Bücherschau

Die Russen in Berlin anno 1945

Von Ernst Gauss

Antony Beevor, The Fall of Berlin 1945, Viking Penguin, London/New York, Mai 2002, 512 S. geb., $29,95

Mit viel Presse-Tamm-Tamm wurde Anfang April die Veröffentlichung des neuesten Buches des britischen Militärhistorikers Antony Beevor angekündigt: »Vergewaltiger der Roten Armee bloßgestellt« schlagzeilte zum Beispiel Chris Summers vom britischen staatlichen Rundfunk BBC News Online. Zwei Millionen deutsche Frauen seien während des Vordringens der Roten Armee nach Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vergewaltigt worden, viele davon mehrfach. Allein in Berlin seien etwa 130.000 Frauen vergewaltigt worden, von denen 10.00 anschließend Selbstmord begingen. Dem deutschen Publikum ist das freilich weder neu noch wäre es den dortigen Medien eine Sensationsschlagzeile wert.

Beevors Buch beschreibt das Vordringen der Roten Armee nach Ostdeutschland und die Schlacht um Berlin primär unter militärischen Gesichtspunkten. Die grausame Spur von Plünderung, Brandschatzung, Massenmord, Austreibung und Vergewaltigung wird dabei von Beevor nicht ins Zentrum des Interesses gestellt. Allerdings sei er von dem, was er bei seinen Recherchen herausfand, schockiert gewesen. Da fragt sich der Zeitgeschichtskenner zwangsläufig, wie es um die Kompetenz eines Militärhistorikers des Zweiten Weltkrieges bestellt sein muß, dem die Vorgänge in Ost- und Mitteldeutschland Ende 1944/ Anfang 1945 bis ins Jahr 2000 unbekannt waren?

Der Höhepunkt des Buches ist freilich, daß für Beevor das, was in Deutschland bei Kriegsende geschah, sowohl verständlich als auch entschuldbar ist. Er ist nämlich erstens der Ansicht, daß jeder Mann in extremen Kriegslagen in die Versuchung gerate zu plündern und zu vergewaltigen. Zweitens hätten die Deutschen bei Kriegsende ja nur geerntet, was sie zuvor in dreieinhalb Jahren in Rußland gesät hätten, weshalb die sowjetische militärische Führung bei den Vorgängen in Deutschland alle Augen zugedrückt habe.

Beevor sitzt also den alten stalinistischen/"antifaschistischen" Kriegslügen auf, die deutschen Soldaten hätten in Rußland willkürlich gemordet, geplündert, gebrandschatzt und vergewaltigt. Als Militärhistoriker, der für sich reklamiert zu wissen, worüber er schreibt, müßte Beevor aber wissen, daß das eben gerade nicht der Fall war. Bei all der Grausamkeit des Ostfeldzuges haben sich die deutschen Soldaten alles in allem eben außergewöhnlich zivilisiert verhalten, vergleicht man sie mit allen anderen Armeen der Weltgeschichte. Man vergleiche hierzu zum Beispiel den Beitrag von Walter Post »Die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg«, im vom Joachim Weber herausgegeben Sammelband Armee im Kreuzfeuer (Universitas, München 1997).

Aber dieses Ausmaß vorauseilender Unterwürfigkeit unter die herrschende Politische Korrektheit war dem russischen Botschafter in England Grigory Karasin immer noch nicht genug. Der Botschafter behauptete in einem An den Daily Telegraph gesandten Brief, Beevors Behauptungen vom fürchterlichen Wüten sowjetischer Soldaten in Deutschland seien nichts als »Lügen und Unterstellungen« und seien zudem von einem russischen Historiker "widerlegt" worden:

»Es ist eine Schande, irgend etwas mit diesem eindeutigen Fall von Beleidigung gegen mein Volk zu tun zu haben, das die Welt vom Nazismus befreit hat.«

Ja, laßt uns alle dem Teufel danken, daß er einen Bengel austrieb!

Interessant sind hingegen Beevors Funde, daß die Sowjets nicht nur deutsche Frauen vergewaltigten, und zwar sowohl beim Eindringen nach Deutschland als auch später, als Hunderttausende Frauen als Sklaven verschleppt und in Gefangenschaft weiter ständig mißbraucht wurden, manche von ihnen in sowjetischen Armee-Bordellen. Aus den von Beevor untersuchten sowjetischen Dokumenten geht auch hervor, daß viele der "repatriierten" russischen und ukrainischen Frauen, die unter deutscher Besatzung mit den Deutschen zusammenarbeiteten, das Schicksal ihrer deutschen Leidensgenossinnen teilten. Die Frauen, so Beevor, wurden allgemein zur Kriegsbeute sowjetischer Soldaten erniedrigt.

In einer Stellungnahme gegenüber dem BBC behauptete Professor Oleg Rzheshevsky, Leiter der Abteilung Kriegsgeschichte an der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, daß Beevors Vorwürfe nicht durch Dokumente gestützt würden – obwohl er zugeben mußte, Beevors Buch nicht gelesen und die Quellen nicht geprüft zu haben!!! – und daß sie lediglich auf unglaubwürdige Zeugenaussagen deutscher Frauen basierten. Tatsächlich habe sich die Mehrheit der sowjetischen Soldaten der deutschen Bevölkerung gegenüber wohlwollend verhalten.

Es fragt sich nur, wie trotz der 55-jährigen ununterbrochenen Propaganda von der friedliebenden Sowjetunion und der totalen Unterdrückung kritischer Gesichtsschreibung in Mitteldeutschland die dortige Bevölkerung sich trotzdem an die sowjetischen Grausamkeiten so klar und einhellig erinnern kann. Hier existiert ein kollektives Gedächtnisse entgegen und trotz der Propaganda, nicht wie im Holocaust, wo ein kollektives Gedächtnis entlang der Propaganda und durch sie geschaffen wurde. Rzheshevskys These von der Unglaubwürdigkeit Hunderttausender deutscher Zeugen ist also lächerlich.

Professor Richard Overy, Historiker am King’s College in London, meinte, die Russen hätten diese Episode ihrer Geschichte unterdrückt, weil sie der Ansicht seien, die über Deutschland hereinbrechende Rache sei nur gerecht angesichts der viel schlimmeren deutschen Verbrechen in Rußland. Ich erspare mir einen Kommentar dazu.

Vergleicht man dieses Buch mit dem 1995 erstmals von Joachim Hoffmann verfaßten Buch Stalins Vernichtungskrieg 1939-1945, so hat Beevors Buch eigentlich nur einen Vorteil, nämlich daß es die sowjetische Blutspur durch Osteuropa noch besser dokumentiert hat. Den Kontext dieses Konflikts und somit die Ursachen der Ausschreitungen sowjetischer Soldaten bei Kriegsende jedoch hat Beevor nicht erfaßt. Das ist auch der Grund, warum das Buch von den Medien im Ausland überhaupt besprochen wird und dementsprechend ein Erfolg werden wird: Es widerspricht nicht dem Bild der armen, überfallenen, vergewaltigten, geplünderten, friedliebenden Sowjetunion, die die Welt vom Nazismus gerettet hat. Hoffmanns Buch ist da wesentlich besser dokumentiert und argumentierte dementsprechend differenzierter. Deswegen wurde die englische Ausgabe dieses Buches auch von den englischsprachigen Medien totgeschwiegen.


Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 6(2) (2002), S. 222f.


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