Kaiser Wilhelm II. und Theodor Herzl im Heiligen Land
"Alles Antisemiten!"
Von Patricia Willms
Wenn eine Abhandlung mit dem gebetsmühlenartigen Durchgang des Leids der immer verfolgten Juden beginnt, dann gibt es zwei Möglichkeiten: der Rest geht leierkastenmäßig weiter, - oder es folgen einige besonders interessante Aspekte, und diese Rosinen bedurften einer besonderen Verpackung. Schließlich ist auch die Art, wie Tatsachen präsentiert werden, zeitgeschichtlich aufschlußreich, weil dabei die Geßlerhüte der Epoche - oder ihre Scheuklappen - zum Ausdruck kommen.
Wenn dies, wie hier der Fall ist, wollen wir auch nicht so indiskret sein zu fragen, ob besagte Einleitung nur der rechtlichen Absicherung im "freiesten Staat der deutschen Geschichte" diente, oder ob der Verfasser die eigenen Befunde noch nicht verdaut hat - oder nicht in der Lage ist, daraus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Unter dem Titel »Ein deutsches Protektorat in Palästina? Kaiser Wilhelm II. und Theodor Herzl im Heiligen Land« veröffentlichte die zeit Nr. 42/1998 einen Vortrag von Prof. Dr. John C. G. Röhl über Theodor Herzls Versuche, den Deutschen Kaiser für seine Pläne eines jüdischen Staates zu gewinnen, über die Bestrebungen im Hintergrund, Herzl eine Audienz beim Kaiser zu verschaffen, und wie Herzls im Oktober/November 1898 beim Kaiser empfangen wurde.
Herzls Pläne
Herzl wollte mit deutscher Hilfe in Palästina einen jüdischen Staat gründen - »eine aristokratische jüdische Republik, mit dem Bismarck-Reich als Vorbild«:
»Unter dem Protektorat dieses starken, großen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten Deutschland zu stehen, kann nur die heilsamsten Wirkungen für den jüdischen Volkscharakter haben. Mit einem Schlag kämen wir zu vollkommen geordneten inneren und äußeren Rechtszuständen.« zitiert Röhl aus Herzls Tagebuch vom 8. Oktober 1898.
Uns heutige erstaunt diese jüdische Sicht des Kaiserreichs, finden wir da doch Werte gelobt, die uns längst als unzeitgemäß, aus der Mode gekommen, wenn nicht gar als autoritär-faschistisch madig gemacht worden sind. Zugleich fragt man sich, ob man nun Herzl des Antisemitismus zeihen darf - oder muß - weil er den Juden einen heilungsbedürftigen Volkscharakter nachsagt.
Wie wir wiederholt sehen werden, können treffende Zitate Personen, Einstellungen, und auch eine ganze Epoche klarer vor Augen führen, als seitenlange Beschreibungen. Wir verdanken Prof. Röhl dadurch charakteristische Einblicke in die Denkart Wilhelm II. und hochgestellter Persönlichkeiten der Kaiserzeit, wie auch in die Mentalität Theodor Herzls, die so anders sind als manche heute davon gegebene Vorstellung und auch als unsere heutige Sichtweise.
Kaum hatte Herzl die Idee seines zionistischen Staates zu Papier gebracht, da erklärte er (im Juni 1895):
»Ich werde zum Deutschen Kaiser gehen; und der wird mich verstehen, denn er ist dazu erzogen, große Dinge zu beurteilen. Dem Deutschen Kaiser werde ich sagen: Lassen Sie uns ziehen.«
Konnte man so einfach mir-nichts-dir-nichts zum Kaiser marschieren (und gar um Hilfe für einen eigenen Staat bitten)? Und wie soll man die Chancen eines Juden hierfür einschätzen, nachdem man durch Röhl von »der in Europa grassierenden Seuche des Antisemitismus« erfahren hat? Würde Herzl überhaupt bei Hofe vorgelassen werden?
Falsch geraten: Bevor ein Jahr vergangen ist, im April 1896, erlangte Herzl eine Audienz beim Onkel des Kaisers, Großherzog Friedrich von Baden, durch Vermittlung von William H. Hechler, (»einem deutsch-britischen Kaplan an der englischen Botschaft in Wien«), und er bekam auch den Kaiser zu Gesicht - in der Oper in Wien. Zwar mußte sich Herzl mit der gewünschten Audienz noch gedulden, aber der Großherzog Friedrich von Baden erwies sich in der Folge »als wohlwollender wenn auch zaghafter Gönner der Zionisten«. Zaghaft nennt ihn Röhl wohl, weil er sich nicht energisch genug für den Zionismus eingesetzt habe, doch muß auch die Frage erlaubt sein: wieso sollte er denn? Röhl schreibt:
»Wilhelm II. hatte bislang zwar wenig Interesse am Zionismus gezeigt, er war dennoch mit der zentralen Idee dieser neuen Bewegung vertraut und äußerte sich gelegentlich - wenn auch spöttisch - zustimmend dazu.«
Die Ratgeber des Kaisers
Röhl beschreibt detailliert das geschäftige Drängen auf eine Audienz, samt Wilhelms gleichgültig-widerstrebender Zurückhaltung:
»Als Herzl auf Anraten des Großherzogs den Kaiser brieflich um eine Audienz bat, erhielt er zur Antwort, der Monarch könne ihn nicht empfangen, er bäte aber um einen schriftlichen Bericht über den Zionistenkongreß. Am 1. Dezember 1897 schickte Herzl dem Kaiser seine Broschüre Der Baseler Kongreß zu. Der erste Kontakt war hergestellt.
Nicht nur Herzl bemühte sich um Wilhelm. Auch der Einfluß Hechlers, des Großherzogs von Baden und des Grafen Philipp zu Eulenburg, des Botschafters Deutschlands in Wien, sorgten im Herbst 1898 dafür, daß der Kaiser dem zionistischen Traum für kurze Zeit mehr Sympathie entgegenbrachte.«
Philipp zu Eulenburg sollte dem Kaiser einen mündlichen Bericht über Herzls Schrift erstatten. Inzwischen stand eine Orient-Reise des Kaisers bevor, und die Einwirkung auf den Kaiser verstärkte sich.
In einem Brief vom 28. Juli 1898 drängte der Großherzog den Kaiser, Sultan Abdulhamid II. dazu zu bringen, ihm das in Frage stehende Gebiet abzutreten. Dabei spielten auch Spekulationen um den Verbleib von Moses' Bundeslage eine Rolle, über die man sich heutzutage nur wundern kann - wie konnten führende Kreise Ende des letzten Jahrhunderts solche Geschichten noch für bare Münze nehmen?
Wieder ist die Antwort des Kaisers zurückhaltend:
»Trotzdem überstürzten sich nunmehr die Ereignisse. Am 2. September 1898, unmittelbar nach dem zweiten Zionistenkongreß in Basel, empfing der Großherzog Hechler und Herzl zu einer zweistündigen Audienz auf der Insel Mainau.«
Röhl nennt keine Quelle für den Bericht über diese Audienz, in der die Beteiligten in Optimismus schwelgen. Gab Großherzog Friedrich Herzl absichtlich eine schöngefärbte Lageeinschätzung, oder betrieb Herzl im Nachhinein Selbstbeweihräucherung? Ein angeblicher Bericht, demzufolge der Sultan der zionistischen Frage wohlwollend gegenüberstehe, war unzutreffend - und vielleicht gar nie existent - jedenfalls später nicht mehr auffindbar.
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Das Casino in Basel, Veranstaltungsort des Ersten Zionisten-Kongresses anno 1897.[1] |
Anfang September wandte sich Herzl wegen einer Audienz beim Kaiser an den Grafen zu Eulenburg, dem er dann eine Woche später begegnete. Eulenburg soll von Herzls Plänen »sichtlich fasziniert« gewesen sein - von wem diese Einschätzung stammt, erfahren wir nicht - und schlug ein Treffen mit seinem Freund Bernhard von Bülow vor, dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Von dieser Unterredung erfahren wir merkwürdigerweise nur, daß sie »nichtssagend« gewesen sei. Danach finden wir Herzl in Paris, Amsterdam, London wieder, ohne die erhoffte Audienz beim Kaiser. Doch die läßt nicht mehr lange auf sich warten, die zionistischen Befürworter lassen nicht locker.
Am 29.9.1898 verfaßte der Kaiser »eigenhändig« einen Brief an den Großherzog von Baden, und nahm,
»wenngleich in seinem eigenen unnachahmlichen Stil, Herzls Argumente [...] auf.
Wie man gut verstehen kann, war Herzl förmlich überwältigt, als er am 1. Oktober in Amsterdam durch einen Brief von Eulenburg erfuhr, daß der Kaiser bereit sei, das Protektorat über den jüdischen Staat zu übernehmen. Wilhelm habe "volles und tiefes Verständnis" für die Bewegung gezeigt und sei gewillt, in "dringender Weise" beim Sultan für seine Ziele einzutreten. [...] In einer "ganz geheimen" Nachschrift schlug Eulenburg vor, daß Herzl bereits am 17. Oktober in Konstantinopel eintreffen solle für den Fall, daß der Kaiser doch Anweisungen für seine Unterredung mit dem Sultan benötige.«
Röhls Sprachgebrauch läßt hier aufhorchen: da wird eine Audienz in Aussicht gestellt, falls der Kaiser Anweisungen für seine Unterredung mit dem Sultan benötige! Auch sonst ist Röhls Darstellung auffallend egalitär, er gebraucht Ausdrücke wie Treffen, Unterredung, nur selten »Audienz«, wenn Herzl bei hochgestellten Persönlichkeiten empfangen wird - als ob es keine Rangunterschiede gäbe (oder gar eine umgekehrte Rangordnung).
Auch Eulenburg lädt Herzl ein - auf sein Gut Schloß Liebenberg, wo er Herzl versichert,
»daß Wilhelm II. sich ganz an den Gedanken eines Protektorats gewöhnt habe. Der Kaiser zweifele nicht, daß der Sultan seinen Vorschlag gut aufnehmen würde.«
Nachdem Eulenburg wieder mit dem Großherzog und dem Kaiser »konferiert« hatte,
»bestätigte der Großherzog den Eindruck Eulenburgs, daß der Kaiser "voller Begeisterung" für die zionistische Sache sei. Er sei aufgrund eines positiven Berichts Marschalls sicher, daß der Sultan günstig reagieren würde. "Der Kaiser hat nun die Vermittlung übernommen und er will sie durchführen," versicherte ihm der Großherzog. Er habe die Absicht, Herzl sowohl in Konstantinopel als auch in Jerusalem zu empfangen. Später, als Herzl mit Bülow und dem Reichskanzler Fürst Hohenlohe zusammentraf, bekam er zum ersten Mal den eisigen Wind der Staatsvernunft zu spüren. Der alte Kanzler wollte wissen, welches Gebiet Herzl denn beanspruche, ob bis Beirut oder noch darüber hinaus. Er fragte, ob Herzl einen Staat gründen wolle und wie er sich die türkische Reaktion auf einen solchen Vorstoß vorstelle.«
Ob Herzl hierauf eine Antwort wußte, erfährt Röhls Leser nicht - oder nur indirekt:
»Am 13. Oktober 1898 verließen Herzl und vier weitere Zionistenführer Wien mit dem Orientexpress. Unterwegs einigten sie sich darauf, das Gebiet zwischen Gaza und dem Euphrat, das einen autonomen Status innerhalb des Osmanischen Reiches erhalten sollte, zu verlangen.« (Hervorhebung hinzugefügt).
Am 18. Oktober 1898 bekam dann Herzl in Konstantinopel eine Audienz bei Kaiser Wilhelm II, aber trotz zweier weiterer Treffen - am Straßenrand von Jaffa und bei einer Audienz im kaiserlichen Zelt vor Jerusalem - wurde nichts aus Herzls Plan.
Gleich am Anfang fragte Röhl:
»Wie anders hätte der Verlauf der Geschichte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ausgesehen, wenn Herzls "Rettungsaktion" 1898 verwirklicht worden wäre, wenn es eine sichere Heimstätte für die unterdrückten Juden Europas gegeben hätte. Wenn Tausende der ärmeren Juden aus den Ländern, in denen sie nicht mehr willkommen waren, hätten fliehen können. Wenn ein jüdischer Staat existiert hätte, der sich auf internationaler Bühne gegen Unrecht und Verfolgung hätte wehren können. Und wenn es eine deutsch-jüdische Kolonie im Nahen Osten gegeben hätte, auf die deutsche Imperialisten mit Stolz hätten blicken können!«
Wenn, ja wenn... Der letzte Satz ruft in Erinnerung, daß, wenn wir es mit Juden zu tun haben, der normale Maßstab - "Imperialismus? Pfui!" - keine Anwendung findet. Sogar Stolz ist angesagt, wird diesmal nicht lächerlich gemacht, denn es geht ja um eine »deutsch-jüdische Kolonie« - was auch immer man sich darunter vorstellen mag.
Sehen wir auch mal ab von der vorgeburtlichen "Rettungsaktion" von 1898 - oder würde man nicht den Kopf schütteln, wenn ein deutscher Historiker über eine Rettungsaktion der Dresdener Bevölkerung spekulieren würde, die 50 oder 100 Jahre vor der Bombardierung und Auslöschung der Stadt hätte stattfinden sollen? Würden ihn die Anführungszeichen davor retten, daß man sich Gedanken über seinen Geisteszustand machen würde?
Warum wurde nichts aus dem Plan?
Röhls Fazit befriedigt nicht:
»Das Projekt eines kaiserlichen Protektorats über eine jüdische Heimstätte in Palästina war von Anfang an eine Illusion gewesen.«
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Theodor Herzl, in der jüdischen Literatur auch "König der Juden" genannt.[2] |
Das erklärt natürlich überhaupt nichts - denn viele als Illusion abgestempelten Vorstellungen werden doch Wirklichkeit - man denke an die jüngste deutsche Teilvereinigung - und andere nicht. Man muß also fragen: was führte dazu, daß sich diese Vorstellung nicht verwirklichen ließ? Warum also wurde nichts aus Herzls Plänen?
Mit etwas Selbstkritik - oder auch dem Wagnis einer Judenkritik - könnte man zu der Schlußfolgerung kommen, daß Herzl seine Pläne nicht genügend ausgearbeitet hatte, sich zu wenig Gedanken über die Folgen gemacht hatte - Röhl spricht vom »eisigen Wind der Staatsvernunft« - ja, daß Herzl selbst nicht einmal richtig wußte, was er wollte. Man denke an die Gesellschaft im Orientexpress, die sich unterwegs einigt, vom Osmanischen Reich »das Gebiet zwischen Gaza und dem Euphrat [...] zu verlangen«, so, als ob man mal eben beim Ober ein Paar Wiener mit Senf bestellt. Offen bleibt, ob und in wieweit Herzl auf falsche Erwartungen der kaiserlichen Freunde und Ratgeber hereingefallen ist, oder ob die ganze Gesellschaft, von Großherzog Friedrich über Hechler und Eulenburg bis hin zu Herzl völlig unfähig war, die wirkliche Lage zu analysieren.
Einleitend versprach Röhl:
»Unsere Aufmerksamkeit wird sich besonders auf die Gründe dieses Fehlschlags richten müssen, denn nur dadurch werden wir die Antwort auf die Frage erhalten, warum im Jahre 1898 die Weltgeschichte scheinbar an einem Wendepunkt angelangt war, ohne sich dann zu wenden.«
Doch gegen Ende berichtet Röhl lapidar, was der Verwirklichung von Herzls Plan entgegenstand:
»daß Abdulhamid die Idee so schroff von sich wies, daß der kaiserliche Gast die Angelegenheit nicht weiter verfolgen konnte.«
Ferner
»war [Wilhelms] Interesse am Zionismus flüchtig und oberflächlich.«
Ja, da fragt man sich, war denn der deutsche Kaiser verpflichtet, sich für den Zionismus zu interessieren? Und dann erfahren wir von Röhl:
»Von Anfang an von antisemitischen Vorurteilen und egoistischem Kalkül motiviert, verlief [Wilhelms] Absicht, ein deutsches Protektorat über einen Judenstaat in Palästina zu proklamieren, nach Abdulhamids njet schnell im Sande [...]«
Hier scheint für Röhl der tiefere Grund des Scheiters zu liegen: Antisemitismus. "Alles Antisemiten."
»Antisemitischer Unterton«
Schon über Herzls Audienz beim Kaiser in Konstantinopel berichtet Röhl:
»Zunächst irritierte Herzl doch der antisemitische Unterton der einstündigen Unterhaltung. Der Kaiser erklärte, daß es ihm durchaus willkommen wäre, wenn sich einige deutsch- jüdischen "Elemente" in Palästina niederlassen würden. "Ich denke zum Beispiel an Hessen, wo es unter der Landbevölkerung Wucherer gibt. Wenn diese mit ihrer Habe in die Kolonien gingen, um sich anzusiedeln, könnten sie nützlicher sein." Bülow trug zum antisemitischen Ton bei, indem er darüber klagte, "die Juden" hätten sich dem Hause Hohenzollern gegenüber undankbar gezeigt und befänden sich neuerdings zum Teil sogar bei den Oppositionsparteien. Sollte der Kaiser ein Protektorat in Palästina ausrufen, würde er erwarten, daß ihm die Juden ihre Dankbarkeit erwiesen. Trotzdem gelang es Herzl, seinen "gesamten Plan" an den Mann zu bringen. "Alles, alles", notierte er mit Erleichterung. Der Kaiser "hörte mir prachtvoll zu" und stimmte mit ihm überein, daß der Plan für eine jüdische Heimstätte "ganz natürlich" sei. Und als Bülow Zweifel über die türkische Reaktion zum Ausdruck brachte, rief Wilhelm aus: "Es wird doch wohl einen Eindruck machen, wenn der Deutsche Kaiser sich darum kümmert, Interesse dafür zeigt. [...] Schließlich bin ich doch noch der einzige, der zum Sultan hält. Er gibt etwas auf mich." Er fragte Herzl, was er von dem Sultan fordern sollte, worauf Herzl antwortete: "Eine Chartered Company - unter deutschem Schutz.«
Die Belege, die Röhl für den »antisemitischen Unterton« anführt, geben zu denken. Gab es in Hessen etwa keine Wucherer - und wer sagte denn, daß es dabei um Juden ging? Nur das Sprichwort "Getroffene Hunde bellen"? Haben sich etwa keine Juden den Oppositionsparteien angeschlossen? Wieso kann eine solche Bemerkung antisemitisch sein?
War es "antisemitisch", daß der Kaiser prachtvoll zuhörte - oder daß er den Plan für eine jüdische Heimstätte "ganz natürlich" fand?
War dann Herzl selbst auch antisemitisch? Röhl faßt nämlich Herzls Hauptargumente im Brief vom September 1898 an Eulenburg wie folgt zusammen:
»daß ein "geordneter Abfluß" des jüdischen Proletariats der sozialistischen Bewegung in Europa den Wind aus den Segeln nehmen würde; und daß mit dem damit einsetzenden Rückgang antisemitischer Agitation wohlhabende Juden gern in ihren jetzigen Ländern verbleiben würden.«
Selbstverständlich sollen dem Leser nicht die Wilhelm-Zitate vorenthalten werden, mit denen Röhl die Zeit-Leserschaft schon zu Beginn seiner Arbeit auf Wilhelms Haltung einstimmt:
»Im Mai 1891, als er von den amerikanisch-russischen Verhandlungen erfuhr, in denen es um Landerwerb in Argentinien für die verfolgten Juden Rußlands ging, bemerkte er: "Ach, wenn wir unsere doch auch dahin schicken könnten."«
»antisemitisches Gekritzel des allerhöchsten Herrn«
»Ein Jahr später, bei der Lektüre eines Berichtes über den ersten Zionistenkongreß, schrieb Wilhelm II. an den Rand: "Ich bin sehr dafür, daß die Mauschels nach Palästina gehen, je eher sie dorthin abrücken, desto besser. Ich werde ihnen keine Schwierigkeiten in den Weg legen.«
Obwohl auch für Röhl aus dieser Bemerkung hervorgeht, »daß es zwischen Herzl und dem Kaiser gemeinsamen Boden gab« bezeichnet Röhl diese Äußerung als »antisemitisches Gekritzel des allerhöchsten Herrn«.
Und über Herzls Audienz beim Kaiser in Jerusalem:
»Als er am 2. November Theodor Herzl und seine vier nervösen Begleiter im Zeltlager vor Jerusalem empfing, die alle vorher vom Reverend Hechler gesegnet worden waren, äußerte sich Wilhelm nur in unverbindlichen Platitüden. "Das Land braucht [...] Wasser und Schatten", sagte er den Zionisten. "Die Ansiedlungen, die ich sah, sowohl die Deutschen wie Ihrer Landsleute, können als Muster dienen, was man aus dem Lande machen kann. Das Land hat Platz für alle. [...] Ihre Bewegung [...] enthält einen gesunden Gedanken." Und als Herzl bemerkte, daß die Wasserversorgung durch die Eindämmung des Jordans sichergestellt werden könnte, obwohl dies viel Geld kosten würde, antwortete der Kaiser in seinem bekannten Ton: "Na, Geld haben Sie ja genug. [...] Mehr Geld wie wir alle."«
Und die wohl schärfste Äußerung, die Röhl von Wilhelm zitiert:
»Aus seiner Enttäuschung über das, was er in Palästina erlebt hatte, machte der allerhöchste Kreuzfahrer allerdings kein Hehl. Palästina sei "ein trostloser, ausgetrockneter Steinhaufen", schrieb er seiner Mutter auf der Heimfahrt. "Der Mangel an Schatten und Wasser ist entsetzlich. [...] Jerusalem ist gänzlich verdorben durch die vielen ganz modernen Vororte [...] voller jüdischer Kolonisten. 60 000 von diesen Leuten waren da, schmierig, erbärmlich, kriechend und verkommen, die nichts zu tun haben außer sich bei den Christen und Musulmanen gleichermaßen verhaßt zu machen, indem sie diesen Nachbarn jeden schwer verdienten Groschen abzuknöpfen versuchen. Lauter Shylocks allesamt."«
Doch schauen wir uns den kaiserlichen Antisemiten nochmals genauer an: Röhl berichtet über den Brief, den der Kaiser am 29. September 1898 eigenhändig verfaßte hat:
»"Das Ergebnis meiner Untersuchungen ist nun Folgendes: [...] Der Grundgedanke [der Bewegung] hatte mich stets interessirt, ja sogar sympathisch berührt. Durch das Studium Deiner gnädigen Zusendungen bin ich nun doch zu der Ueberzeugung gekommen, daß wir es hier mit einer Frage von der allerweitgehendsten Bedeutung zu thun haben. Ich habe daher in vorsichtiger Weise mit den Förderern dieser Idee Fühlung nehmen lassen und dabei konstatiren können, daß die Uebersiedelung der dazu bereiten Israeliten ins Land Palästina in hervorragender Weise vorbereitet und sogar finanziell in jeder Hinsicht völlig fundirt ist. Ich habe daher auf eine Anfrage seitens der Zionisten, ob ich eine Abordnung von ihnen in Audienz empfangen wolle, erwidern lassen, ich sei gern bereit eine Deputation in Jerusalem zu empfangen anläßlich unserer Anwesenheit dortselbst." Er sei der Überzeugung, fuhr der Kaiser fort, "daß die Besiedelung des Heiligen Landes durch das kapitalkräftige und fleißige Volk Israel dem ersteren bald zu ungeahnter Blüthe und Segen gereichen wird" - und somit auch zu einer bedeutenden wirtschaftlichen Wiederbelebung der Türkei. "Dann wird der Türke wieder gesund, d.h. kriegt er auf natürliche Weise ohne zu pumpen Geld, dann ist er nicht mehr krank, baut sich seine Chausseen und Eisenbahnen selbst ohne fremde Gesellschaften und dann kann er nicht so leicht aufgetheilt werden. Q.e.d.! Zudem würde die Energie, Schaffenskraft und Leistungsfähigkeit vom Stamme Sem auf würdigere Ziele als auf Aussaugen der Christen abgelenkt, und mancher die Opposition schürender, der Soz. Dem. anhängender Semit wird nach Osten abziehen wo sich lohnendere Arbeit zeigt. [...] Nun weiß ich wohl, daß neun-zehntel aller Deutschen mit Entsetzen mich meiden werden, wenn sie in späterer Zeit erfahren sollten, daß ich mit den Zionisten sympathisire oder gar eventl. wie ich es auch - wenn von ihnen angerufen - thun würde, sie unter meinen Schutz stellen würde!" Aber Wilhelm hatte seine Entgegnung bereit: "Daß die Juden den Heiland umgebracht, das weiß der liebe Gott noch besser wie wir, und er hat sie demgemäß bestraft. Aber weder die Antisemiten, noch Andere noch ich sind von Ihm beauftragt und bevollmächtigt diese Leute nun auch auf unsere Manier zu kujoniren in Majorem Dei Gloriam!" Er erinnerte daran, daß man seine Feinde lieben solle. Und außerdem sei es "vom weltlichen, realpolitischen Standpunkt aus nicht außer acht zu lassen, daß bei der gewaltigen Macht, die das Internationale jüdische Kapital nun einmal in aller seiner Gefährlichkeit repräsentirt, es doch für Deutschland eine ungeheure Errungenschaft wäre, wenn die Welt der Hebräer mit Dank zu ihm aufblickt?! Ueberall erhebt die Hydra des rohesten, scheußlichsten Antisemitismus ihr greuliches Haupt, and angsterfüllt blicken die Juden - bereit die Länder wo ihnen Gefahr droht zu verlassen - nach einem Schützer! Nun wohlan die ins Heilige Land zurückgekehrten sollen sich Schutzes und Sicherheit erfreuen und beim Sultan werde ich für sie interzediren."«
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Kaiser Wilhelm II: Philosemitischer Antisemit.[3] |
Man kann Wilhems II schwerlich Judenhaß vorwerfen, und nicht einmal seine "antisemitischen" Zitate sind von Haß oder Aggression geprägt - und hier finden wir gar einen Antisemiten, der gegen eine »Hydra des rohen, scheußlichsten Antisemitismus« wettert! Wie kommt Röhl also zu seiner verbalen Schaumschlägerei, Verdrehung der Worte in ihr Gegenteil, Sprach- und Denkverwirrung?
»Wilhelm fiel zurück in die Rolle eines gleichgültigen, beinahe höhnischen Gegners der zionistischen Idee, die er bis zu seiner Bekehrung durch Eulenburg in Rominten drei Wochen zuvor vertreten hatte.«
Bekehrung - gehört dieses Wort nicht zum Vokabular von Heilslehren? Wenn man zum Zionismus bekehrt wird, ist man dann ein Ketzer, wenn man kein Zionist ist? Derartige Anmaßung, die so oft im Kielwasser jüdischer Interessenvertretung zu finden ist, zieht Röhl nicht als Grund für das Scheitern von Herzls Plänen in Betracht.
Röhl fragt auch nicht nach den Ursachen »der in Europa grassierenden Seuche des Antisemitismus«, warum die Juden in Rußland verfolgt wurden, warum auch Wilhelm sie los sein wollte, warum »Tausende der ärmeren Juden« in ihren Ländern, »nicht mehr willkommen waren« - und auch die Reichen waren wenig beliebt.
Und warum war der Sultan gegen das zionistische Projekt? Röhl schreibt dazu:
»Seiner Tochter zufolge erklärte er: "Ich kann selbst einen Fuß Land nicht verkaufen, denn es gehört nicht mir, sondern meinem Volk. Die Juden können sich ihre Millionen sparen. Wenn einst mein Reich geteilt ist, können sie Palästina vielleicht umsonst bekommen. Aber nur unser Leichnam kann zerlegt werden. Ich werde einer Vivisektion nie zustimmen." Wie die Akten im Yildiz-Archiv zeigen, wurde die Haltung des Sultans einmütig von seinen Ratgebern geteilt. Alle widersetzten sich der Möglichkeit, dem Reich ein zusätzliches nationales bzw. religiöses Problem aufzubürden, welches die europäischen Großmächte nur für sich ausnutzen würden. Die Botschafter warnten alle, daß das wahre Ziel der Zionisten die Bildung eines unabhängigen jüdischen Staates sei, der nicht auf Palästina beschränkt sein würde; solch ein Staat würde zudem den Mittelpunkt weltweiter jüdischer Aktivität bilden. Sie waren sich auch klar, daß die Etablierung eines jüdischen Staates im Heiligen Land die "Arabische Erhebung" schüren würde, die das Osmanische Reich zerstören würde. Auf ausdrücklichen Befehl Abdulhamids hatte der Ministerrat ein Programm entwickelt, um der zionistischen Gefahr im Innern wie im Ausland entgegenzuwirken.«
Röhl meint, der heutige Beobachter müsse »die Begegnung des Imperators mit dem Zionistenführer fast zwangsläufig durch die dunkle Brille des Holocaust betrachten«. Normalerweise benutzt man eine Brille, um einen Sehfehler auszugleichen. Es gibt Brillen gegen Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit. Was aber hilft einem Kurzsichtigen eine "Sonnenbrille"?
»Obwohl Wilhelm sein Interesse an der zionistischen Sache verloren hatte, war Herzls Idee, ein deutsches Protektorat im Orient zu proklamieren, zu wertvoll, um ganz aufgegeben zu werden.«
Ist es diese falsche Brille, die Röhl daran hindert zu erkennen, warum Herzls Plan damals gescheitert ist, und warum nach der gewaltsamen Durchführung nach 1945 eine ganze Region in Unfrieden, Gewalt und Ungerechtigkeit versunken ist?
Im Gegensatz zu Röhls eigener Sicht »durch die dunkle Brille des Holocaust« veranschaulichen Röhls Zitate ein im Vergleich zur heutigen Verkrampfung geradezu traumhaft entspanntes deutsch-jüdisches Verhältnis. Herzl »bevorzugte [...] stets den deutschen Weg zur Verwirklichung seiner weitreichenden Pläne«, beim Kaiser erwartet er Verständnis, nicht ohne Eigenlob: Der Kaiser »ist dazu erzogen, große Dinge zu beurteilen.«
Und Röhl berichtet vom Kaiser, daß dieser lachend bemerkte, als Großherzog Friedrich und Hechler ihn zugunsten der zionistischen Pläne bearbeiteten:
»Hechler, ich höre, Sie wollen Minister des jüdischen Staates werden.«
Herzl hatte 1895 festgestellt:
»Die Antisemiten werden unsere verläßlichsten Freunde.«
Aber aus Herzls Plänen wurde nichts, weil er keine verläßlichen Freunde hatte - gab es nicht genug Antisemiten??? Ob die Juden durch Fürsprecher wie Röhl verläßlichere Freunde bekommen?
Als Schlußwort sei die Frage erlaubt (der Staatsanwalt wird sie uns vielleicht - teilweise - beantworten):
Statt »durch die dunkle Brille des Holocaust« zu blicken, wäre es nicht besser, die Scheuklappen abzunehmen? Dann würde die Frage lauten: warum mußten die Juden unbedingt und mit allen Mitteln ihren Plan durchboxen? Wie hätte die Welt ohne Balfour-Erklärung ausgesehen? Wäre dann Amerika in den ersten Weltkrieg eingetreten? Hätte es ein Versailles gegeben? Und als Folge dessen einen Zweiten Weltkrieg mit seinem Millionen Toten, Vertrieben, Entrechteten? Und vor allem: wären wir dann auch mit all den Nachkriegsübeln beglückt, die heute in der "befreiten" Welt grassieren, von Kriminalität und Korruption bis zu Orwellschem Neusprech und Gedankenverfolgung?
Anmerkungen
[1] | http://motlc.wiesenthal.org/specialcol/instdoc/d07c09/her6z3.html |
[2] | http://motlc.wiesenthal.org/specialcol/instdoc/d07c09/her1z3.html |
[3] | Büste im Park von Haus Doorn, dem Alterssitz des entthronten Kaisers in den Niederlande, http://geocities.com/~worldwar1/kaiser/kais08.html |
Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 4(3&4) (2000), S. 375-380.
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