Der Giftmordfall Marie Besnard
Von Christian Müller
In den Jahren 1949 bis 1961 wurde im Südwesten Frankreichs ein Prozeß verhandelt, der damals in Frankreich ebenso viel Aufsehen erregte wie der Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß kurz vorher oder der Frankfurter Auschwitzprozeß kurz danach: der Strafprozeß gegen Marie Besnard, die angeklagt war, zwölf Menschen mit Arsen vergiftet zu haben. Für uns ist es heute nicht mehr interessant, ob die Angeklagte schuldig war oder nicht. Interessant ist das Aufgebot an hochkarätigen Gutachtern, die die Giftmordthese beweisen oder widerlegen sollten, die langjährige Diskussion um Probenentnahmen, Analysen, Konzentrationen, um die Abgrenzung des in den Proben gefundenen Gifts von ubiquitärem Arsen, kurz gesagt alles, was zu einem rechtsstaatlich geführten Giftmordprozeß gehört und was man im Fall Auschwitz, der auch ein Giftmordfall ist, so vollständig vermißt. Natürlich ist Arsen etwas anderes als Cyanwasserstoff, aber es kommt hier nicht auf das Stoffliche an, sondern auf das Formale, auf die rechtlich und wissenschaftlich korrekte Vorgehensweise.
Marie Besnard war Bäuerin in dem Städtchen Loudun, das etwa 5000 Einwohner hatte. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1947 und dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1949 verbreiteten sich Gerüchte, sie habe die beiden vergiftet. Der zuständige Untersuchungsrichter in Poitiers eröffnete die Untersuchung, mußte aber bald feststellen, daß die Zeugenaussagen nicht viel hergaben. Im besten Falle waren es Aussagen vom Hörensagen, meistens aber nur Dorfklatsch. Zeugenaussagen des letzteren Typs waren dafür besonders zahlreich. Die Anklage mußte daher den Beweis des Giftmords durch ein toxikologisches Gutachten führen. Dr. Georges Béroud, der mit der Untersuchung beauftragt wurde, war der Leiter des Polizeilabors in Marseille, der angesehenste Toxikologe in Südfrankreich, u. a. Verfasser eines bekannten Lehrbuchs. Er ließ die Leiche des Ehemannes exhumieren und von zwei Ärzten Proben der für die Analyse wichtigsten Organe entnehmen, die in Schraubdeckelgläser verpackt und nach Marseille geschickt wurden. Die Analyse mit dem Marshschen Apparat ergab einen Arsengehalt von bis zu 37 mg/kg, was allgemein als eindeutiger Beweis für einen Giftmord galt. Daraufhin wurde auch die Leiche der Mutter exhumiert. Die Arsenkonzentration betrug hier 58 mg/kg. Am 21. 7. 1949 wurde Marie Besnard verhaftet.
Der Verdacht gegen sie verdichtete sich. Insgesamt zehn weitere Leichen wurden exhumiert und untersucht, Leichen von Verwandten und Freunden, die sie beerbt und möglicherweise vorher mit Arsen ermordet hatte. Am längsten hatte die Leiche ihres ersten Ehemannes in der Erde gelegen. Er war 1927 gestorben. Von ihm und von einigen anderen waren nur mehr Knochen und Haare vorhanden, aber gerade am Haar ließ sich nach Überzeugung der Toxikologen eine Arsenvergiftung am besten nachweisen.
Dr. Béroud untersuchte Hunderte von Proben, sowohl mit dem Marshschen Apparat wie auch mit Kolometrie, und fand Arsenkonzentrationen zwischen 18 und 60 mg/kg. Zur Sicherheit bestimmte er auch den Gehalt der Friedhofserde an löslichen Arsenverbindungen. Der war so gering, daß nach seiner Überzeugung der in den Leichen gefundene Arsengehalt keinesfalls mit einer Einwanderung von Arsenverbindungen aus der Erde in die Leichen erklärt werden konnte.
Der Prozeß gegen Marie Besnard, der am 20. 2. 1949 in Poitiers eröffnet wurde, endete gleichwohl für die Anklage vorläufig mit einem Fiasko. Schuld daran – oder das Verdienst daran – hatte der Verteidiger der Angeklagten, der Pariser Staranwalt Pierre Gautrat, Ritter der Ehrenlegion, der nicht nur ein Meister der forensischen Taktik war und über ausgezeichnete Beziehungen zum Pariser Establishment verfügte, sondern auch, was bei Juristen selten ist, über die neuesten Entwicklungen der Naturwissenschaften im Bilde war und sie so weit verstand, daß er sie für seine Sache nutzen konnte. Mit dem Gutachter Béroud war er schnell fertig. Er konnte nachweisen, daß Béroud weitaus mehr Proben untersucht hatte, als von Loudun aus an ihn abgeschickt worden waren, daß also offenbar Proben aus anderen Fällen unter das Untersuchungsmaterial geraten waren, daß Proben vertauscht worden waren, daß einige Glasgefäße schon vor dem Befüllen mit den Proben mit unbekannten Substanzen verschmutzt gewesen waren usw. Am schlimmsten war ein Brief, den Béroud an den Untersuchungsrichter geschrieben hatte, und in dem es hieß:
»Falls Sie mein Analysenbericht nicht befriedigen sollte, bitte ich Sie, mich zu verständigen, damit ich die nötigen Änderungen vornehme«.
Béroud hatte damit wahrscheinlich nur die Form der Darstellung gemeint, aber man konnte das ebenso gut auf den Inhalt beziehen.
Der Gerichtspräsident brach die Sitzung ab und verabredete mit den Parteien, daß neue Gutachten eingeholt werden sollten. Diesmal wollte die Anklage kein Risiko eingehen und berief die vier bekanntesten Fachleute Frankreichs: den Gerichtsmediziner Henri Piedelièvre, Kommandeur der Ehrenlegion, René Fabre, Professor der Toxikologie an der Pariser Universität, seinen Vorgänger E. Kohn-Abrest und den Leiter des toxikologischen Labors der Pariser Polizeipräfektur, Henri Griffon. René Fabre wurde außerdem von seinem Kollegen und früheren Schüler Professor René Truhaut assistiert. Piedelièvre richtete sich ein Büro in der Friedhofskapelle ein und überwachte die Probennahme. Jeder Fehler sollte vermieden werden. Die Untersuchungen dauerten zwei Jahre. Man entnahm Bodenproben aus den verschiedenen Tiefenschichten, man vergrub Haarbüschel an Stellen, wo die Arsenkonzentration besonders hoch war. Der Arsengehalt wurde sowohl mit den schon von Béroud angewendeten klassisch-naßchemischen Methoden wie auch mittels Spektralanalyse bestimmt – Griffon wendete sogar die damals ganz neue Neutronen-Aktivierungs-Analyse an. Die Ergebnisse von Béroud wurden im Großen und Ganzen bestätigt. Der Arsengehalt der vergrabenen Haarbüschel hatte nicht meßbar zugenommen und lag um ein bis zwei Größenordnungen unter dem, den man in den Haaren der mutmaßlichen Mordopfer gefunden hatte.
Der Verteidiger studierte indessen alles an Fachliteratur über Arsen, was er finden konnte, und stieß auf Veröffentlichungen von Henri Ollivier, dem Chef des Labors der Medizinischen Fakultät der Universität Paris, und Lepeintre, Leiter des Labors der Pariser Wasserwerke. Sie hatten festgestellt, daß anaerobe Bodenbakterien unlösliche Arsenverbindungen in lösliche umwandelten und umgekehrt, daß sie sich besonders in zerfallendem Eiweiß und im Haar von Leichen ansiedelten, weil sie für ihren Stoffwechsel Schwefel brauchten, und daß es dort zu erheblichen Anreicherungen von Arsen kommen konnte. Gautrat fand noch zwei weitere Forscher, die auf diesem Gebiet tätig waren, den Pariser Kliniker Professor Jean-Paul Truffert und Professor Jean Keiller vom Institut National Agronomique, einer der großen Forschungseinrichtungen Frankreichs.
Damit nicht genug, glaubte er auch in der Neutronen-Aktivierungs-Analyse Griffons schwache Punkte zu entdecken. Er ließ sich dabei von dem Atomphysiker Lebreton und dem Gerichtsmediziner Professor Derobert beraten.
Am 15. 3. 1954 wurde der Prozeß wieder aufgenommen, diesmal in Bordeaux. Beide Seiten ließen nacheinander ihre Gutachter auftreten. Die Arsengehalte in den Leichen, die Béroud fünf Jahre vorher gefunden hatte, wurden im wesentlichen bestätigt. Hätte man sie in frischen Leichen gefunden, wären sie eindeutige Beweise für eine Arsenvergiftung gewesen. Wie die Gutachter der Verteidigung aber ausführten, ließ sich nicht ausschließen, daß das Arsen durch noch wenig erforschte mikrobiologische Vorgänge in die Leichen gelangt war. Auch die neue Wunderwaffe Neutronen-Aktivierungs-Analyse erwies sich als stumpf. Gautrat zeigte auf, daß Griffon die Expositionszeit der Proben aus Mangel an Erfahrung unrichtig oder jedenfalls nicht optimal gewählt hatte und daß die gemessene Emission ebenso gut vom Natrium stammen konnte wie vom Arsen. Das Gericht war wieder so weit, wie es 1952 schon gewesen war: es beschloß, neue Gutachten in Auftrag zu geben. Die Angeklagte wurde vorläufig freigelassen.
Dem Staatsanwalt gelang es, den berühmtesten Atomphysiker Frankreichs, den Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie, als Gutachter zu gewinnen. Dieser wiederholte die Neutronen-Aktivierungs-Analyse an den Haaren der Toten und stellte fest, daß Griffons Analyse zwar ungenaue, aber im wesentlichen richtige Ergebnisse geliefert hatte. Das Gericht berief ferner den Toxikologen Professor René Truhaut, der schon 1952 als Assistent von Fabre mitgewirkt hatte, den Mikrobiologen Professor Albert Demolon und nach dessen Tod Professor Maurice Lemoigne, beide vom Institut Pasteur in Paris. Die Untersuchungen nahmen sieben Jahre in Anspruch. Der Friedhof von Loudun kam nicht mehr zur Ruhe. Man exhumierte Leichen, die nichts mit dem Fall zu tun hatten, und untersuchte sie zum Vergleich auf Arsen, man vergrub Haarbüschel und tote Tiere, von denen einige mit Arsen vergiftet worden waren, man baute im Labor ein Stück Friedhof im Maßstab 1:1 nach, um daran die kapillare Wasserwanderung zu untersuchen. Die Verteidigung benannte als zusätzlichen Gutachter den Mikrobiologen Dr. Bastisse.
Am 17.11.1961 trat das Gericht wieder zusammen. Wieder trugen die Gutachter ihre Argumente vor, zunächst kontrovers, aber schließlich doch mit dem Konsens, daß die mikrobiologischen Vorgänge vorläufig noch so unerforscht und rätselhaft seien, daß letzte Sicherheit in der Frage der Giftmorde nicht möglich sei. Die Angeklagte wurde wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.
Ein riesiger, staunenswerter Aufwand an Gutachten und an Gutachtern hatte letzten Endes zu nichts geführt. Fünfzehn Gutachter, davon neun mit Professorentitel, darunter auch ein Nobelpreisträger, sieben große, aus öffentlichen Mitteln finanzierte Laboratorien, zehntausende von Einzelanalysen, zwölf Jahre Untersuchungen, bis der letzte Zweifel ausgeräumt war oder aber bis feststand, daß der letzte Zweifel eben nicht ausgeräumt werden konnte: war das nötig? Man kann sich diese Frage stellen, aber wer den Rechtsstaat und die Wissenschaft ernst nimmt, der muß sagen: ja, das mußte sein. Solange nicht Klarheit besteht, wie eine Tat begangen wurde, und ob sie überhaupt begangen wurde, muß der Tatbestand weiter erforscht, müssen die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Untersuchung bis zum Letzten ausgenutzt werden, bis, wie es im Fall Marie Besnard geschehen ist, es im Lande keinen Wissenschaftler mehr gibt, der etwas Neues zu der Sache hätte sagen können und der noch nicht gehört worden ist.
Wie sieht es im Vergleich mit den toxikologischen Gutachten im Fall Auschwitz aus? Das Krakauer Gutachten von 1945 im Prozeß gegen Höß kann man vergessen. Es ist kaum etwas davon bekannt, und das wenige, das bekannt ist, macht keinen guten Eindruck. Aus einer Bemerkung bei Jean-Claude Pressac geht z.B. hervor, daß der Gerichtschemiker in der Korrosionsschicht der verzinkten Lüftungsgitter Cyanide nur qualitativ nachgewiesen hat. Das ist in diesem unseren Jahrhundert für jeden Chemiker ein Armutszeugnis. Das nächste Gutachten ist das von Fred Leuchter. Seine Gegner werfen ihm vor, er sei gar kein "richtiger" Ingenieur. Das ist lächerlich. Er hat sicherlich nicht die Voraussetzungen, um einen dem deutschen Diplomingenieur vergleichbaren Titel zu führen. Aber er ist der einzige Mensch auf der Welt, der Gaskammern für die Tötung von Menschen mit Cyanwasserstoff schon einmal geplant, gebaut und in der Funktion überwacht hat, mit einem Wort, der einzige Experte für Gaskammern. Seine Ergebnisse sind überzeugend. Die Analysen auf Cyanide an insgesamt 32 Proben hat er von einem kommerziellen Labor (Alpha Analytic Laboratories) ausführen lassen. Diese Arbeitsteilung ist die Garantie dafür, daß die Analysenergebnisse nicht von vorgefaßten Meinungen beeinflußt worden sind. Das Buch von Jean-Claude Pressac, Technique and Operation of the Auschwitz Gas Chambers, ist eigentlich kein Gutachten. Insbesondere hat der Autor keine eigenen Analysen und Experimente vorgenommen. Aber er setzt sich ernsthaft mit natur- und ingenieurwissenschaftlichen Gedankengängen auseinander, was er übrigens bei Robert Faurisson gelernt hat, dem er sich eine Zeitlang als Assistent angedient hatte, ehe er in die Dienste des Ehepaars Klarsfeld trat. Wenn er auch an der Grundthese der Massenvergasungen festhält, so kann er doch nicht umhin, die Zeugenaussagen zu Auschwitz als überwiegend unglaubwürdig einzuschätzen und die Zahl der Opfer erheblich – von 4 Millionen auf schließlich etwa 700.000 – zu reduzieren. Man kann darin durchaus Hegels »List der Vernunft« erkennen.
Ein ausführliches, gründliches Gutachten, das so gut wie keine Fragen offen läßt, ist das des Diplom-Chemikers Germar Rudolf. Er hat in Auschwitz insgesamt 27 Proben entnommen und beim Institut Fresenius, dem wohl größten und renommiertesten Analyseinstitut in Deutschland, nach DIN 38 405, Teil D13, zum Teil auch zur Kontrolle beim Institut für Umweltanalytik Stuttgart nach DIN 38 405 Teil D14 analysieren lassen. Beide Institute wußten nicht, woher die Proben kamen und was damit beabsichtigt war. Das war auch bei der amerikanischen Untersuchung so gewesen. Rudolf hat außerdem an Mörtel- und Mauerziegelproben, die einen Tag lang einer zweiprozentigen Cyanwasserstoffatmosphäre ausgesetzt waren, die Bildung von Cyaniden in Wandbaustoffen nachvollzogen. Man kann nur bedauern, daß die Zahl der Proben aus Auschwitz nicht höher war, aber wenn der Gutachter bei der Entnahme von Proben wie ein Einbrecher vorgehen muß, ist das verständlich. Nicht vergessen darf man auch die Kosten der Analysen, die – anders als bei den Gutachten der Gegenseite – mit privaten Mitteln finanziert werden mußten, bei Rudolf vom Angeklagten Remer, beim Leuchter-Gutachten vom Angeklagten Zündel.
Schließlich gibt es die zwei Gutachten vom Jan-Sehn-Institut für Gerichtsgutachten in Krakau von 1990 und 1994, die die Antwort auf das Gutachten von Fred Leuchter sein sollten. Das Krakauer Institut untersuchte seine Proben nach einem selbst ausgetüftelten Verfahren, um damit langzeitstabile Cyanidverbindungen vom Nachweis auszuschließen! Man hält so etwas kaum für möglich. Jeder Gutachter ist heilfroh, wenn er auf eine allgemein anerkannte und verbreitete Methode zurückgreifen kann, zumal wenn sie in einer Norm kodifiziert ist. Normen beruhen immer auf dem Konsens aller Fachleute. Es dürfte, zumindest in Deutschland, keine Norm geben, zu der irgendein Wissenschaftler begründeten Widerspruch erheben könnte, dafür sorgt die Geschäftsordnung des Deutschen Instituts für Normung (DIN). Auch das amerikanische Labor, das die Analysen für Fred Leuchter gemacht hat, hat die deutsche Methode angewendet. Und da kommen drei polnische Techniker und machen alles ganz anders, und zwar gleich so, daß schon ein deutscher Chemielaborant im zweiten Lehrjahr die Schwächen der Krakauer Analyse aufzeigen kann. Und trotzdem, auch hier wieder die »List der Vernunft«: die Ergebnisse der ersten Krakauer Analysenreihe zeigen, trotz aller groben Fehler und Verschleierung, daß die Cyanidkonzentration in den angeblichen Gaskammern nahe bei Null liegt und in den Entlausungskammern bei immerhin nicht vernachlässigbaren Werten. Man entschloß sich daher in Krakau, diese erste Analysenreihe zu unterdrücken und nochmal von vorne anzufangen. Mit der zweiten Krakauer Analysenreihe gelang es den Polen dann, Ergebnisse zu "produzieren", die etwa gleich hohe Rückstandswerte in Menschengaskammern und Entlausungskammern suggerierten.
Was sonst noch alles zu dem Blausäure-Problem in den Wänden der "Gaskammern" gesagt worden ist, bewegt sich irgendwo zwischen geistiger Hilflosigkeit und dreister Scharlatanerie, es braucht hier nicht darauf eingegangen zu werden.
Vergleichen wir den Fall Besnard mit dem Fall Auschwitz: Im Fall Besnard:
– 15 Gutachter, davon 9 Professoren, 1 Nobelpreisträger.
Im Fall Auschwitz:
– 1 Ingenieur, der auf den Bau und den Betrieb von Gaskammern spezialisiert ist namens Fred Leuchter, unterstützt von einem privaten Analytiklabor,
– 1 Vorstadtapotheker (pharmacien de banlieue, so Serge Klarsfeld) namens Jean-Claude Pressac, der natürlich ebenfalls einige Grundkenntnisse in Chemie hat. Aber unter allen Ausbildungsgängen, die etwas mit Chemie zu tun haben, ist der des Apothekers am wenigsten geeignet, ein richtiges Verständnis der Vorgänge bei der Freisetzung des Cyanwasserstoffs aus dem Zyklon B, bei seiner Verbreitung im Raum, bei seiner Adsorption an den Wänden und den darauffolgenden chemischen Reaktionen zu vermitteln. Es genügt, ein beliebiges Lehrbuch der Chemie für Pharmazeuten zur Hand zu nehmen und nachzulesen, was dort zu solchen Schlüsselbegriffen wie Absorption, Adsorption, Dampfdruck, Diffusion, Komplexsalze, Liganden geschrieben ist: wenig mehr als gar nichts.
– 1 brillanter, aber noch nicht promovierter Nachwuchschemiker namens Germar Rudolf, unterstützt von zwei namhaften großen unabhängigen Laboratorien,
– 3 polnische Techniker, deren Namen man aus christlicher Nächstenliebe besser verschweigt, die sich selber eine Analysemethode ausgedacht und in ihrem eigenen Laborbereich so angewendet haben, daß sie und ihre Auftraggeber mit den Ergebnissen leben konnten.
Wo ist das Institut, das sich in Auschwitz für einige Wochen ein Büro einrichtet, dort Proben nimmt und registriert, am besten mit einem Diamant-Hohlbohrer durch die ganze Wand, durch die ganze Betondecke, durch den ganzen Boden hindurch, die Bohrkerne dann in millimeterdicke Scheiben zerschneidet und daran die Cyanidkonzentrationen bestimmt? Alles, was Kritiker wie etwa Marian Kramer (VffG 2/99) an Rudolfs Gutachten bemängeln, ließe sich mit einer größeren Zahl von Proben und ihrer genaueren Zuordnung beheben. Nun denn! Der Diamantbohrer kostet einige tausend Mark, die Diamantsäge zum Zerschneiden in Scheiben etwa ebenso viel. Diese Technik ist bei Bauschadenprozessen längst Routine. Am teuersten sind die mehrere tausend Einzelanalysen. Ist das zu viel Aufwand für "das Verbrechen des Jahrhunderts"?
Wo ist das Labor, in dessen Klimakammer man an einem im Maßstab 1:1 nachgebauten Stück Ziegelmauerwerk die Adsorption des Gases, die kapillare Wanderung und die chemischen Reaktionen mit den Wandbaustoffen studieren kann?
Und wo vor allem ist der Hochschulprofessor, der Ordinarius für anorganische Chemie, der das Ganze überwacht und auswertet? Es braucht nicht unbedingt ein Nobelpreisträger zu sein, aber auch ein Nobelpreisträger sollte sich dafür nicht zu schade sein. Freilich, solange jeder Gutachter, der ein Gutachten abliefert, das dem Staatsanwalt nicht gefällt, mit dem sicheren Ruin seiner beruflichen Existenz rechnen muß, in Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien und der Schweiz darüber hinaus mit ein paar Jahren Gefängnis, so lange wird sich dieser große Gutachter nicht finden.
So weit sind wir gekommen im freien Europa, nach mehr als 200 Jahren atemberaubenden Fortschritts in der Chemie und mehr als 200 Jahre, nachdem Karl Wilhelm Scheele im Berliner Blau die Blausäure entdeckt hat.
Literatur
Michael D. Kelleher, C. L. Kelleher, Murder Most Rare: The Female Serial Killer, Praeger, Westport, Conn., 1998.
Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 4(3&4) (2000), S. 347ff.
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