht, im Bewußtsein letzter Kraft, vor dem herannahenden Siechtum zu sterben.
Die Gautrekssage berichtet, wie sich die Bewohner einer an der Grenze Westgotlands abgelegenen Gegend, wenn sie alt und des Lebens müde wurden, von einem hohen Felsen herabzustürzen pflegten.
Eine andere Sage (Olaf Tryggvasonar) erzählt ausdrücklich, daß zur Zeit strenger Kälte und Hungersnot auf Kland in offener Volksversammlung beschlossen wurde, alle Greise, sieche und lahme Menschen aufzugeben und verhungern zu lassen.
Auch die Heruler töteten ihre Greise und Kranken. (Prokop, Gotenkrieg. 2, 14.) Den Todesstoß aber mußte ein Fremder ausführen.
Aus verschiedenen Spuren können wir erkennen, daß an manchen Orten sich noch bis ins Mittelalter hinein die Sitte erhielt, Alte und Kranke zu töten.
Die "Nordfriesische Chronik" erzählt, daß
"die Tatern im jahr 1607 bei ihren abzuge ein altes Weib, so nicht langer vermochte mit ihnen fortzureisen, an dem kirchhofe zu Pellworm lebendig begraben, welches denn weiland bei den wendischen ländern ein ehrlicher und löblicher gebrauch ist gewesen".
Zeller (Episteln 529) erzählt von dem Brauche im Wagerlande gleichwie in andern Wendenlanden, daß die Kinder ihre altbetagten Eltern, Blutfreunde und andere Verwandte, auch die nicht mehr zum Kriege oder zur Arbeit dienstlichen töteten und daß auch die Alten selbst lieber sterben wollten, als daß sie in schwerem Alter länger leben wollten. Dieser Brauch sei lange bei den Wenden geblieben, insonderheit im Lüneburger Lande.
Von den alten Preußen meldet Praetorius (Weltbeschreibung):
"alte, schwache eltern erschlug der Sohn; blinde, schielende, verwachsene Kinder tötete der Vater durch schwert arme Kranke wurden unbefragt getötet eines edlen krankes Kind verbrannte man mit dem zuruf: "gehe hin, den göttern zu dienen, bis deine eltern dir folgen."
Ganz ähnliche Bräuche herrschten im Altertume der meisten Völker: bei den alten Römern, Griechen usw. (Cicero, pro Sext. Rosc. cap. 35. - Silius Italicus, Punica. 3, 328. - Valerius Flaccus, Argon. 6, 125. - Plinius, hist. nat. 4, 12. - Pomp. Mela, de situ orb. 3, 5.)
Strabo berichtet (10), die Einwohner von Keos ließen die über 60 Jahre Alten Schierling trinken.
Nach Aellan, var. 3, 37, taten dies die Griechen freiwillig.
Timäus berichtet Ahnliches von den alten Sarden.
Hellanicus (496 n. Chr.) meldete von den Hyperboräern, sie führten die Sechzigjährigen vor das Tor und töteten sie. (Vgl. hiezu Clemens Alex., strom. 1., p. 131, Sylb.)
Nach Herodot (1, 216) töteten die Massageten ihre Alten.
Dasselbe berichtet Hieronymus adv. jovinianum, lib. 2.
Auch die Zigeuner sollen sich ihrer Alten, die sie nicht mehr mitschleppen können, entledigen.
Viele Reisebeschreiber erzählen gleiche Dinge von verschiedenen Naturvölkern: Alte, kraftlose Eltern werden von ihren Söhnen auf selbsteigene Bitte getötet, weil sie nicht mehr zur Jagd können, und damit sie in eine bessere Welt gelangen mögen.
Das Aussetzen und Töten von Greisen und Kindern ist keineswegs ein Ausfluß natürlicher Grausamkeit. Im Gegenteil ist bei allen bekannten Naturvölkern die Gutmütigkeit, das Stammesgemeinschaftsgefühl usw. sehr ausgebildet. Rührend sind die Berichte über zahllose Beweise der Kindesliebe. So brauchte, wer eine Buschfrau zur Sklavin wollte, nur ihr Kind zu stehlen: er war dann sicher, daß sich die Mutter freiwillig in die Sklaverei begeben würde, um das Los des Kindes zu teilen.
Bei den menschenfressenden Papuas wie bei den Alëuten herrscht die gleiche rührende Kindesliebe.
Auf der einen Seite das Töten der Greise, der Kranken und der kranken Kinder, auf der anderen Seite bei den gleichen Menschen die Berichte über größte Kindesliebe.
Ein Missionar erzählt über die Verzweiflung der Eltern über den Tod eines Kindes, das er selbst erst wenige Jahre vorher davor bewahrt hatte, bei der Geburt getötet zu werden.
Viele Fälle von Eltern- und Kindesliebe erzählt Waitz (Anthropologie der Naturvölker), so z. B. wie sich auf den Neuhebriden eine Mutter beim Verlust ihres Kindes selbst töten will, um es in der andern Welt zu behüten.
Der russische Bauer pflegte zu sagen: "Tschujvi wek zayedayu: Pora na pokvi!" - "Ich lebe anderen das Leben weg: es ist Zeit zu gehen", und er geht.
Ablehnende Stimmen zum Euthanasie-Problem
Von vornherein steht fest, daß alle kirchlichen Kreise die Euthanasie entschieden ablehnen.
Pius XII. erklärte:
"Die direkte Vernichtung des sogenannten 'lebensunwerten Lebens', des geborenen und des nichtgeborenen, die vor einigen Jahren in großer Zahl ausgeübt wurde, kann in keiner Weise gebilligt werden."
Der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet) schreibt in seiner "Ethik":
"Wo sollte auch, außer in Gott, der Maßstab für den letzten Wert eines Lebens liegen? In der subjektiven Lebensbejahung? Darin mag manches Genie von einem Idioten übertroffen werden. In einem Urteil der Gemeinschaft? Hier würde sich alsbald zeigen, daß das Urteil über sozial wertvolles Leben dem Bedarf des Augenblicks und damit der Willkür ausgesetzt wäre und daß bald diese, bald jene Gruppe von Menschen von dem Vernichtsurteil getroffen würde."
Prof. Dr. Karl Engisch spricht sich gegen die Euthanasie aus in seinem Aufsatz: "Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens in strafrechtlicher Beleuchtung", in "Lebendige Wissenschaft", Heft 7, Kreuzverlag. Stuttgart. 1948.
Dr. Meltzer und D. Martin Ulbricht, zwei Anstaltsleiter derartiger Anstalten, sprechen sich gegen die Euthanasie aus.
Dr. Meltzer zieht aus seiner Praxis folgende Schlußfolgerung:
"Die Abkürzung lebensunwerten Lebens, soweit es sich um Idioten oder gar um Geisteskranke handelt, ist aus ethischen und praktischen Gründen abzulehnen."
D. Martin Ulbricht schreibt (in Dürfen wir minderwertiges Leben vernichten?") 1923:
"Sie können nicht sprechen und denken, sich nicht beschäftigen, sie müssen gehoben, getragen und gefüttert werden; sie sind unreinlich und unleidlich; sie gleichen vegetierenden Fleischklumpen, deren Lebensäußerungen in nichts anderem bestehen, als im Essen, Trinken, Notdurftverrichten und Schlafen. Sie finden sich in Menge in den Anstalten der christlichen Liebestätigkeiten und in den Provinzialanstalten.
Da sieht man Klein- und Wasserköpfe, Vogelschädel, Mongoloide, Negroide, Aztekentyps, Strabisten, Menschen mit erschlafften Gliedern, mit ekelerregenden Fisteln, widerlichen Ausschlägen, zerfressenem Gesicht, Tobsüchtige, welche den Besessenen der Bidlen gleichen, Epileptiker, deren ganzes Leben aus einer Kette nervenzerrüttender Anfälle besteht usw."
Trotzdem lehnt Ulbricht die Gnadentötung ab:
"Die Euthanasie will Aufgaben abtun, die ihre Anhänger auf andere Weise für unlösbar halten. Die diakonische Arbeit aber kennt keine unlösbaren Aufgaben. Fälle, für die man vor 20 oder 30 Jahren keinen Rat wußte, werden jetzt ohne große Mühe gelöst "
Theologieprofessor Franz Walter ist ein ausgesprochener Gegner der Euthanasie. Sein Buch "Die Euthanasie und die Heiligkeit des Lebens" erschien 1935. Max-Huber-Verlag, München.
Bejahende Stimmen zum Problem der Euthanasie
Im alten Rom durften Mißgeburten nicht am Leben bleiben.
(Marcus Tullius Cicero.)
"Es ist Vernunft, Untaugliches von Gesundem zu trennen."
(Lucius Annaeus Seneca.)
"Das vom Teufel besessene Stück Fleisch ohne Seele sollte man ersäufen."
(Martin Luther.)
Aus dem Werke Prof. Karl Binding und Alfred Hoche Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form":
" Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?
Man braucht diese Frage nur zu stellen, und ein beklommenes Gefühl regt sich in jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit abzuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wie verschwenderisch wir mit dem wertvollsten, vorn stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben umgehen, und welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld und Vermögensaufwand wir darauf verwenden, um lebensunwertes Leben so lange zu erhalten, bis die Natur - oft so mitleidlos spät -sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt
Es läßt sich in keiner Weise bezweifeln, daß es Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung, außer dem einen, ein Vorbild größter Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzen stiftet.
Ist dem aber so - gibt es in der Tat menschliche Leben, an deren weiterer Erhaltung jedes vernünftige Interesse dauernd geschwunden ist - dann steht die Rechtsordnung vor der verhängnisvollen Frage, ob sie den Beruf hat, für deren unsoziale Fortdauer tätig einzutreten oder - unter bestimmten Voraussetzungen ihre Vernichtung freizugeben "
Binding schränkt die Freigabe der Vernichtung durch die Forderung ein, daß auf jeden Fall der Lebenswille - und sei es des kränksten und nutzlosesten Menschen - unbedingt zu achten sei. Keine Rechtsordnung könne gestatten, den Lebenswillen eines Menschen gewaltsam zu brechen.
Binding schreibt:
"Selbstverständlich kann auch gegenüber dem Geistesschwachen, der sich bei seinem Leben glücklich fühlt, von einer Freigabe der Tötung nie die Rede sein."
"Die in Betracht kommenden Menschen zerfallen in 2 Gruppen
1. in jene unrettbar Verlorenen, die in vollem Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendwelcher Weise zu erkennen geben Ich kann nur vom rechtlichen, dem sozialen, dem sittlichen und dem religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund finden, die Tötung solcher, den Tod dringend verlangender Unrettbarer nicht freizugeben: ja, ich halte diese Freigabe für eine Pflicht gesetzlichen Mitleids
2. Die zweite Gruppe besteht aus den unheilbar Blödsinnigen Sie haben weder den Willen zu leben, noch den Wunsch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt dies auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen, wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbare schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter Da sie großer Pflege bedürfen, gaben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht und sich verströmt, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen. Daß darin eine furchtbare Widersinnigkeit, ein Mißbrauch der Lebenskraft zu ihrer unwürdigen Zwecken enthalten ist, läßt sich nicht leugnen.
Wieder finde ich weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet, nicht freizugeben. Natürlich an jedermann! In Zeiten höherer Sittlichkeit würde man diese Menschen wohl amtlich von sich selbst erlösen Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheuerliche Kapital in Form von Lebensmitteln, Nahrung, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen völlig unproduktiven Zweck entzogen wird ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgebunden und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen (und Ballastexistenzen) dahinaltern, von denen nicht weniger 70 Jahre und älter werden "
Die ungeheure Schwierigkeit jedes Versuches, diesen Dingen irgendwie auf gesetzgeberischem Wege beizukommen, wird noch lange bestehen. Auch der Gedanke, durch Freigabe der Vernichtung völlig wertloser, geistig Toter eine Entlastung für unsere nationale überbürdung herbeizuführen, wird zunächst und vielleicht noch für weite Zeitstrecken lebhaftem, vorwiegend gefühlsmäßig vermitteltem Widerspruch begegnen, der seine Stärke aus sehr verschiedenen Quellen beziehen wird (Abneigung gegen das Neue, Ungewohnte, religiöse Bedenken, sentimentale Empfindungen usw. ). Die Art der Lösung dieses Konfliktes war bisher der Maßstab für den Grad der in den einzelnen Menschheitsperioden und in den einzelnen Bezirken dieses Erdballs erreichten Humanität, zu deren heutigem Niveau mühsamer Entwicklungsgang über die Jahrtausende hin, zum Teil unter wesentlicher Mitwirkung christlicher Vorstellungsreihen, geführt hat.
Vom Standpunkt einer höheren staatlichen Sittlichkeit aus gesehen kann wohl nicht bezweifelt werden, daß in dem Streben nach unbedingter Erhaltung lebensunwerter Leben Übertreibungen geübt worden sind Ein Überblick über die Reihe der Ballastexistenzen und ein kurzes Nachdenken zeigt, daß die Mehrzahl davon für die Frage einer bewußten Abstoßung, d. h. der Beseitigung, nicht in Betracht kommt. Wir werden auch in den Zeiten der Not, denen wir entgegensehen, nie aufhören, körperliche Defekte und Sieche zu pflegen, solange sie nicht geistig tot sind; wir werden nie aufhören, körperlich und geistig Erkrankte bis zum Äußersten zu behandeln, solange noch irgend eine Aussicht auf eine Anderung ihres Zustandes zum Guten vorhanden ist. Aber wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Roheit, sondern einen erlaubten, nützlichen Akt darstellt
Trotz allem wird in dieser Frage nur ein ganz langsam sich entwickelnder Prozeß der Umstellung und Neueinstellung möglich sein. Das Bewußtsein der Bedeutungslosigkeit der Einzelexistenzen gemessen an den Interessen des Ganzen, das Gefühl einer absoluten Verpflichtung zur Zusammenraffung aller verfügbaren Kräfte unter Abstoßung aller unnötigen Aufgaben, das Gefühl höchst verantwortlicher Teilnehmer einer schweren und leidvollen Unternehmung zu sein, wird in viel höherem Maße als heute, Allgemeinbesitz werden müssen, ehe die hier ausgesprochenen Anschauungen volle Anerkennung finden können.. ."
Aus dem Werk von Wolfgang Stroothenke, Lic. Theol., Erbpflege und Christentum" (L. Klotz Verlag, Leipzig, 1940):
"Zu Luthers Zeit wurden diese (schwachsinnigen Kinder) als Wechselbalg oder Kielkopf bezeichnet. Man glaubte, daß sie vom Teufel statt der geraubten richtigen Kinder unterschoben oder von ihm unmittelbar gezeugt wurden. Luthers Stellungnahme erfolgte anläßlich eines Falles in Dessau. Dort sah er ein zwölfjähriges Wechselkind, welches äußerlich einem richtigen Kinde ähnlich war. Sein Leben beschränkte sich aber nur auf Nahrungsaufnahme und Abgabe. Zu allen Vorgängen seiner Umgebung lachte oder weinte es gänzlich zusammenhanglos. Luther äußerte seine Meinung, daß - wenn er zu bestimmen hätte - er dieses Kind durch Ertränken töten würde. Solche Wesen sind nur ein Stück Fleisch ohne richtige menschliche Seele. Auch in der kirchlichen Gegenwart wird die Euthanasie vereinzelt anerkannt. (Sehe: Meltzer: 'Das Problem der Abkürzung lebensunwerten Leben') "
Aus dem Buche des amerikanischen Nobelpreisträgers Alexis Carrel, "Der Mensch, das unbekannte Wesen", DVA Stuttgart-Berlin, ohne Jahr):
"Es bleibt noch das Problem der zahllosen Minderwertigkeiten und verbrecherisch Veranlagten. Sie bedeuten eine unerhörte Belastung für den normal gebliebenen Teil der Bevölkerung Wir haben schon einmal davon gesprochen, daß gegenwärtig unerhörte Summen dafür verwendet werden, Gefängnisse und Irrenanstalten zu unterhalten, um die Bevölkerung vor unsozialen Elementen und Geisteskranken zu schützen. Wozu erhalten wir alle diese unnützen und schädlichen Geschöpfe am Leben? Warum verfährt die Gesellschaft mit den Verbrechern und Geisteskranken nicht auf sparsamere Weise? Es kann nicht so weitergehen, daß wir zwischen 'verantwortlich' und 'nicht verantwortlich' einen genauen Unterschied machen und die verantwortlichen, Schuldigen bestrafen, während die Täter eines Verbrechers, die wir für moralisch nicht verantwortlich, halten, geschont werden die Gemeinschaft muß vorstörenden und gefahrbringenden Elementen geschützt werden. Wie kann das geschehen? Bestimmt nicht dadurch, daß man immer größere und komfortablere Gefängnisse baut In Deutschland hat die Regierung energische Maßnahmen gegen die Vermehrung von Minderwertigkeiten, Geisteskranken und Verbrecherischen ergriffen. Die ideale Lösung wäre es, wenn jedes derartige Individuum ausgemerzt würde, soweit es sich als gefährlich erwiesen hat. Verbrechertum und Geisteskrankheit lassen sich nur verhüten durch fundiertes Wissen vom Menschen, durch Eugenik, durch Verbesserung der sozialen und Erziehungsverhältnisse und schließlich dadurch, daß man keinerlei sentimentale Rücksichten sprechen läßt. Bei kleineren Verbrechern könnte man den Übeltätern eine heilsame Lektion mit der Peitsche oder einem etwas wissenschaftlicher arbeitenden Züchtigungsmittel angedeihen lassen, was, wenn etwa noch ein kurzer Aufenthalt im Krankenhaus angeschlossen würde, die Dinge vermutlich in beste Ordnung brächte. Wer aber gemordet, mit Selbstladepistolen und Maschinengewehren bewaffnet einen Raubüberfall begangen, wer Kinder entführt, den Armen ihre Ersparnisse abgeknöpft, die Menschen in wichtigen Dingen bewußt mißleitet hat, mit dem sollte in humaner und wirtschaftlicher Weise Schluß gemacht werden Ebenso müßte man zweckmäßigerweise mit jenen Geisteskranken verfahren, die sich ein Verbrechen zuschulden kommen lassen. Die Gesellschaft muß endlich entschlossene grundsätzliche Maßnahmen treffen Vor einer solchen Notwendigkeit haben philosophische Dogmen und sentimentale Vorurteile zu verstummen "
Die Verantwortung Prof. Brandts vor dem amerikanischen Tribunal in Nürnberg (Prot. Seite 2447 ff.):
"Die Euthanasie hat den Anschein, grausam und unmenschlich zu sein. Das liegt an der Durchführung. Man kann aber die Euthanasie nicht von diesem Standpunkt, dem Tatsächlichen, allein aus betrachten, sondern muß vor allen Dingen auf das achten, was dahinterstand und dahintersteht. Dahinter stand: dem Menschen, der sich nicht selbst helfen kann und der unter entsprechenden quälenden Leiden sein Dasein fristet, eine Hilfe bringen. Diese Überlegung ist sicher nichts Unmenschliches. Die Euthanasie ist auch von mir nie als irgend etwas Nichtethisches oder Unmoralisches empfunden worden. Ich weiß, daß durch die äußeren Umstände der Durchführung, im wesentlichen immer wieder durch dieses Moment der Geheimhaltung, bedauerliche Zwischenfälle aufgetreten sind, trotz aller Bemühungen, diese zu verhindern. Es wurde hier erwähnt, daß an einer Stelle zwei Urnen geschickt worden seien. An einer anderen Stelle entstanden durch eine falsche Diagnose Schwierigkeiten. Das ist bedauerlich; aber es trifft nicht das Prinzip und kann meiner Meinung nach dieses Prinzip auch nicht erschüttern. Wenn man über diese Frage der Euthanasie sich offen ausspricht und sich bemüht, von einer ernsten Grundlage der Tatsachen aus sich zu verstehen, so wird meiner Meinung nach in der Zukunft ein Weg für die Durchführung zu finden sein. Das Problem als solches ist nicht neu; es hat schon immer bestanden und ist seit Jahrhunderten diskutiert worden Herr Prof. Leibbrand hat hier auf den alten Hippokrates verwiesen. Er meint damit den Abschnitt, durch den der Arzt aufgefordert wird, kein Gift, auch nicht auf Verlangen, dem Kranken zu geben. Es ist dies ein Dogma, das auf Grund unserer heutigen Diagnostik und unserer prognostischen Erkenntnisse und der Möglichkeit der Therapie und deren Grenzen in dieser Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Ich bin überzeugt, wenn Hippokrates heute lebte, würde er seinem Eid eine andere Fassung geben als in Athen, im Jahre 430 etwa, eine Pest wütete, und Hippokrates um Hilfe gebeten wurde, da hat er ganz einfach die Weisung erteilt, die Pestkranken liegen zu lassen, man könne ihnen doch nicht helfen Wenn heute der
alte Hippokrates zitiert wird, wird gesagt, man soll den Kranken und Schwerleidenden kein Gift geben, und ein Arzt, der heute so etwas deklamiert und behauptet, ist entweder verlogen oder ein Heuchler. Es gibt keinen Arzt, der heute nicht irgendwie einem Schwerleidenden Narkotika reicht und versucht, einem Sterbenden die letzte Stunde zu erleichtern. Man kann sagen, das sei keine Euthanasie. Auf alle Fälle ist es gegen den Sinn und den Eid Hippokrates. Es fängt damit an, daß man dem Schwerkranken, von dem man erwarten muß, daß er stirbt, keine Stimulantia und keine Herzmittel mehr gibt und der nächste Schritt ist der, daß man ihm Narkotika reicht. Man kann dann sehr wohl den Eid des Hippokrates in irgendeiner pharmazeutischen Fabrik in das Sprechzimmer hängen, aber es handelt niemand darnach. Außerdem erwartet der Patient, daß man ihm hilft und die Angehörigen erwarten es in gleicher Weise Daß diese Gedanken nichts zu tun haben mit der Vorstellung einer Ordnungs-Dämonie" ein Begriff, den Herr Leibbrand für Deutschland gebrauchte, geht daraus hervor, daß auch heute wieder in anderen Staaten und Ländern die Frage der Euthanasie erneut debattiert wird, daß sich entsprechende Exponenten der Kirche zusammenschließen, sowohl unter den evangelischen wie den Methodisten und den sich anschließenden Arztevereinigungen Es ist auch von kirchlicher Seite, ich möchte Luther erwähnen, oft gesagt worden, daß es sicher nicht ein gottgewolltes Dasein ist, das der Idiot führt. Luther hat es als Widernatur empfunden. Wenn im Zusammenhang mit unserer durchgeführten Euthanasie in den Jahren 1940 und 1941 in großer Zahl Schreiben eingegangen sind, die absolut verstehend und verständnisvoll waren, dann ist das eine Stimme, die dafür spricht. Ich möchte nicht auf die Unzahl von Literatur hinweisen, die sich mit der Euthanasie befaßt Aber eines ist notwendig: Wenn jemand über die Euthanasie urteilen will und sie beurteilen will, dann muß er in eine Irrenanstalt gehen und einige Zeit unter den Kranken verweilen. Darnach kann man ihm zwei Fragen vorlegen: Die erste: ob er selbst als Mensch so leben möchte, und die zweite: ob er einem Angehörigen zumuten möchte, in einer solchen Form sein Dasein zu fristen. Die Antwort darauf hat nichts mit Ordnungs-Dämonie, zu tun Und die Frage des Menschlichen, was menschlicher ist, einem solchen Wesen zu helfen, daß es ein ruhiges Ende findet, oder es weiter zu hüten und zu pflegen Es ist gelungen, ein hereditär dementes Kind mit einem angeborenen Hirndefekt einunddreißigeinhalb Jahre am Leben zu erhalten. Dieses Wesen hat einunddreißigeinhalb Jahre lang geschrien. Ich sehe in dieser Tatsache nichts, was man als menschlich bezeichnen kann Ich fühle mich durch die Ausübung der Euthanasie nicht belastet. Ich habe die Überzeugung, daß ich das, was ich in diesem Zusammenhang getan habe, vor mir selbst verantworten kann. Es war getragen von einem absolut menschlichen Empfinden. Ich habe nie etwas anderes beabsichtigt und etwas anderes geglaubt, als daß dadurch diesem armseligen Wesen das qualvolle Dasein abgekürzt wird. Ich bedaure im Zusammenhang einzig, daß durch die äußeren Umstände den Angehörigen damals ein unverantwortlicher Schmerz zugefügt wurde. Ich bin überzeugt, daß diese Angehörigen heute diesen Schmerz überwunden haben und daß sie heute selbst das Empfinden haben, daß ihre toten Angehörigen von einem Leiden erlöst wurden "
Das Gericht fällt ein unfaßbares, ungeheuerliches Urteil: Es verurteilt Prof. Brandt zum schmählichen Tode durch Erhängen durch Henkershand.
Prof. Brandts letzte Worte
Prof. Dr. Brandt, den kalte amerikanische Morgenthau-Rache an Clays Galgen brachte, beschämte die amerikanische Rachejustiz mit seinen letzten Worten.
Als Prof. Brandt unter dem Galgen stand, sprach er die unvergeßlichen Worte an die Adresse seines Henkers. Für alle Wissenden übertönten diese mannhaften Worte die würdelosen Schmeichelworte jenes anderen Brandt, der sich den Namen des Toten angeeignet hatte:
Brandt sagte:
"Ich stelle fest, daß dieses soeben verlesene Urteil eines amerikanischen Militärtribunals der formelle Ausdruck eines politischen Racheaktes ist. Dieses sogenannte Urteil dient - abgesehen von der bestrittenen Zuständigkeit - nicht der Wahrheitsfindung und nicht dem Recht. Man verstehe die Rabulistik, welche General Clay durch diesen Akt deckt, wenn der Ankläger des Nürnberger Prozesses feststellt, das Verfahren habe zwar gezeigt, daß Karl Brandt von den und den Versuchen nichts gewußt habe; da er es aber hätte wissen müssen, werde er nachträglich zum Mittäter. WIE KANN ÜBERHAUPT DIE NATION, WELCHE DIE SPITZE IN DER DURCHFÜHRUNG VON HUMANVERSUCHEN IN JEDER NUR ERDENKLICHEN FORM HAT, wie kann diese Nation es wagen, andere, welche höchstens die vorgemachten Versuchsanordnungen nachmachen konnten, deswegen anzuklagen und zu verurteilen? Und gar Euthanasie? Man schaue heute auf Deutschland und seine ausgeklügelte, hingehaltene Not! Da ist es freilich nicht verwunderlich, wenn die Nation, die vor der Menschheit ewig das Kainzeichen von Hiroshima und Nagasaki tragen wird, wenn diese Nation versucht, sich hinter moralischen Superlativen zu vernebeln. Es diktiert die Macht. Und diese Macht will Opfer. Wir sind solche Opfer! Ich bin solches Opfer! Aber ebenso darum ist es auch keine Schande, auf diesem Schafott zu sehen: ich diene hier bereit und mit ganzem Einsatz meinem Vaterland! Durch Kameraden vor mir ist es schon so geworden: Der Galgen von Landsberg ist das Symbol innerer Verpflichtung aller Aufrechten!
Ich bedaure als Offizier, daß Angehörige der amerikanischen Armee sich dazu hergeben, Handlanger für Heuchelei und politischen Mord zu sein und daß sie den Schild ihres Soldatentums weiterhin beflecken. Ich kann sie darum nicht hassen. Henker und ihre Mittler sind mir weder Partner noch Gegner. Ich habe für sie nur Verachtung, tiefste Verachtung. Mein Herz ist frei! Ich gedenke meiner Freunde, ich gedenke meiner Mitarbeiter im weitesten Sinne. Sie haben in dem furchtbaren Krieg ihre Pflicht phrasenlos erfüllt.
Ich gedenke meiner armen, mir heiligen Heimat, meines Volkes, seiner Jugend, die strebend sich bemüht und sieht, sich und das Ewige. In ihm fühle ich mich wohl und geborgen. Ich habe in dieser für mich feierlichen Stunde, dem Leben zu danken, daß es mich als ganzen Menschen nahm. Ich habe seine Schmerzen ertragen und es hat mir seine Freuden nicht vorenthalten. Ich habe das Schöne erlebt, wenn mir auch das Niedrige nicht erspart blieb. Der Begrenzung bin ich begegnet und ich durfte dennoch das Unendliche ahnen in Ehrfurcht und in heiterer Andacht.
Mein Dank für das schwere Glück eines Daseins ist mein Bekenntnis zum Leben! Ich wollte ihm dienen mit meinem ganzen Wesen. Ich wollte ihm Helfer sein! Aber immer habe ich mich bemüht und gesorgt und immer habe ich auch gekämpft für meine Überzeugung und um meines Gewissens willen: aufrecht, aufrichtig und mit offenem Visier. So sehe ich es und wollte ich das Leben. So habe ich gelebt: Nein ! So lebe ich !
Meine alten Eltern und mein tapferer Sohn brauchen sich meiner nicht zu schämen. Ich bin ihnen nahe und in unerschütterlicher Zuversicht verbunden. In Liebe ist mit mir meine Frau.
Ich bin bereit !"
So starb Professor Karl Brandt.
Die Europa-Korrespondenz berichtet in Folge 60/1960:
"Die DEUTSCHE WOCHENZEITUNG" vom 9. Jänner 1960 berichtete, daß britische Zeitungen zur Weihnachtszeit folgende Anzeigen brachten:
"Barmherzige Erlösung für unheilbar Leidende ist das Ziel der Euthanasie-Gesellschaft, 13 Prinze of Wales Terrace, London, W. S."
In Nürnberg hat der sehr ehrenwerte englische Richter SHAWCROSS deutsche Ärzte wegen Euthanasie zum Tode verurteilt.
Auf die sonderbare Rechtsauffassung des sehr ehrenwerten Richters Shawcross wirft auch folgende Mitteilung der Europa-Korespondenz, Folge 62/1960, ein bezeichnendes Licht:
"London. Lordchief Justice Englands, Lord Parker, hob in einem Berufungsverfahren ein Urteil des ehemaligen Nürnberg-Richters Shawcross gegen den Iren Pauric O'Toole auf, der von Shawcross wegen Diebstahl von Dynamit im Werte von 7 Schilling - etwa 6 DM - zu fünf Jahren verurteilt wurde. Während der Haft war O'Toole wegen Lesens irischer Zeitungen auf Wasser und Brotdiät gesetzt worden. Zur gleichen Zeit war ein anderer Mann wegen Besitzes von Sprengstoff angeklagt worden. Shawcross hatte den Mann gefragt, ob er Ire oder Mitglied der IRA sei. Als der Angeklagte verneinte, gab ihm Shawcross den Vorteil des juristischen Zweifels -benefit of the doubt - (in dubio pro reo) und sprach ihn frei, während er O'Toole zu fünf Jahren verurteilte. Lord Parker ordnete jetzt die sofortige Freilassung O'Tooles an."
Vgl. auch "Euthanasie und Menschenversuche". Psyche I/l, 1947, Seite 101 f. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg.
Im Mai 1947 erklärte der englische Arzt Dr. Barton auf dem Kongreß der "Gesellschaft für gesetzliche Zulassung freiwilliger Euthanasie":
"Ich möchte der erste Arzt sein, der in der Öffentlichkeit folgendes Geständnis macht:
'Ich, Edwin Alfred Barton, erkläre, daß ich unheilbaren Kranken, die sich vor Schmerzen krümmten, auf ihr Verlangen die befreiende Spritze verabreicht habe.
Ich habe es nicht oft getan, und ich war mir vom ersten Mal an klar, daß ich dadurch in den Augen der Justiz zum Mörder, und zwar zu einem gemeinen Mörder geworden bin, für den das Recht dieses Landes den Strick vorsieht. Ich fühle mich jedoch nicht als Mörder und ich empfinde keinerlei Gewissensbisse'."
Weder die englische ärztliche Gesellschaft noch die englischen Gerichte unternahmen etwas gegen Dr. Barton.
Prof. Werner C a t e l, einst Obergutachter für Hitlers Euthanasie-Programm tritt in seinem Buch "Grenzsituationen des Lebens" (Glock und Lutz Verlag, Nürnberg, 1963) für eine begrenzte Euthanasie ein.
Die Euthanisierung in Deutschland
Hitler vertrat für seine Person die Anschauung, daß nur der Gesunde das Recht zum Leben besitze. In seinem Buch "Mein Kampf" schrieb er 1923:
"Wenn die Kraft zum Kampfe für die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes."
Nach der Machtergreifung kam es zu folgenden Gesetzen:
1. "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 1. Juli 1933. Das Gesetz ordnete die Sterilisierung des an Geist und Körper unheilbar Erkrankten an.
2. "Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes" (Erbgesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935.
Als Erbkrankheiten im Sinne des erstgenannten Gesetzes galten: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Epilepsie (Fallsucht), erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere körperliche Mißbildung.
Das Gesetz bestimmte:
"Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden."
Das zweiterwähnte Gesetz verbot die Ehe:
"Wo einer der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten läßt oder, wo einer der Verlobten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses leidet."
Dieses Gesetz enthielt keineswegs rein deutsche oder gar nationalsozialistische Gedanken. Ähnliche Gesetze gab es auch in anderen Ländern, wie in der Schweiz und in Amerika.
Dr. Campbell, Ehrenpräsident der Eugenischen Forschungsgesellschaft in den USA, schrieb 1936 in den "Eugenical News":
"Bei den deutschen Maßnahmen zur Hebung der allgemeinen Erbgesundheit handelt es sich nicht um eine Erfindung politischer Opportunisten zur Befriedigung nationaler Eitelkeiten oder zur Entfachung rassischer Gegensätze. Was in Deutschland geschieht, ist vielmehr die Erfüllung langjähriger eugenischer Hoffnungen, an deren so rasche Verwirklichung viele Eugeniker gar nicht glauben konnten der bewußte Wille des deutschen Volkes, seinen kommenden Lebensgeschlechtern das Dasein zu sichern, verleiht ihm Lebensfreude und Aktivität."
Die Hunderttausende unheilbarer Geisteskranker wurden im Krieg durch die Not an Nahrungsmitteln und an Menschen zu einem drängenden Problem: es wurde vom Staate - unter Zustimmung der Ärzte - die Anwendung der Euthanasie verlangt. Es kam zur Anwendung der Euthanasie.
Zu einer gesetzlichen Regelung des Euthanasieproblems kam es niemals. Das Problem der Euthanasierung wurde dadurch akut, daß Gesuche zu Hitler kamen, in denen Eltern mißgestalteter, verkrüppelter und bresthafter Kinder baten, diese von ihrem Jammerdasein zu befreien.
Ende September, Anfang Oktober 1939 erklärte Hitler bei einer Besprechung über die Frage der Euthanasierung:
"Ich halte es für richtig, das lebensunwerte Leben unheilbar Geisteskranker durch Gnadentod zu beseitigen, um sie von ihrer Qual zu erlösen. Dies würde überdies auch die praktische Auswirkung haben, daß Gebäude, Ärzte und Pflegepersonal usw. anderen Zwecken dienstbar gemacht werden könnte."
In einem Erlasse vom 1. September 1939 legte Hitler fest:
"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestellender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."
Es war Hitlers Absicht, bei unheilbar Geisteskranken die Euthanisierung radikal durchzuführen.
"Im Jahre 1938 sagte Hitler dem Reichsärzteführer Wagner, daß er bei Ausbruch eines Krieges die Euthanasierungsfrage aufgreifen und durchführen werde, weil er der Meinung war, daß ein solches Problem während eines Krieges glatter und leichter auszuführen ist, da offenbar Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten waren, in dem allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden wie sonst "
(Ärzteprozeß, Aussage Prof. Dr. Karl Brandt.)
Tatsächlich wurde die Euthanasie in Deutschland nur an unheilbar Geisteskranken durchgeführt. Der Vollzug der Euthanasierung war an das Gutachten und die Entscheidung einer Ärztekommission gebunden. Der Kranke durfte nur dann euthanasiert werden, wenn der Schwachsinn oder Irrsinn durch die Kommission bescheinigt und die Euthanasierung für notwendig bzw. zulässig erklärt worden war.
Zuerst kam es zu einer Erfassung der Geisteskranken durch Meldebogen, die von den Heil- und Pflegeanstalten auszufüllen waren. Wie ernst und verantwortungsbewußt die deutschen Stellen an das Problem der Euthanasie herantraten, zeigt der Weg, den diese Meldebogen nahmen, ehe es zu einer Euthanasierung kam. je eine Photokopie der Meldebogen wurden drei voneinander unabhängigen Gutachtern übermittelt. Die drei Photokopien mit den gutächtlichen Vermerken der Gutachter erhielten nun die zwei Obergutachter und gegebenenfalls noch andere Universitätsordinarien. Ihnen oblag die endgültige Entscheidung, ob der Patient in eine Beobachtungsanstalt überwiesen wurde. Diese Beobachtungsanstalten dienten zur Sammlung der Patienten vor ihrer schubweisen Überführung in eine der Euthanasieanstalten wie: Brandenburg a. d. Havel, Hadamar (Hessen), Hartheim (bei Linz), Grafeneck (Württemberg), Irrsee bei Kaufbeuren, Sonnenstein bei Pirna u. a.
Die Euthanasierung erfolgte ohne Befragung der Angehörigen.
Die Begutachter hatten unabhängig voneinander jeder völlig freie Hand. Auch die bereits in der Beobachtungsstation und Euthanasieanstalt verlegten Patienten konnten wieder zurückgeschickt werden.
Nach der Aussage Prof. Dr. Karl Brandts wurden etwa 4 bis 6 Prozent der Patienten von den Euthanasieanstalten wieder zurückgeschickt:
"Es war jeder einzelne Arzt selbst verantwortlich für das, was er innerhalb dieser Maßnahmen, die bis zur Euthanasie, zum Ende, führten, zu tun hatte. Der eine Arzt war absolut selbst verantwortlich für die Art seiner Beurteilung, die er in dem Gutachten aussprach, der Obergutachter ebenso. Es war ebenso verantwortlich der Arzt der Beobachtungsanstalt, wie der Arzt der Euthanasieanstalt. Es ist unter keinen Umständen so aufzufassen, daß der in diesem Rahmen verpflichtete Arzt nur zur Durchführung einer Euthanasie verpflichtet gewesen wäre, wenn er nicht selbst auf Grund seiner eigenen Entscheidung damit einverstanden war. Er hatte umgekehrt und im Gegenteil die Verpflichtung, wenn er damit nicht einverstanden war, unter gar keinen Umständen eine Euthanasie durchzuführen.
"Der Arzt war durch diese Ermächtigung zunächst mit einer erheblichen Verantwortung belastet. Er war belastet durch seine Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, wie durch seine Mitverantwortung für das Weiterleben dieses Menschen Die Verantwortung lag auf jedem der daran Beteiligten. Es gab, ich schätze etwa 10 bis 15, es können aber auch 20 Gutachter gewesen sein, die nach entsprechenden Anweisungen und Erklärungen und Unterweisungen, die sie erhalten hatten, ihre Tätigkeit ausübten. Entscheidend kam hierzu, daß das Staatsoberhaupt selbst den Auftrag hierzu erteilt hatte und ich sicher nicht erwarten konnte, daß ich durch einen Erlaß des Staatsoberhauptes eine kriminelle Handlung zudiktiert bekäme Es zeigte sich auch, daß alle und überall so handelten, als ob alles in Ordnung sei; für uns war auch alles in Ordnung." (Protokoll, Seite 2436 1.)
Anfänglich erfolgte die Euthanasierung durch Vergasung. In der Regel bekamen die Patienten vor der Vergasung eine Einspritzung von 2ccm Morphium-Skopolamin. Diese Einspritzungen wurden durch den Arzt verabreicht. Später hörte man mit der Vergasung auf und euthanasierte die Patienten durch Veronal, Luminal und Morphium-Skopolamin, und zwar durch Einspritzung oder durch Tabletten. (Vgl. hiezu die eidesstattliche Erklärung der Oberschwester P. Kneissler Doc. No. 470.)
Vergasungseinrichtungen, die sich nur für Einzelvergasungen eigneten, gab es nur in sehr wenigen, ganz bestimmten Anstalten, so in Frageneck, Hadamar in Brandenburg an der Havel, Bernburg, Kaufbeuren bei Irrsee (wo übrigens sogar nach der Besetzung durch die Amerikaner und mit deren voller Zustimmung weiter geistesgestörte Kinder vergast wurden), im Schloß Hartheim, in Eichberg und in Sonnenstein.
Nach der Aussage von Prof. Brandt waren ursprünglich von der Euthanasierung ausgenommen:
" kriegsverletzte Geisteskranke aus kriegspsychologischen Erwägungen und J u d e n. Diese deshalb, weil die Staatsführung diese Wohltat nur Deutschen gönnte es sollte, wie Bouhler sich ausdrückte, diese Wohltat nur Deutschen zukommen " (Protokoll, Seite 7758.)
Die Geheimhaltung der Euthanasie selbst vor den engsten Familienangehörigen zeigte sehr unangenehme Folgen. Die Hinterbliebenen erhielten von der Heilanstalt, in der die Euthanasierung erfolgte, etwa folgende Todesnachricht:
"Landespflegeanstalt , den
Betr
Sehr geehrte Frau (Herr) Es tut uns aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihre Tochter (Sohn) die (der) am im Rahmen der Maßnahmen des Reichverteidigungskommissars in die hiesige Anstalt verlegt werden mußte, hier am plötzlich und unerwartet an einer Hirnschwellung verstorben ist. Bei der schweren geistigen Erkrankung bedeutete für die Verstorbene das Leben eine Qual. So müssen Sie ihren Tod als eine Erlösung auffassen. Da in der hiesigen Anstalt zur Zeit Seuchengefahr herrscht, ordnete die Polizeibehörde die sofortige Einäscherung des Leichnams an. Wir bitten um Mitteilung, an welchen Friedhof wir die Übersendung der Urne mit den sterblichen Überresten der Heimgegangenen veranlassen sollen
Etwaige Anfragen bitte schriftlich hierher zu richten, da Besuche hier zur Zeit aus seuchenpolizeilichen Gründen verboten sind "
Da ereignete es sich auch, daß manche Familien zwei Urnen erhielten oder daß als Todesursache etwa akute Blinddarmentzündung angegeben war, indes die Euthanasierte längst blindarmoperiert gewesen war.
Auch die kirchlichen Kreise, und zwar sowohl die evangelischen wie die katholischen, wendeten sich mit heftigen Protesten gegen die Euthanasierung.
Aus dem Schreiben des Erzbischofs von München-Freising, Kardinal Faulhaber, vom 6. November 1940 an den Reichsjustizminister (Schlußsätze):
"Wir verstehen, wenn in Kriegszeiten außerordentliche Maßnahmen getroffen werden, um die Sicherheit des Landes und die Ernährung des Volkes sicherzustellen. Wir sagen dem Volk, daß es bereit sein muß, in Kriegszeiten auch große Opfer, auch Blutopfer, in christlichem Opfergeist auf sich zu nehmen und begegnen mit Ehrfurcht den Trägerinnen des schwarzen Schleiers, die für das Vaterland das Opfer eines teuren Lebens gebracht haben. Die unveräußerlichen Grundlagen der sittlichen Ordnung und die Grundrechte des einzelnen Menschen dürfen aber auch in Kriegszeiten nicht außer Kraft gesetzt werden."
Grundlegender Fehler bei Durchführung der Euthanasie war, daß nicht versucht wurde, vorher durch Aufklärung und entsprechende Propaganda die Zustimmung der öffentlichen Meinung und vor allem der betroffenen Angehörigen zu gewinnen, weiters die verhängnisvolle Geheimhaltung, die allen möglichen Gerüchten Tor und Tür öffnete und in erster Linie die Tatsache, daß die Frage der Euthanasie nicht durch ein klares, offenes Gesetz geregelt wurde. Diesen Bedenken gibt auch ein Brief des Leiters der Heil- und Pflegeanstalt Stetten, Pastor Schlaich, Ausdruck, aus dem ich im nachstehenden zitiere. (Vgl. Ärzteprozeß Doc. No. 530):
" Da auch aus der von mir geleiteten Anstalt je 75 der mir anvertrauten Kranken am 10. und 13. September in eine solche Anstalt verlegt werden sollen, erlaube ich mir die Frage: Ist es möglich, daß eine solche Maßnahme vollzogen wird, ohne daß ein diesbezügliches Gesetz darüber verkündet worden ist? Ist nicht jeder Staatsbürger verpflichtet, jeder nicht durch die Gesetze gedeckten, ja durch die Gesetze verbotenen Handlung unter allen Umständen Widerstand entgegenzusetzen, auch wenn sie von staatlichen Organen vollzogen wird? Infolge der völligen Heimlichkeit und Undurchsichtigkeit, in der diese Maßnahmen vollzogen werden, entstehen nicht nur die wildesten Gerüchte im Volk (z. B.: daß auch wegen Alters oder im Weltkrieg erworbener Verletzungen arbeitsunfähige Leute beseitigt worden seien oder beseitigt werden sollten), sondern auch der Eindruck, als ob bei der Auswahl der von dieser Maßnahme betroffenen Personen eine völlige Willkür herrscht. Wenn der Staat tatsächlich die Ausrottung dieser Kranken oder doch gewisser Arten dieser Geisteskranken durchführen will, müßte da nicht ein klares, vor dem Volk offen verantwortetes Gesetz verkündet werden, das jedem einzelnen die Gewähr sorgfältiger Prüfung seiner Todesverfallenheit oder Lebensberechtigung bietet und auch den Angehörigen die Möglichkeit zur Äußerung geben würde, ähnlich wie das beim Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses der Fall ist."
Im März 1941 wendet sich auch der Staatssekretär im ReichsjJustizministerium, Dr. Schlegel, noch einmal an den Chef der Reichskanzlei (Ärzteprozeß Doc. 681 PS):
"Ich glaube, Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken zu müssen, daß die Vorgänge (die Euthanasierung) mittelbar in zahlreiche Gebiete der Reichsjustizverwaltung eingreifen und zu einer bedenklichen Unsicherheit ihrer Arbeit führen. Im wesentlichen handelt es sich um folgende Gebiete: Im Vormundschaftswesen haben sich daraus Unzulänglichkeiten ergeben, daß Richter der Verlegung Geisteskranker, die unter Vormundschaft oder Pflegeanstalt standen, in andere Heilanstalten widersprochen haben. Vielfach haben die Gerichte weder über den Verbleib, noch über die persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten einer Vormundschaft oder Pflegschaft, noch über den Verbleib, noch über das Ableben geisteskranker Mündel amtliche Nachricht erhalten, der Verkehr zwischen Vormund und Mündel, laufende persönliche Anfragen der Angehörigen die Behörden instand setzen müssen, jederzeit die Anschrift und das weitere Schicksal zu nennen "
"Für die Staatsanwaltschaft entstehen auch insoferne Schwierigkeiten, als Angehörige oder dritte Personen Strafanzeige wegen Mordes an Verschwundenen machten Einzelheiten über die in der Strafgerichtsbarkeit aufgetretenen Schwierigkeiten bitte ich dem anliegenden Heft 2 zu entnehmen. Erhebliche Bedenken ergeben sich für die Justizbehörde bei der Durchführung von Verfahren auf Grund des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe gegen Staat und Partei, soweit die Äußerungen der Beschuldigten die Tötung Lebensfähiger zum Gegenstand haben. Da die Beseitigungsmaßnahmen geheimgehalten werden, sind in der Bevölkerung die verschiedensten Gerüchte verbreitet, die von den staatsverneinenden Elementen geschürt und ins Maßlose gesteigert werden, Die Geheimhaltung und die allgemeine Ungewißheit über den Umfang der Maßnahmen erweisen sich als Nährboden für die Verbreitung von Gerüchten des Inhalts, daß auch geistig gesunde Insassen von Vollzugsanstalten, ja sogar Kriegsbeschädigte und arbeitsunfähige alte Volksgenossen, sowie politisch unerwünschte Personen in die Maßnahmen einbezogen würden. Die Durchführung des Heimtückeverfahrens wegen Verbreitung solcher Äußerungen erscheint auch in nicht öffentlicher Verhandlung besonders bedenklich, da die Aufklärung der einzelnen Tatbestandsmerkmale das ganze Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens aufrollen würde. Andererseits werden auf diese Weise gewissenlose Hetzer ihrer gerechten Strafe entgehen. Das Vertrauen in die deutsche Ärzteschaft, insbesondere in die Leitung der Heil- und Pflegeanstalten, erleidet schwere Erschütterung. Es werden Stimmen laut, die solche Todesfälle auf ärztliche Kunstfehler zurückführen und der Meinung sind, Geisteskranke würden für militärische Versuche, z. B. zur Erprobung von Giftgasen und anderen Kampfmitteln, verwendet "
Die deutschen Rechtslehrer sprachen sich zwar für echte Sterbehilfe, für Euthanasie bei einem im Erlöschen befindlichen Leben aus, lehnten aber ein Gesetz zur Vernichtung lebensunwerten Lebens ab.
Der Widerstand der öffentlichen Meinung und die heftigen Proteste veranlaßten den Reichsminister für Justiz, sich sowohl an das Reichsinnenministerium wie an Hitler selbst wegen einer ordnungsgemäßen gesetzlichen Regelung dieser Frage zu wenden. Der Justizminister erhielt eine ablehnende Antwort: der Führer lehnte es ab, ein Euthanasiegesetz zu erlassen. Die Lage für die Justizbehörde wurde dadurch immer unhaltbarer. In einem Brief des Justizministers an den Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, heißt es (Ärzteprozeß Doc. No. 709):
" (Nachdem der Führer es abgelehnt hat, ein Euthanasiegesetz zu erlassen), ergibt sich daraus nach meiner Überzeugung die Notwendigkeit, die heimliche Tötung von Geisteskranken sofort einzustellen. Das heutige Verfahren ist nicht zuletzt durch die versuchte Tarnung so rasch und weithin bekanntgeworden. Zu welchen Peinlichkeiten das führt, bitte ich aus den Beilagen zu entnehmen. Die Zahl solcher Anfragen wird sich mehren. Es ist ungewöhnlich mißlich, darauf einen Bescheid zu geben, denn weder die Tatsache noch der Inhalt einer Anordnung kann erkennbar gemacht werden. Der Standpunkt aber, die Reichsjustizverwaltung wisse von dem ganzen Verfahren nichts, ist den eigenen Behörden gegenüber unmöglich."
Es erfolgte die Abstoppung der Euthanasie-Aktion. Himmler war angesichts des Widerstandes der öffentlichen Meinung schon viel früher der Ansicht gewesen, die Euthanasie einzustellen und die Bevölkerung zuerst durch Aufklärung zu der Erkenntnis der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Euthanasie zu erziehen.
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