Über die KZ-Lager herrscht fürwahr kein Mangel an Literatur. Dokumentationen, Augenzeugenberichte, Romane - der wißbegierige Leser kann sich auf jedem literarischen Niveau mit diesem Thema befassen. Im nachfolgenden Beitrag werden zwei Tagebuchauszüge vorgestellt, die beide im Lager Dachau entstanden sind. Die Verfasser waren keine Kriminellen, die aus berechtigten Gründen vorübergehend der Freiheit beraubt worden waren. Sie hatten lediglich eine andere politische Einstellung, bzw. standen für ein anderes politisches System als die jeweiligen Machthaber, die ihre Einweisung in das Lager Dachau verfügt hatten. Also zwei Unschuldige, die in die Fänge einer Unrechts- bzw. Rachejustiz geraten waren.
Beide Tagebuchschreiber sind gleich alt, haben den gleichen kulturellen und geistigen Hintergrund, eine ähnliche Ausbildung und besitzen erhebliche schriftstellerische Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichte, die Dinge klar und packend darzustellen. Das ist einer der Gründe, die zum Vergleich bzw. der Gegenüberstellung der beiden Tagebuchauszüge reizte.
Der eine Autor/Häftling heißt Arthur Haulot, geboren 1913 in Liege/Belgien, von Beruf Journalist, seit Beginn des Zweiten Weltkrieges Leiter des belgischen Generalkommissariates für Tourismus, Kommunist, Mitglied einer Widerstandsbewegung in Belgien. Er wurde am 27. Dezember 1941 durch die Gestapo verhaftet. Es folgten sechs Monate Arrest in St. Gilles und Forest, dann weitere vier Monate im KL Mauthausen. Dort brach eine Typhusepidemie aus und Haulot erkrankte schwer. Am 8. November 1942 wurde er zusammen mit anderen Schwerkranken nach Dachau verlegt.1
Der andere Autor/Häftling ist Gert Naumann, Deutscher, geboren ebenfalls 1913, Staffelkapitän einer Aufklärungsfliegerstaffel, später Major im Generalstab der Luftwaffe. 1945 geriet er als Verwundeter in amerikanische Gefangenschaft und wurde zunächst in Aibling, ab Oktober 1945 bis Februar/März 1946 und wieder von Mai bis Oktober 1946 im amerikanischen Internierungslager Dachau, zusammen mit anderen Wehrmacht- und SS-Angehörigen gefangengehalten.2
Beide Autoren haben während ihres Aufenthaltes in Dachau Tagebuch geführt. Im jeweiligen Vorwort versichern sie, daß sie ihre Aufzeichnungen nicht verändert, sondern wörtlich übernommen haben, um deren dokumentarischen Wert nicht zu beeinträchtigen.
Die Ankunft in Dachau scheint für beide Gefangene eine Verbesserung gegenüber den vorigen Zuständen gewesen zu sein. Allerdings ändern sich die Verhältnisse sehr schnell, im einen Fall zum besseren, im andern zum schlechteren. Schon der Empfang im deutschen KZ 1943 unterschied sich wesentlich von dem im amerikanischen Gefangenenlager 1945.
Haulot: »In Dachau angekommen, lebte ich im Lager das Leben eines "Zugängers" (Neuzugangs), zuerst auf Block 17, dann auf Block 25.« [In einer Notiz vom 13. Februar 1943 bezeichnet er die Ankunft in Dachau als seine »größte Freude«.] »Ich habe das wirkliche Lagerleben kennengelernt, mit all dem, was man heute darüber weiß. Deutsche und österreichische Kameraden haben mir geholfen, indem sie veranlaßten, daß ich am 6. Januar 1943 in den Krankenbau verlegt wurde. [...] Mein Bericht beginnt mit dem "Untertauchen" im Revier und dem Zugang zu Schreibmaterial. Ich habe kein Wort der Notizen verändert, um ihren dokumentarischen Wert zu bewahren.« (S. 129)
Das »Untertauchen« ist nicht wörtlich zu nehmen, da Haulot bis zuletzt offizielle Funktionen innehatte und als einer der Vertreter der belgischen Häftlinge galt, der mit der Lagerleitung ebenso wie mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes verhandelte. Am 30. April 1945, beim Einmarsch der Amerikaner, gehörte er zu den drei Leitern des »Internationalen Lagerkomitees«, das die Vertretung der Häftlinge übernahm und alle Verhandlungen mit den amerikanischen Offizieren führte, die ab dann für das Lager zuständig waren.
Naumann: »Wir sind im KZ-Lager! Rechter Hand befindet sich ein kleines, unscheinbares Gebäude, eine Holzbaracke, niedrig, dunkel, nichtssagend. Amerikanische Soldaten kommen heraus und führen die ersten zehn Mann von uns in das Haus. Nach kurzer Zeit kommen sie wieder heraus, ein paar taumeln, wie mir scheint. Einem blutet die Nase. Die nächsten zehn! Ich bin bei der dritten Gruppe. In der Baracke ist ein großer Raum. An den Wänden hängen in Augenhöhe Großfotos aus dem KZ, schreckliche Bilder von verhungerten KZ-Insassen, Leichenberge, gefolterte Kreaturen. Wir müssen uns ganz nahe an die Bilder hinstellen. Hinter uns geht ein amerikanischer Soldat von einem zum anderen und schlägt jedem mit der Faust von hinten in den Nacken oder auf den Schädel, daß man mit dem Antlitz gegen die Bildwand schlägt. "Let's go!" Wir treten draußen ins Glied zurück. Keiner sagt ein Wort.« (S. 139)
Die Gefangenen deutschen Offiziere, um die es sich hier handelte, hatten absolut nichts mit den Vorgängen in Dachau zu tun! Außerdem sind Fotos von Leichenbergen kein Beweis für irgendwelche Greueltaten. Haulot schreibt dazu:
»Seit Dezember 1944 [herrschte] eine Fleckfieberepidemie, die mehr als 10.000 Tote forderte und überall diese Leichenhaufen hinterließ, die die Amerikaner am 29. April 1945 entdecken sollten.« (S. 131 )
Zur Unterkunft im Lager Dachau schreibt Naumann:
»Nun sind wir im berüchtigten KZ-Lager Dachau und - haben es offenbar besser getroffen als im amerikanischen Lager Aibling
Freilich ist es eng hier, aber die Baracken sind stabil gebaut und sauber, die Wege trocken, kiesbestreut, und dann die sanitären Einrichtungen: Waschraum mit großen Becken! Klosetts zum Sitzen mit Wasserspülung! Hier ist es ja geradezu komfortabel!« (S. 141)
Das sollte sich aber bald ändern. Schon kurze Zeit nach ihrer Ankunft müssen sie aus ihrer festgebauten Baracke ausziehen und in eine von den Amerikanern erstellte Holzbaracke übersiedeln. Naumann:
»Diese Baracke hatten wir schon eine ganze Weile mißtrauisch betrachtet, da sie besonders dürftig und eilig zurechtgehämmert worden war und in keiner Weise etwa einen Vergleich mit den solid gebauten ehemaligen KZ-Baracken aushielt.« [S. 160] »Es regnet allenthalben durch das Dach, der Fußboden steht zentimeterhoch unter Wasser. Außerdem ist es eisig kalt im Innern, da die rohen Bretterwände Spalten bis zu 2 cm aufweisen. Es gibt kein Licht, die wenigen Fenster sind winzig klein und mitRauhglas versehen, so daß man nicht hindurchschauen kann. Als Oberst Schoch, der Sprecher der deutschen Offiziersgruppe, mit einem amerikanischen Offizier wegen der Unzumutbarkeit der neuen Unterkunft sprechen will - der Befehl zum Umzug war von einem Soldaten überbracht worden - wird er kurzerhand verhaftet und mit zwei Wochen Arrest bestraft. Begründung: Er (der Oberst!) habe den Befehl eines amerikanischen Soldaten(!) nicht sofort befolgt.« (S. 162)
Über seine Rückkehr aus der Haft schreibt Naumann:
»Am nächsten Vormittag kommt Oberst Schoch aus dem Arrest zurück. Ich besuche ihn. Er hat ein kleines, enges Einzelkämmerchen in der Versehrtenbaracke - dem ehemaligen KZ-Lagerbordell - bekommen. Ich erschrecke, als ich ihn sehe. Er ist in den 14 Tagen um Jahre gealtert. Man hat ihn weder auf Arrestfähigheit untersucht noch ihm auf seine dringenden Vorstellungen hin einen Arzt gewährt, als er seine Herzanfälle - angina pectoris - bekam. In einer Einmannzelle lag er schließlich mit drei weiteren Häftlingen zusammen, so daß kaum mehr Platz war, um sich zu rühren oder zu wenden. In der ersten Woche erhielt er täglich nur 1/5 Kommißbrot und 1 Liter Wasser. Aber weshalb man ihn eingesperrt hatte, konnte er nicht erfahren; das hat er erst jetzt von uns gehört.«
Wir folgen nun den Tagebucheintragungen von Haulot, die sich vorwiegend mit dem Problem der Verpflegung beschäftigen. Allerdings ist das bald kein Problem mehr für ihn.
Haulot: »13. Januar 1943. Wie der Hungerpsychose entkommen! Ich frage es mich mit Ungeduld. Ich führe Buch über das, was ich esse. Das ist viel mehr als das, was ich im Block erhielt [
] ich muß es hinnehmen, daß alle anderen reichlich und jederzeit zu essen haben: 6 Uhr, 9 Uhr, 13 Uhr, 15 Uhr usw. Das hat bei mir erneut zu dieser Psychose geführt, der ich seit einigen Wochen entkommen war. [
] Es gibt Leute, die ihre Ration nicht schaffen. [
] Besonders einen alten Tschechen, der wunderbare Lebensmittelpakete von draußen erhält und dazu noch Brot im Überfluß besitzt.«
Haulot ist seit dem 6. Januar 1943 im Krankenbau. In der einschlägigen Literatur werden wir belehrt, daß die Rationen für die Kranken viel geringer waren, als für die Arbeitenden, daß man sie quasi verhungern ließ. Haulot schreibt jedoch das Gegenteil, nämlich, daß er jetzt viel mehr bekommt, als er im Block 25 erhielt, wo er vorher war.
Die Lebensmittelpakete, die er hier erwähnt, spielen in seinen gesamten Aufzeichnungen eine wesentliche Rolle. Offensichtlich hat ein Großteil der Häftlinge mit diesen Paketen von Freunden, Verwandten und vom Roten Kreuz sich selbst und seine Kameraden nicht nur ausreichend, sondern im Überfluß und zudem mit Leckerbissen, die bei der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1943-1945 schon längst unbekannt waren, verpflegen können. In einer "offiziellen Geschichte" des Lagers Dachau heißt es allerdings, daß die Erlaubnis, Pakete zu empfangen, erst seit November 1942 galt,3 also dem Datum der Ankunft von Haulot. Haulot:
»14. Januar 1943. Heute morgen das Wunder. Ich erhalte Schlag auf Schlag hintereinander drei Brotzeiten [
] Griesbrei [
] Suppe [
] Kartoffeln [
] Beinahe täglich bekomme ich [
] von dem einen oder anderen ein Stück Apfel. Die Verpflegung ist demnach glänzend und ich hoffe, die 6 Kilo, die ich seit meiner Anianft in Dachau zurückgewonnen habe, schnell zu erhöhen.«
Haulot war am 8. November 1942 in Dachau eingetroffen, krank und halb verhungert. In den Blöcken 17 und 25 ging es ihm, nach seinen Angaben, immer noch schlecht und er bekam wenig zu essen. Erst ab 6. Januar ist er im Krankenrevier, wo er sich endlich täglich satt essen konnte und noch oft Lebensmittel übrig hatte und weiterverschenkte. In den zwei Monaten in Dachau hat er jedoch 6 Kilo zugenommen. Demnach kann auch die Blockverpflegung so schlecht nicht gewesen sein. Haulot:
»16. Januar 1943. Ich hin [
] mit Nahrung vollgestopft. Das einzige reale Problem besteht darin, zu erfahren, ob mein Magen dieser unaufhörlichen Verdauungsarbeit gewachsen ist.«
Die deutschen Kriegsgefangenen machen zwei Jahre später entgegengesetzte Erfahrungen: ihre Verpflegung wird ständig gekürzt. Naumann schreibt:
»Auch wird heute eine Verpflegungskürzung von der amerikanischen Lagerleitung verfügt. Abendsuppe und - hin und wieder - Schokolade fallen weg. Trotzdem ist die Verpflegung noch besser als in Aibling. Wir bekommen morgens ½ Liter Mehlsuppe, mittags ½ Liter bis I Liter Bohnensuppe, ¼ Kommißbrot, 30 g Fett oder 1/10 Büchse Fleischkonserve und ½ Liter Ersatz-Kaffee.« (S. 146)
»Ab heute eine abermalige Verpflegungskürzung [
] Danach gibt es nur noch dreimal täglich eine dünne Suppe, 18 g Margarine und fünf Scheiben Brot.« (S. 151)
»Wenn nur der ewig nagende Hunger nicht wäre! Unsere Verpflegungsration beträgt jetzt pro Tag nur noch zwei Liter dünne Suppe mit einzelnen Sauerkrautfäden oder ein paar weißen Bohnen oder ungeschälten Kartoffelstückchen "angereichert", fünf Scheiben Brot und zwei winzige Portionen talgige Margarine in der Größe je eines Stüchchen Würfelzuckers. [
] Wir spüren, wie wir nun täglich mehr und mehr an Gewicht verlieren.« (S. 156)
»Die Verpflegung ist wieder etwas reduziert worden: statt Margarine oder Käse gibt es täglich einen Teelöffel voll Marmelade.« (S. 164)
Ab und zu machten sich die Amerikaner auch ihr "Späßchen" mit den ihnen ausgelieferten, hilflosen deutschen Kriegsgefangenen. Naumann:
»Heute ist irgendein amerikanischer Feiertag. Wir wissen nicht, welcher,[4] für uns ist der 22. November ein Tag wie jeder andere. Oder doch nicht?? - Wir erhalten mit der Mittagssuppe noch ein halbes Täfelchen Schokolade (dafür aber keinen Brotaufstrich!), aber die Freude ist dennoch groß. Nur verstummt sie schnell wieder: Die Schokolade ist mit Schimmelpilzen durchsetzt und völlig zerbröckelt.« (S. 168)
Zwei Jahre zurück, ins KZ Dachau. Im Februar 1943 zieht sich Haulot eine Typhusinfektion zu. Er wird sofort auf strenge Diät gesetzt, die er auch einhält, obwohl es ihm schwerfällt, weil sich um ihn herum alles »vollstopft«. Erst Ende Februar ergeben die regelmäßigen Blut- und Stuhluntersuchungen, daß der Typhus überwunden ist. Er hat während dieser Zeit 2,5 kg Gewicht verloren, die er dann aber schnell wieder aufholt. Haulot:
»13. Februar 1943. Gestern abend erlebte ich meine größte Freude seit langem. Ich kann sie nur mit der meiner Ankunft in Dachau vergleichen: Louise und meine Eltern haben meine Nachricht erhalten!«
Louise ist seine Frau. Haulot bezeichnet seine Ankunft in Dachau, einem deutschen KZ, als seine »größte Freude«!
Haulot: »20. Febraur 1943 (gestern abend hat mich das übliche Verteilen der Pakete kaum berührt. [
] Es ist verblüffend zu sehen, daß selbst in einem KZ die Chancen [
] so ungleich verteilt sind. [
] Während die einen die Lagerverpflegung durch umfangreiche Pakete ergänzen können, müssen sich die anderen mit ihr zufrieden geben.
23. Februar 1943. Ich bräuchte Zucker, Butter, Fett, leichte ergänzende Nahrung, Obst, Eier. All das gibt es noch, denn in meiner Umgebung wird ununterbrochen gegessen. Aber ich bin davon, zumindest momentan, ausgeschlossen (Typhusdiät). [
] Endlich unerwarteter Besuch [
], der mir ein Stück wunderbaren, extra leichten Kuchen brachte. Wie herrlich!
4. März 1943. Kapitel Essen: ich "organisiere" immer mehr. Die jetzige Krankenkost bekommt mir viel besser als diejenige, die ich in Block 11 erhalten würde, nämlich eine normale Ration gewöhnliche Diät.
15. März 1943. 15 Leute nach Block 11 verlegt. Wegschaffen der überflüssigen Betten. Die verbleibenden Kranken werden den Krankenbau am Wochenende verlassen. Ich muß die restlichen Tage maximal nutzen. Mittags und abends Spezialdiät.
16. März 1943. André wird zusammen mit 51 anderen Häftlingen [...] freigelassen. Mein erstes Paket trifft ein. Zucker, Grütze, Zwieback, Lebkuchen, Marmelade, Gänseleber, Kondensmilch, Teigwaren, frische Eier, Butter, Knoblauch, Seife. Herrlich! [
] Alles ist in bestem Zustand.«
Es gab also Entlassungen aus dem KZ, Haulot spricht auch in weiteren Eintragungen davon. Von jetzt an bekommt er regelmäßig Pakete, alle offensichtlich vollständig, vielleicht sogar ungeöffnet.
Auch die deutschen Kriegsgefangenen, zwei Jahre später, erhalten, zwar nicht regelmäßig aber doch gelegentlich, Pakete. Naumann:
»Plötzlich wird mein Name gerufen, draußen vor der Baracke. "Naumann! Um 1 7.00 Uhr zur Poststelle, ein Paket abholen!" Ich? Ein Schreck durchzuckt mich. Ein freudiger Schreck. Für mich ein Paket? Ich kann es nicht begreifen. Von wem denn?? Wer sollte denn an mich gedacht haben?? Ich laufe durch den Regen, ein Jubelsturm im Herzen. Ein Paket! Eine erstmalige, eine einmalige Sache. Ich kann es nicht fassen. Ich kann kaum die Zeit erwarten, bis es 1 7.00 Uhr ist. Ein Posten fährt mich zur Poststelle. Hier fragt mich ein Soldat, von wem das Paket sei. Ich weiß es nicht. Da gibt er es mir auch so heraus. Es ist lose in zerknülltes Packpapier gehüllt. Aber ich kann den Absender entziffern: Es ist von [
] meinem Freund "Matthes"! Ich öffne es in unserer Baracke, ein wollenes Hemd und zwei Unterhosen sind drin, keine Zeile, kein Gruß. Aber das Paket ist zweifellos zensiert und geöffnet worden. Da hat man wohl mancherlei entfernt; nach dem Volumen der Verpackung zu schließen, war es offensichtlich umfangreicher. Nun, meine Freude ist grenzenlos!« (S. 150f.)
»Ab und zu bekommt der eine oder andere Kamerad ein Paket von Angehörigen oder Freunden. Natürlich sind diese Pakete oder Pächchen geöffnet und zensiert; jedenfalls ist jeglicher schriftliche Gruß oder gar eine briefliche Nachricht entfernt. Und was sonst noch "entfernt" wurde, kann man nur ahnen. Heute hat Oberstleutnant Mahlke ein Paket bekommen, und er feiert dieses Ereignis, indem er Oberst Hollidt, Oberst Petzold, Major Rungius und mich zum "Nachmittagskaffee" einlädt. Wir stellen einen kleinen, selbstgezimmerten Tisch etwas abseits in eine Ecke, darauf ein Taschentusch als Tischtuch, etwas Tannengrün aus dem Paket, in der Mitte eine kleine rote Kerze in einem rotwangigen Apfel. [
] Mahlke hat Brot geröstet und Käse drauf zergehen lassen. Es schmeckt köstlich. Hollidt lädt uns zu seinem letzten Päckchen italienischer Zigaretten ein. Hier wird immer geteilt und aus allem das beste gemacht.« (S. 164f.)
Haulot: »18. März 1943. Für morgen werden 72 neue Freilassungen angekündigt.
21. März 1943. Besuch von Otto. Kuchen, Apfel und Specialzucker. [
] Zwei Besuche, die mir größte Freude bereiten: Philipp und Hans. Hans bringt mir Honig, Philipp verspricht mir einen Pullover.
22. März 1943. Ich wiege mich: Ich habe in 22 Tagen 6 kg zugenommen. Ich bin, was man hier "gut organisiert" nennt. Noch gestern tat sich mir eine neue Versorgungsquelle auf. Der Leiter der Röntgenabteilung, den ich flüchtig kenne, fragte mich, was ich essen dürfte und brachte mir Brot und Butter [
] Traf heute den jungen Franzosen Roger wieder. [
] Er ist Stubendienst in Block 13/4. Er hat prächtig zugenommen, es ist eine Freude, ihn anzusehen. Wenn ich auf demselben Weg weitermache, werde ich ihm bald ähneln.
24. März 1943. Heute morgen habe ich mich, noch nüchtern, gewogen: 1 kg in zwei Tagen! Um 10 Uhr bringt mir Adolphe mein zweites Paket! Kuchen, Orangen, Äpfel, Zitronen, Zwieback, Sacharin, Zucker, Marmelade, Grütze, Teigwaren, Salz, Ovomaltine, Tomatensaft, Butter, Tabak, Zigaretten, nichts fehlt. [
] Ich vergaß zu erwähnen: Zwieback, geräucherte Heringe, Tee, Bouillon und sechs Heringsfilets.«
29. März 1943. Ab heute erhalte ich normale Diät. Das beginnt mit Kartoffelbrei! Ich habe Lust zu arbeiten, aber wenn ich beginnen will, geht nichts mehr. Meine Faulheit ist skandalös.«
Mit "arbeiten" meint Haulot hier "schreiben". Er schreibt Gedichte, Geschichten, Briefe und sein Tagebuch.
Was die von Haulot erwähnte Diät betrifft, sollte man sich vor Augen halten, daß sich das ganze in einem KZ im Jahr 1943 abspielt! Ein KZ, in dem die Menschen angeblich nur als Arbeitskräfte ausgenutzt wurden, die man dann, wenn sie nicht mehr arbeiten konnten, entweder verhungern ließ, oder sonstwie umbrachte! Haulot hat seit seiner Einlieferung am 8. November 1942, also seit nahezu fünf Monaten, noch nicht einen Tag arbeiten müssen, sondern wird nur gesundgepflegt.
Haulot: »30. März 1943. Was ich befürchtet habe, ist heute morgen eingetroffen: Verlegung aus Block 11. "Vertreibung aus dem Paradies". Das Leben hier wird sich wahrscheinlich stärker dem im Block anpassen. [
] Neue Umgebung. 3-Etagen-Betten, persönliche Dinge wie Uhr, Geschirr, Messer, Löffel, elektrische Heizplatte, nichts da. Auch keine Blumen. Es scheint, daß man auf dem Ofen kochen kann.«
Block 11 ist das Krankenrevier. Vorher war Haulot in Block 3, der als zusätzliche Krankenstube eingerichtet war. An den Dingen, die er jetzt vermißt (Uhr, elektrische Heizplatte), kann man sehen, was ihm bis jetzt alles zugestanden hatte. Blumen in der Krankenstube eines KZ - wo in den üblichen "Augenzeugenberichten" ist davon die Rede? Haulot:
»31. März 1943. Gute Nacht verbracht. Das Bett ist besser als in 3. [
] Ich glaube, daß ich hier nicht hungern werde [
] heute morgen zum Frühstück ¼ normales Brot. Zusätzlich erhielt ich [
] ein Drittel Brot mit einem großen Stück Margarine. Wenn das anhält, geht alles gut.
19. April 1943. Die "Organisation" läuft auf vollen Touren. [
] Was mich betrifft, so gehe ich morgen nach 27. Eifler bringt mir heute morgen eine völlig saubere und genau passende Zebrakleidung und dazu einen Pullover.
21. April 1943. Verlegung. Nach dem Mittagessen kommen wir nach Block 27, der von Erwin geleitet wird. Ich habe eine funkelnagelneue Kleidung und eine passende Mütze dazu erhalten.
29. April 1943. Ich gehe jetzt täglich in die Lichtstation, wo meine linke Schulter, in der ich keine Kraft mehr habe, behandelt wird.«
Die ärztliche Versorgung der kranken Häftlinge ist außerordentlich gut, wie man auch noch aus späteren Eintragungen sehen wird. Zwei Jahre später sieht die Lage anders aus.
Naumann schreibt: »Meine Verwundung am Oberschenkel eitert immer noch und will nicht heilen. Ich gehe noch einmal zum Krankenrevier. Aber es gibt keine Salbe, kein Verbandsmaterial mehr [
] Ich habe Fieber und Schmerzen in der Lebergegend. Nur hier nicht krank werden!!« (S. 174)
Haulot: »13. Mai 1943. Heute habe ich mit der Arbeit begonnen. Transport von Brot und Lebensmitteln. Ein harter Tag, aber nur deshalb, weil meine Füße schmerzen. Reichliche Nahrung. Schwere Arbeit. Aber ich bin in bewundernswerter Form und sehr glücklich, meine Muskeln gebrauchen zu können. Nachmittags ein wenig alltäglicher Glücksfall: Fahrt nach Dachau, um Behälter zu transportieren. Das beschert mir einen wunderschönen Ausflug durch einen Park, einen Tannenwald, die Stadt. Ich komme mit tausend Dingen in Berührung, die ich seit sechs Monaten vergessen habe: Bächen, Fischen, Schwänen, verschiedenen Bäumen [
] süß riechenden Blumen [
] herausgeputzten Frauen in hübschen Kleidern [
] Kindern jeden Alters, glücklichen Paaren [
] Läden, Restaurants, kurz, dem ganzen realen und pulsierenden Leben! [
] Und ich kehre, voll überschwenglicher Freude, mit einer Marguerite zwischen den Lippen, ins Lager zurück.«
Erst jetzt also, nach über sieben Monaten Aufenthalt in Krankenstuben, kommt Haulot zum Arbeitseinsatz. Gleich am ersten Tag kann er einen Ausflug in die Stadt Dachau machen. Das beweist, daß das KZ Dachau ein normales Straf- und Arbeitslager war ohne zu verbergende Geheimnisse, sonst hätte man die Häftlinge nicht durch die Stadt laufen lassen. Haulot:
»14. Mai 1943. Philipp hatte einen Unfall, der ihn zwingt, am Montag nach Augsburg zu fahren.«
Kranke werden demnach notfalls sogar in Spezialkliniken behandelt - 1945, unter den Amerikanern, waren die Zustände in Dachau etwas anders.
Als die Oberschenkelverwundung von Naumann zu eitern beginnt, sagt ihm der Arzt:
»Es wäre am besten, wenn Sie ins Lazarett gingen. Aber das geht ja nicht, weil niemand das Lager verlassen darf. Erst bei höchster Lebensgefahr gibt die Lagerleitung eine Erlaubnis, aber dann ist es meist zu spät.« (S.166)
Haulot: »16. Mai 1943. Bei mir ergibt sich eine Schwierigheit: der Mann, dessen Stellvertreter ich war, ist aus dem Revier verschwunden, und ich bin ohne Arbeit.
20. Mai 1943. Noch keine Arbeit. Ruhe mich bis morgen aus.«
Das Ausruhen dauerte nun schon fünf Tage lang. Und das in einem KZ, in dem die Häftlinge angeblich bis zum Umfallen arbeiten mußten. Haulot:
»1. Juni 1943. Dieses Mal arbeite ich, und wie: 14 Stunden am Tag. Ich ertrage es ohne zu große Erschöpfung. Aber mir bleibt keine freie Zeit; außer an den zwei Tagen, wo die Arbeit um 4 Uhr beendet ist. [
] Diese Woche ein Paket. Bin nun besser versorgt.
13. Juni 1943. Die Zeit vergeht erschreckend schnell. Ich finde keinen Augenblick mehr Zeit, die kürzesten Notizen zu machen. Aber obwohl die Arbeit beinahe alle Wochenstunden beansprucht, hindert mich dies nicht am Nachdenken. Im Gegenteil. Niemals zuvor in Deutschland hat mich eine derartige geistige Regsamkeit erfaßt. [
] Physisch fühle ich mich bestens. Gewiß, die Arbeit ist hart, aber sie verhilft mir zu Muskeln, wie ich sie zuvor nie hatte. Manchmal werde ich von einer animalischen Freude befallen [
] und zwar darüber, wie stark und lebendig ich bin. [
] Ich sang und lachte den ganzen Tag [
]«
»Die Zeit vergeht erschreckend schnell« - was für verwunderliche Bemerkung eines Gefangenen! Haulot:
»7. Juli 1943. Gute Woche. Am 29. ein Paket. Wunderbar. Samstag und Sonntag Theater. Ausgezeichnete Sachen. [
] Bin seit gestern nicht ganz in Ordnung. Schlafe den Vormittag über.«
Der 7. Juli 1943 war nicht etwa ein Sonntag, sondern ein Mittwoch. Bestimmte Häftlinge konnten sich also einfach mal einen ganzen oder halben Tag frei nehmen, wenn sie sich »nicht ganz in Ordnung« fühlten. Haulot:
»13. Juli 1943. Die Woche wurde von zwei Ereignissen beherrscht: der bewundernswerten Vorstellung am Sonntag und dem Paket am Montag! [
] Gestern Paket erhalten, das am 13. Juni abgeschickt wurde. Unbeschädigt. Perfekt. Mittendrin eine herrliche Pfeife [
]
27. August 1943. Lag gestern mit Grippe im Bett. Heute Ausruhen. Alles geht gut.«
Deutsche Zivilisten durften während der Kriegszeit wegen einer Grippe nicht einfach zu Hause bleiben. Die Arbeit ging vor. Haulot:
»12. Oktober 1943. Erhielt gestern Nachricht von zu Hause. Welche Freude! [
] Gestern abend italienisches Konzert. Schöne Stimmen, hübsche Musik, guter Jazz. Das tut wohl.«
Jazz - im Dritten Reich verpönt - im KZ möglich! Das Kulturleben im KZ Dachau bietet vor allem Theateraufführungen und Konzerte. Zwei Jahre später erlaubten die Amerikaner ihren Gefangenen gelegentlich den Besuch des Lager-Varietés. Naumann:
»Zwischenspiel nach der Mittagssuppe: Antreten! "Five men aine Rrraihe!" Wir werden durch das große allgemeine Lager nach vorn zum Kasernenkomplex geführt - zum Lager- Varieté "Karussell". Ein wenig Schlager-Musik, einigegequälte Witze und Clownerien, ein wenig Eugen Roth, ein wenig Kitsch. Die Kunst des Humors ist allzu groß und schwer, um von jenen beherrscht zu werden, denen es eigentlich zum Weinen zumute ist, Spielern wie Zuschauern. In langer Kolonne trotten wir wieder zu unserem Sonderlager zurück, leer, entmutigt.« (S. 148f.)
Ein wesentlicher Teil geistig-kultureller Anregungen ging jedoch von einem regelrechten Seminarbetrieb aus, den die deutschen Offziere eingerichtet hatten. Naumann:
»Wir haben den ganzen Lehrbetrieb jetzt universitätsmäßig gegliedert in Vorlesungen und praktische Übungen. Ich selbst habe jetzt täglich 5-6 Stunden Vorlesung belegt; mit den anschließenden "Hausaufgaben" finde ich bewußt keine Zeit mehr, mich mit unserem Los zu beschäftigen. Es ist eine "Flucht nach vorn" auf Biegen und Brechen, nur nicht unterkriegen lassen -.
Abends gibt es dann immer noch allgemeinbildende Vorträge: Oberst Köninger: "Plauderei über eine Ostasienfahrt", Professor Lehmann: "Die Kontinentalverschiebungstheorie Alfred Wegeners", "Wandlungen der Erdkruste".« (S. 156)
Zum Thema Post: Schon aus früheren Einträgen wird klar, daß Haulot öfter, wenn nicht regelmäßig, Post von seinen Angehörigen erhielt. Die amerikanischen Befreier hatten in diesem Punkt andere Ansichten.
Naumann wird gleich bei seiner Ankunft in Dachau "gefilzt". Ein amerikanischer Soldat nimmt ihm seine Brieftasche ab und konfisziert eine Postkarte, das letzte Lebenszeichen seiner Mutter (S. 139). Später ist es
»streng verboten, Briefe zu schreiben und diese vielleicht einem Arbeitskommando nach draußen mitzugeben. Verboten ist es auch, Briefpapier, Briefumschläge überhaupt zu besitzen, oder gar Briefe von Angehörigen bei sich zu haben. Strenge Strafen werden angekündigt.« (S. 155).
»Wenn ein Gefangener trotz Verbots einen Brief schreiben und auf irgendeinem Wege nach draußen schmuggeln sollte, so wird der Empfänger (!) eines solchen Briefes mit Gefängnis bis zu sechs Wochen bestraft! Wer einen Brief nach draußen schreibt [
] wird mit einer Woche Bunkerarrest bei Wasser und Brot bestraft. Anschließend muß er eine Woche lang täglich acht Stunden Gepäckmarsch mit 50 Pfund Gewicht machen. Danach kommt er nochmals für eine Woche bei Wasser und Brot in den Bunker. Es besteht kein Zweifel, daß viele von uns eine solche Tortur gar nicht mehr aushalten könnten.« (S. 171 )
»Es kommen wieder einige Pakete an. Natürlich ohne jeden schriftlichen Gruß. Noch hat niemand eine Nachricht von den Seinen erhalten, niemand eine Antwort auf die Rote-Krenz-Karte vom Oktober.« (S. 173)
Mitte des Jahres 1946 darf kurzfristig Post geschrieben und abgesandt werden. Aber neue schikanöse Bestimmungen vergällen den Gefangenen bald die Freude. Naumann:
»Ab sofort dürfen von den Gefangenen wöchentlich nur noch ein Brief auf dem bekannten 19-Zeilen-Formular und eine Postkarte geschrieben werden. Alle aus- und eingehende Post wird künftig streng zensiert.« (S. 259)
»Wir bekommen unsere Briefe zurück, die wir noch vor den neuen strengen Bestimmungen vor einigen Tagen schreiben durften. Wir müssen sie noch einmal schreiben und dürfen dazu nur das 19-Zeilen-Formular verwenden. [
] Wir bekommen erneut unsere Briefe zurück. Adresse und Absender müssen in Blockschrift geschrieben sein. Ein Brief darf nicht mit Bleistift geschrieben werden. Abkürzungen und Unterstreichungen sind verboten. Verboten ist auch die Verwendung von Zahlen; ein Brief kommt zurück, weil der Schreiber am Schluß geschrieben hatte: "1000 Grüße"; das ist eine Zahl und daher unzulässig. Verboten ist auch, über eine andere, dritte Person zu schreiben. Das heißt, daß man sich nicht nach Kindern, Eltern usw. erkundigen darf. Verboten ist jede Schilderung über Lagerzustände. Einer hatte geschrieben: "Wir liegen zu fünft in einer Stube"; er bekam deshalb den Brief zurück. Verboten ist auch noch, das Briefdatum auf eine besondere Zeile zu schreiben, die über die zulässigen Zeilen hinausgeht. Es sind gewiß lächerliche Schikanen, aber sie sind wirkungsvoll. Sie zermürben die Nerven und das sollen sie wohl.« (S. 260)
»Wir bekommen wieder Briefe von der Zensur zurück. Einer hat anstatt der zalässigen und vorgeschriebenen Anzahl von Zeilen versehentlich eine Zeile mehr beschrieben. Er bekommt seinen Brief zugleich mit dem Verbot zurück, nochmals zu schreiben. Ein anderer hat die Zeilenlinien mit Bleistift säuberlich vorgezogen; auch sein Brief wird nicht befördert.« (S.263)
Der Aufenthalt im amerikanischen Internierungslager zermürbt alle Gefangenen allmählich und treibt einige sogar zum Selbstmord. Im günstigsten Fall vermag man sich durch Teilnahme an den wissenschaftlichen und kulturellenVeranstaltungen abzulenken und zu versuchen, die traurige Gegenwart zu verdrängen.
Bei Haulot verläuft die Entwicklung dagegen positiv. Haulot:
»26. Oktober 1943. In 12 Tagen beende ich ein Jahr in Dachau. Habe meine prächtige Gesundheit wiedererlangt, ebenso eine Denkfähigheit und Arbeitskraft ähnlich derjenigen, die ich früher hatte. [
] In wievielen Monaten oder vielleicht Wochen kann ich die Meinen wieder umarmen? Ich muß nur abwarten. Hoch erhobenen Hauptes und starken Herzens. Nur auf diese Weise läßt sich das Schicksal besiegen. Und die Zukunft ist groß, ist wunderbar.«
»8. November 1943. Ein Jahr hier. [
] Ein Jahr. Ich kam hier krank, verwundet, erledigt an, nur noch der Schatten eines Menschen, was man in der bilderreichen Sprache des Lagers als "Kretin" oder "Muselmann" bezeichnet. Jetzt bin ich so gesund und stark wie zuvor und voller geistiger und körperlicher Vitalität.«
Das Fazit, das er aus einem Jahr Aufenthalt im KZ Dachau zieht, ist in der Tat erstaunlich. Seine euphorische Stimmung zeugt zwar auch von einem starken Charakter, aber sie hätte kaum aufkommen können, wenn die Zustände im KZ allgemein auch nur annähernd so bedrückend gewesen wären, wie man immer annimmt - und wie sie zwei Jahre später im amerikanischen Kriegsgefangenenlager Dachau waren. Naumann:
»Wenn ich das zunehmend lähmende Gefühl habe, ich könne das alles nicht mehr ertragen, dann gehe ich hinaus und laufe zwischen den Baracken hin und her. Zwar ist die Möglichkeit des Auslaufs hier nicht groß, aber man muß ja in Bewegung bleiben. Der Rauhreif verzaubert sogar den Zaun aus Stacheldraht zu einem Märchenbild weißer, glitzernder Zartheit. Hinter den bereiften Tannenwipfeln am Ende der Gärtnerei flammt das Abendglühen in Gelb und Rot und drohendem Grün.
Ich frage mich, ob das Leben überhaupt noch einen Sinn hat. Freilich sträube ich mich gegen solche Gedanken und ihre vorstellbaren Konsequenzen. Nein, nein, so weit ist es bei mir noch nicht! Aber ich fühle mich rechtschaffen müde und leer.
Ich möchte so gern irgend etwas Sinnvolles tun. Ich möchte gern etwas schreiben, aber ich habe kein Pupier mehr, und der Bleistift geht zu Ende.« (S. 171)
Haulot: »10. November 1943. Ich komme zurück in den Krankenbau. Seit einigen Tagen habe ich ein überanstrengtes Herz. Zu lange und harte Arbeit. Vielleicht genügt ein wenig Ruhe, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«
Zu diesem Eintrag schreibt Haulot im später verfaßten Vorwort seines Tagebuches:
»Vgl. ebenso die "Herzkrantheit", mit der ich am 10. November 1943 meine Rüchkehr in den Krankenbau rechtfertigte. Da, in Wirklichkeit, das Stehlen von Nahrung beim Kommando Küche Eins unmöglich geworden war, entschied ich mich, es aufzugeben. Ich wollte außerdem ausgeruht sein, um meinen Geburtstag am 15. November würdevoll begehen zu können.« (S. 131)
Paßt das zum allgemeinen Bild von einem Konzentrationslager? Ein KZ-Häftling konnte eine Woche vor seinem Geburtstag krankmachen, um für diesen Feiertag ausgeruht zu sein! Haulot:
»15. November 1943. Heute 30 Jahre alt. Bedeutender Augenblick. Die Jugend ist vorüber, zumindest was Frische und Spontaneität betreffen. Der junge Mann wird zum Menschen. Ich fühle mich stark, bereit, mein Schicksal, meine Zukunft anzupacken. Jedoch, wer weiß, was morgen sein wird.
1. Dezember 1943. Ich werde Krankenpflegehelfer. Leider nicht in Block 7, wie ich es erwartet hatte, sondern in 3/3.
2. Dezember 1943. Die Arbeit ist leicht und angenehm. Ich studiere das Krankenpflegelehrbuch. Große Schwierigheiten mit dem Vokabular. Aber es wird gehen.
6. Dezember 1943. Ich wechsele erneut das Bett. Habe meines an den tschechischen Professor abgegeben. Aber ich bleibe Stubenpfleger. Ich glaube, ich komme mit der Arbeit ganz gut zurecht. [
] Letztes Jahr in Block 25 hatte ich schreckliches Heimweh. Damals gab es nur mein Elend und meine Erinnerungen. Heute habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich bin wieder stark, widerstandsfähig und unempfindlich, von den anderen im allgemeinen respektiert, von einigen geliebt und noch wenigeren gehaßt.
25. Dezember 1943. Die Weihnachtsfesttage sind vorbei. Ich habe sie bestens verbracht. Letztes Jahr um diese Zeit war ich schwach und hilflos, nur mir selbst überlassen [
] Jetzt und hier bin ich nicht nur wieder gesund und kräftig, ich habe auch eine Stellung inne, die mich gleichzeitig moralisch befriedigt und es mir ermöglicht, mich um das seelische Wohl meiner Mitmenschen zu kümmern. [
]
Der Weihnachtsabend, der in meiner Stuhe gefeiert wurde, war wunderschön [
] Meine "Patienten" waren von dem Fest begeistert. Der Baum entsprach allen Wünschen und selbst die Ärmsten konnten es sich wohl ergehen lassen. Für mich war es ein bemerkenswertes Abendessen in ausgezeichneter Gesellschaft.
Heute ausruhen, Theater [
] Die Kulturbaracke, in Rekordzeit durch Tag- und Nachtarbeit errichtet, wurde eingeweiht. Das Bordell befindet sich noch im Rohbau, aber der Festsaal ist fertiggestellt. Ein Sieg des Geistes. Es liegt etwas Ergreifendes in dem Bemühen des Menschen, der unter total abnormen Bedingungen lebt, die Illusion einer normalen Existenz aufrechtzuerhalten. Bemühungen, "trotzdem zu leben", um sein Selbst zu bewahren, dem Stumpfsinn zu entkommen und sich die Menschenwürde zu erhalten. Unser Leben hier ist von all dem mehr oder weniger stark geprägt, und manchmal, nur fürAugenblicke, entwickelt sich daraus ein Gefühl erhebender Größe; oder eine unendliche Traurigheit [
]
Ich denke natürlich an meine Angehörigen. Aber ruhig, ohne Angst und Traurigheit. [
] Aber warum mich beklagen? Ich weigere mich, das zu tun. Ich bin stark, gesund, kräftig. Meiner Familie geht es angeblich gut. Wir sind also noch Privilegierte. Man muß nur gute Miene zum bösen Spiel machen und gegenüber dem Schicksal nicht undankbar sein.«
»Die Weihnachtsfesttage sind vorbei. Ich habe sie bestens verbracht«, schreibt Haulot zu Beginn dieses Eintrages. Daß man dem Weihnachtsfest durch spezielle Maßnahmen auch eine besondere Note verleihen kann, haben uns unsere amerikanischen "Befreier" bald darauf gelehrt. Zwei Jahre später, ebenfalls im KZ Dachau, jetzt von den Amerikanern als Internierungslager für SS und deutsche Wehrmachtsangehörige unterhalten, sah das so aus, Naumann:
»Noch zwei Tage bis Weihnachten. Wir müssen draußen vor der Baracke diesseits des Zaunes antreten. Der Himmel hängt mit tiefen dunkelgrauen Wolken über dem Lager. Auch aus den anderen Baracken des Sonderlagers werden die Gefangenen herausgerufen. Wir stehen in drei langen Reihen hintereinander, mit kurzen Zwischenräumen von Barackenbelegschaft zu Barackenbelegschaft. Eine Weile geschieht nichts. Die beiden Wachtposten draußen auf der Lagergasse bewerfen sich mit Schneebällen. Ein friedliches Bild. Wir warten fröstelnd hinter dem Zaun. Einige von uns, denen es zu kalt wird, "verdrücken" sich wieder rückwärts in die Baracken, die Posten merken nichts.
Da kommt ein Jeep die große Lagerallee herauf. Mit einem Anhänger hinten dran! Postsäcke sind erkennbar! Und Päckchen! Wir recken die Hälse, drängen uns vor. Der Jeep fährt zu uns hin, hält jenseits des Zauns. Drei amerikanische Soldaten springen ab, laufen nach hinten, kippen den Anhänger um: die Post liegt auf einem Haufen im Schnee -. Ein Amerikaner geht nach vorn, holt aus dem Jeep einen Kanister Benzin, er schüttet das Benzin über den Posthaufen, der andere Amerikaner hält sein Feuerzeug an den Haufen, Schnipp! Die gelbe Flamme lodert auf, lodert, lodert - Wir stehen wie erstarrt. Der brennende Haufen wird immer kleiner. Der Wind treibt ein paar angesengte Papierfetzen fort. Alles wird zu Asche - "Alles wegtreten!"» (S. 176)
Man könnte meinen, Haulot habe ein solch inhumanes Zeitalter bereits heraufkommen sehen. Am 28. Dezember 1943 schreibt er:
»Wie lange wird diese Gedankenunfreiheit noch dauern? Manchmal bekomme ich Angst bei der Vorstellung, daß das hier nicht aufhören könnte, selbst nach Beendigung des Krieges nicht. Daß auch ein anderes Regime Gedankenfreiheit verbieten könnte. Wozu dann heute all diese Leiden und Opfer? Sind wir auf dem Wege zur Entfaltung oder Entartung des Menschen? Das Drama der Zukunft, noch schrecklicher und tragischer als das gegenwärtige, zeichnet sich bereits ab.«
Wie ein Kommentar dazu liest sich ein Tagebucheintrag von Naumann:
»Die neue Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" geht von Hand zu Hand. Bei ihrer Lektüre fühlt man sich gepeinigt durch die von Gehässigheit getragenen Unlogik. Dabei ist alles derart "faustdick" aufgetragen, daß es eigentlich dem naiven Leser auffallen müßte.
Da erklärt ein amerikanischer General: "Militarismus ist der Todfeind jeder Demohratie." Auf der nächsten Seite aber steht ein Artikel: "Die USA fahren die allgemeine Wehrpflicht ein." In einer Kolumne heißt es: "Vornehmste Pflicht ist es, die bedauernswerten KZ-Häftlinge zu unterstützen, die monatelang, ja, jahrelang nur aus politischen Gründen gefangengehalten wurden." Gleich daneben befindet sich eine dicke Schlagzeile: "Gute Kunde: 700 000 Nazis in Haft!" Zwei Spalten weiter kann man lesen: "Herr Dr. S. und Dr. A. mußten gleichfalls das unfaßbare Schicksal erleiden, von den Nazis 1933 nur deshalb aus ihren Ämtern vertrieben zu werden, weil sie sich gegen Hitler stellten." Auf der gleichen Seite rechts steht aber: "'Selbstverständlich darf kein Nazi mehr zukünftig im öffentlichen Leben oder in der freien Wirtschaft eine Stelle bekleiden, es sei denn als untergeordneter Handarbeiter."
Oder: "Max Weber, der arme, aus politischen Gründen von den Nazis verfolgte Architekt, entwirft ein künstlerisches Ehrenmal." (Von übrigens abgründiger Geschmacklosigheit!) Und gleich im folgenden Artikel heißt es: "Auf der schwarzen Liste derer, die sich nicht mehr künstlerisch betätigen dürfen, stehen Furtwängler, Gieseking." Eine dicke Überschrift lautet: "Demokratie und Freiheit sind Deutschlands höchstes Ziel! Jeder arbeitet ohne Rücksicht auf Rasse, Stand und Parteirichtung mit am friedlichen Aufbau!" Gleich anschließend heißt es: "Nazis dürfen nicht mehr wählen!" "Nazi-Aktivisten und Generalstäbler finden nur noch als Tagelöhner Verwendung." "Nazis müssen ihre Wohnungen räumen!" "Nazi- Vermögen beschlagnahmt!"
Und so geht es fort und fort. Es wird einem übel dabei. Es geht nicht um Mitleid mit wirklich Schuldigen, mit wirklichen Nutznießern des Systems. Es geht darum, daß hier Rach- und Vergeltungssucht blindwütig um sich greifen. Es geht um die Schaffung neuen Unrechtes, was fast körperlich schmerzt.
Die Zeitung spricht von "einem neuen, freien Recht". Danach wird kein Mensch mehr eingesperrt oder gefangengehalten ohne vor Gericht gestellt zu werden und sich frei verteidigen zu können. Jawohl! Und wir hier? Bin ich nicht seit sechs Monaten unter teils menschenunwürdigen Umständen gefangen, ohne jegliche Vernehmung, ohne daß überhaupt jemand die leiseste Spur eines Interesses an mir und an all den vielen Kameraden bekundet?? Sicherlich, wir sind Unterlegene, Besiegte. Die Macht zu jeder Willlür liegt bei den Siegern. Das scheint wohl unabänderlich zu sein. Aber was sollen dann diese heuchlerischen, phrasenhaften Zeitungstiraden?« (S. 153f.)
Sowohl Haulot als auch später Naumann machen sich ihre Gedanken über die Zwangsgemeinschaft, in der sie leben.
Haulot: » 31. März 1944: Das Lager stellt ein sehr seltsames soziales Gefüge dar. [
] Als Verband von Menschen, gegen den Willen dieser Menschen, geplant und nur durch die aktive und - relativ gesehen - freiwillige Mitarbeit dieser Menschen funktionsfähig, weist er die wesentlichen Merkmale jeder spontan und frei organisierten Gesellschaft auf. Die Bildung von Klassen, Kasten, diversen Hierarchien, das Vorhandensein von Gesetzen, Gewohuheitsrechten, Vorurteilen bewirkt, daß es dem Ganzen gelingt, in einem Vakuum die Illusion eines fast normal funktionierenden sozialen Gemeinwesens zu schaffen. Das KZ ist eine Ersatzgesellschaft und das Leben darin ein Ersatz für das menschliche Leben.
19. Januar 1945. In welchem Grad werden wir, wenn wir hier herauskommen, noch wir selbst sein? Vor einem Jahr noch konnte ich diese Frage günstig beantworten. Ich hatte das Gefahl einer Reifung, einer menschlichen Bereicherung Heute hat sich da etwas geändert. Ich entdecke, daß ich roh und äußerst reizbar geworden bin. Die Bestie im Menschen gewinnt die Oberhand. Man lebt nicht ungestraft so lange Zeit außerhalb der Norm [
] Einige [von uns] hatten entschieden, sich einen Tag lang wie Gentlemen zu benehmen, so als lebten sie eine normale Existenz. Als der Abend kam, hatte keiner von ihnen durchgehalten. Obwohl sie sich alle Mühe gaben, behielten die gemeinen Gepflogenheiten, die "Erpressungen" innerhalb des Lagers die Oberhand. Ich persönlich verrohe bei bestimmten Ge/egenheiten von mal zu mal mehr. Eine Reaktion, die zum großen Teil auf das niemals befriedigte Bedürinis nach Isolierung zurückzuführen ist. In der Gemeinschaft zu leben, von abends bis morgens und vom Vormittag bis zum Abend, ohne jemals die Möglichkeit zu haben, eine Viertelstunde allein zu sein, ist eine harte Prüfung [
] Selbst die Kameradschaft kann zu einem störenden Faktor werden. Unmengen von Leuten in meiner Umgebung nehmen die Tatsache, daß ich ihnen einmal einen Dienst erwiesen habe, zum Vorwand, um sich mir aufzudrängen [
]«
Naumann macht die gleichen Erfahrungen:
»Verdrossen beginne ich zuweilen von einem Widerwillen gegen meine Kameraden befallen zu werden. Dies macht vor allem die Enge, in der wir alle miteinander zu hausen gezwungen sind; die schält das Allzumenschliche des Nebenmannes so deutlich heraus. Da es aber keine Möglichkeit gibt, einmal allein zu sein, wirklich allein, und sei es auch nur für eine Stunde, fällt man sich gegenseitig auf die Nerven. [
] Und wenn man hinausgeht, weil man's im Trubel und Getöse der so stark überbelegten Stube glaubt, nicht mehr aushalten zu können, stößt man an der nächsten Barackenecke wieder auf Kameraden, die sich einem an die Fersen heften.
Da ist die Gruppe der Ichbezogenen. Sie gehen "ihren eigenen Weg", pfeifen auf jede Kameradschaft, lassen sich gehen, wenn's ihnen gefällt, greifen nie und nirgendwo helfend ein, sinnen nur allein auf ihren eigenen Vorteil [
]
Dann ist da die Gruppe der unnahbar Verschlossenen. Sie huschen unauffällig mit verkniffenen Lippen zu allen Vorträgen, notieren alles, was sie hören; lernen, streben und arbeiten [
] Niemals sieht man sie lachen [
] Bei Diskussionen halten sie sich absolut zurück [
]
Am unangenehmsten aber ist die Gruppe der "in jeder Weise Gestrigen". Wiegenden Schrittes schreiten sie - in Unterhosen! - zum Abort, haben selbstverständlich zu allen Fragen ihren unverrückbaren Standpunkt [
] tragen Handschuhe, wenn sie die Stube fegen, und stehen stets und immer noch irgendwie auf einem Feldherrnhügel, ein Monokel im Auge, und jeder Fetzen Zeitung wird ihnen zur "Lagekarte".
Oh, wie abscheulich ich sie alle finde, ihre Stimmen, ihre Themen, ihre üblen Gerüche.« (S. 147.)
Für Haulot ergibt sich im Laufe der Zeit noch ein anderes Problem:
»9. März 1944. Die gute Ernährung zeigt beunruhigende Auswirkungen. Das sexuelle Bedürfnis erwacht, und da es nicht abreagiert werden kann, wird es in andere Bahnen gelenkt.
21. März 1944. Ein Paket!
31. März 1944. Erhielt gestern das Paket vom 26. Februar.
27. April 1944. Drei Pakete: eins vom Roten Kreuz, zwei von Louise.«
Solche Probleme wegen der guten Ernährung gab es zwei Jahre später in Dachau nicht. Naumann:
»Die letzte Ausgabe der "Neuen Zeitung" macht die Runde. Ich lese, wie gut es den Kriegsgefangenen hier im Lager Dachau gehe. Der Artikel unter der Uberschrift: "Altes Lager im neuen Licht" erzählt von "den behaglich eingerichteten Barackenstuben mit Sesseln, Lampen, Gardinen und Blumen" [
] "In den großen Gärtnereien wird besonderes Feingemüse für die Gefangenen gezogen." Es wird nicht nur von einer "großartigen Lagerbibliothek" berichtet und von einem Lagervarieté, sondern es wird sogar ein normaler täglicher Küchenzettel abgedruckt. Danach bekommen wir: "Frühmorgens gibt es Käse und Butter, Brot, Bohnenkaffee, Milch und Zucker; mittags Kartoffelpüree, gedünstete Tomaten, Fleischhaschee, Pudding und Brot und abends Bohnensuppe, Brot, Tee und Zucker." Weshalb diese faustdicken Lügen?
Morgens gibt es einen dünnen Mehlbrei, mittags heißes Wasser, in dem zerschnittene Pellkartoffeln und - wenn's gut geht - ein poar einzelne Maiskörner schwimmen. Abends gibt es nochmals eine dünne Suppe mit einer Einlage aus Kohlrüben oder Roten Rüben oder alten Wehrmachtssuppenkonserven.
Auf dem Plan stehen aber nach wie vor: 2576,2 Kalorien oder 2671, 6 Kalorien. Wer's glaubt... Nichts davon steht in der Presse.
Die Verpflegung wird laufend magerer. Die Suppe wird immer dünner. Auch der Teelöffel Marmelade zum Eckchen Brot reicht nicht aus. Wir "schieben Kohldampf", regelrecht. Wer einmal ein halbes Stündchen um die Baracke läuft, sinkt auf seine Pritsche, Todmüde, als habe er schwere körperliche Arbeit geleistet.« (S. 167)
»Freilich, die Verpflegungsfrage ist das "Thema Nr. 1"; es ist das zentrale Thema aller Erörterungen. Jeder merkt an sich einen fast alltäglichen Gewichtsverlust. Es ist beängstigend. Nachts träumen wir vom "Essen". Auch ich hatte heute nacht im Traum einen großen Teller herrlich duftender Hammelkoteletts vor mir [
] Dann wachte ich auf - vor Hunger. Das macht wohl auch der Durchfall, der den Körper stark schwächt.« (S. 170f.)
Haulot merkt, daß ihn junge Männer plötzlich genauso anziehen, wie früher Frauen, aber er wehrt sich dagegen und findet einen Ausweg. Er besucht die Baracke der kranken Frauen und knüpft Beziehungen zu der jungen deutschen Frau an, die dort die Aufsicht führt.
»Als Oberpfleger der Sektion Typhus nahm ich mir das Recht, eine [
] Baracke für kranke Frauen zu besuchen. Anläßlich dieser Gelegenheit stellte ich zu der weiblichen SS-Aufsichtsperson "Beziehungen" her, die sich als umso nützlicher erwiesen, als diese Dame außerdem Sekretärin des Kommandanten war. Durch sie erhielten wir eine Kopie des Befehls Himmlers, das Lager zu evakuieren, eine Stunde nachdem dieses Dokument in Dachau eingetroffen war.« (S. 131)5
Wenn Haulot behauptet, seine Geliebte sei nicht nur Oberpflegerin im Frauenlager sondern gleichzeitig die Sekretärin des deutschen Lagerkommandanten gewesen, muß man sich fragen, ob solche Ämterverquickung überhaupt möglich war. Vielleicht unterhielt er Liebschaften zu zwei verschiedenen Frauen, einer Oberpflegerin und einer Sekretärin. Diese Beziehung ist jedenfalls so intensiv, daß sie ihn das ganze Jahr 1944 hindurch stark beschäftigt und am Tagebuchschreiben hindert.
Nach dem Krieg spricht er von diesem "Flirt" als von einem »Abenteuer vom Typ Intelligence Service« (S. 131) und charakterisiert ihn damit als rein taktisches Manöver. Daß er versuchte, dieser Liebesbeziehung, die offensichtlich zu bekannt war, als daß er sie verschweigen konnte, ein, wenn schon nicht "moralisches", so doch "taktisches" Mäntelchen umzuhängen, ist nur zu verständlich. Seine Eintragungen zeigen jedoch, daß er gefühismäßig stark engagiert war.
Hinzukommt eine Phase der inneren Entfremdung von seiner Frau. Sie hat ihm ein Foto von sich geschickt, das ihn geradezu schockiert hat. Haulot:
»27. April 1944: Bild von Louise. [
] Die zwei Jahre haben sie gezeichnet. Das Photo [
] läßt die Züge hervortreten und das Gesicht älter erscheinen.
1. Mai 1944. Dieses so brutal die Wahrheit enthüllende Photo hat mich tief beunruhigt. [
] Warum fühle ich mich selbst so jung, so stark und vital, so voller Lebenshunger, während meine Gefährtin in einem solchen Ausmaß von der Zeit eingeholt wurde. Oh, das harte Gesetz der Natur, dem die Frauen unterworfen sind, das ihren Charme und ihre Schönheit zerstört [
] Niemals wird sich die Zärtlichkeit, die völlige Zuneigung, die ich für meine Frau empfinde, ändern. Aber ich weiß ebenso gut, daß ich mich, morgen noch weniger als gestern, mit einem sexuell öden, erstarrten Leben nicht zufrieden geben würde. Niemals zuvor war ich physisch so stark wie heute.«
In den folgenden Notizen gibt es immer wieder Andeutungen für diese Liebschaft. Von Juni 1944 bis Januar 1945 macht er keine Aufzeichnungen mehr, so sehr scheint er von dieser Beziehung beansprucht worden zu sein. Als im Januar 1945 die Fleckfieberepidemie ausbricht, tröstet er sich inmitten der Gefahr. Haulot:
»24. Januar 1945. Aber es gibt Möglichkeiten, sich ahzulenken.« (S. 184)
Während der letzten Typhusepidemie, inmitten von Leichenhaufen, schreibt er ein Gedicht. Haulot:
»27. Januar 1945:
Kontrast
Mein Herz wandelt auf wallonischen Pfaden
zum Himmel hinauf, dem Flug einer Lerche folgend.
Es antwortet dem fröhlichen Gruß der Wetterhähne,
die des morgens der frische wallonische Wind umschmeichelt.
Jedoch in grotesken Grimassen verharrend,
aufgestapelt auf dem Eis,
winken gelbe, grüne, blaue Tote
mit ihren mageren Fäusten
schwach den hageren Lebenden zu,
die schwankend ihren Spuren folgen:
Nun, ich will leben,
wenn ich dein Gesicht einer feurigen Löwin sehe,
o Tod, der du mit Knöchelchen spielst.«
Auch Naumann drückt seine Sehnsucht gelegentlich in Versen aus:
»Sehnsucht
Oh, wieder einmal einen stillen Waldweg gehn,
allein, hört ihr, allein! - Und nicht mehr Menschen sehn,
nur immer Menschen - vielmehr Bäume, stark und groß!
Nicht mehr tagein, tagaus der Menschen Stimmenklang
im Ohre tragen, sondern der Vögel Jubelsang
und Wipfelrauschen und der Grille Lied im Moos -
Und schreitend der beseelten Stille Segen trinken!
Etwa auf einem Berg dann stehn, den Tag versinken sehn,
zu Füßen ohne Grenzen weit das Land -
Und nicht mehr atmen müssen dumpfer Hütten Enge,
hineingezwängt in stumpfes Klagelos der Menge,
gequälten Blick an Zäune, Mauern hingebannt.
Oh, wieder einmal deine Hand in meiner haltend
nun bebend fühlen, wie unnennbare Gewalten
unseren Seelen schenken gleichen Klang und Mut.
Und nicht mehr ohne Sinn, gleich Tieren, weiterleben,
sondern in Frieden schaffen, liebend dich umgeben,
und mit dir jubeln dürfen: Welt, du bist doch gut!« (S. 144)
Die letzte Typhusepidemie des KZ-Lagers, der über 10.000 Menschen zum Opfer fallen sollten, stellt die Verantwortlichen vor unlösbare Aufgaben. Als Sanitäter ist Haulot voll im Einsatz. Es ist bewunderungswürdig, daß er trotzdem noch Zeit für seine Tagebucheintragungen findet. In der Einleitung seines Tagebuches schreibt er:
»Dreimal spreche ich vom Typhus. Tatsächlich handelte es sich in den ersten beiden Fällen vom Januar und Dezember 1943 um Bauchtyphus. Er forderte ungefähr 300 Tote. Der dritte Fall, seit Dezember 1944, war in Wirklichkeit eine Fleckfieberepidemie, die mehr als 10.000 Tote forderte und überall diese Leichenhaufen hinterließ, die die Amerikaner am 29. April 1945 entdecken sollten.« (S. 131)
»24. Januar 1945. Seit einer Woche Entwicklung einer noch tragischeren Situation als vor zwei Jahren. Das nimmt erschreckende Ausmaße an. [
] Dutzende von Freunden sind betroffen.
31. Januar 1945. Am Sonntag Entkleiden von Toten, die größte Anhäufung von Leichen, die ich je erlebt habe. Gestern wurde mein Zimmer praktisch in eine Typhussektion umgewandelt. Der Wettlauf zwischen Krankheit und Krieg geht weiter. Für viele ist er bereits entschieden.
6. Februar 1945. Ich ertrinke in Arbeit. Der Tanz ist tödlich. Meine Helfer sind krank. Jeden Tag erwartet man mindestens 80 Neuzugänge in der Totenkammer.«
Eine vom Autor nachträglich eingefügte Anmerkung lautet:
»Das Fleckfieber verbreitete sich im ganzen Lager. [
] Die Toten stapelten sich in den Straßen zwischen den Blöcken. Die Revierbaracken waren von Kranken überschwemmt.
6. Februar 1945. Wir nahmen heute Bluttransfusionen bei den Rekonvaleszenten vor.«
Noch im Februar 1945, kurz vor dem sich bereits abzeichnenden Ende, gab es also noch die Möglichkeit von Bluttransfusionen im KZ Dachau. Im Gegensatz dazu war in den meisten deutschen Lazaretten zu dieser Zeit die medizinische Versorgung der Verwundeten auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Selbst vor notwendigen Operationen, Amputationen, wurden nur noch Placebos ausgegeben. Ein Aspirin galt schon als Schmerzmittel. Bluttransfusionen konnten an Verwundeten in der Regel nicht mehr durchgeführt werden.
Haulot: »10. Februar 1945. Der Tod selber gewährt keinen Aufschub. Die Zahl der Opfer nimmt täglich zu. Gestern starb der alte Charles Jay. Als ich Declerq, den Vertreter des Belgischen Roten Kreuzes, besuchen will, wickelt man seinen Leichnam gerade in ein Tuch.«
Das Rote Kreuz hatte also im Februar 1945 in Dachau freien Zutritt und unbehinderten Umgang mit den Häftlingen.
Haulot: »18. Februar 1945. Am Sonntag sehr interessanter Besuch beim Schutzhaftlagerfahrer. Gegenstand des Besuchs: Die Regelung des Problems der Rotkreuzpakete. Seither funitioniert alles normal. Im übrigen hat sich nichts verändert. Enten, so viel man will. [
] Was die Epidemie angeht, so nimmt sie ihren Lauf·«
Die Ernährungslage der gesunden Häftlinge ist offensichtlich ausgezeichnet (»Enten, so viel man will«). In der später geschriebenen Einführung datierte Haulot seinen Besuch beim Lagerkommandanten auf den 25. März 1945. Haulot:
»Meine Rücksprache am 25. März 1945 beim Lagerkommandanten verlief in einer derart surrealistischen Atmosphäre, daß es sich darüber zu berichten lohnt. Zu dieser Zeit hatte das belgische Rote Kreuz eine große Ladung Lebensmittelpakete nach Dachau geschickt. Meine Kameraden und ich hielten es für unzulässig, daß die Belgier sich überfraßen, während andere Gefangene Hungers sterben würden. Beschluß: der Überfluß wird verteilt, besonders an die "Spanienkämpfer", die keine Hilfe von der Außenwelt erhielten. Aber für das Lagerreglement bedeutete jeder Solidaritätsakt Sabotage. Ich bat, beim Kommandanten vorsprechen zu dürfen. Am Sonntagmorgen wurde ich vorgelassen. [
] Ich trage eine Uhr am Handgelenk (verboten) und an den Füßen Schuhe, die aus den Beständen der SS "ausgeliehen" sind. Und zu allem Überfluß habe ich lange Haare. Meine Erklärung dafür: Ich erkälte mich, wenn man sie mir schneidet [
]! Empörung, Geschrei, dann glätten sich die Wogen. Der Kommandant [
] läßt einen Mann aus dem Sekretariat zu sich kommen und ihn in meiner Gegenwart den für das Tragen von langen Haaren erforderlichen Ausweis ausfüllen. Und ich gehe mit der Erlaubnis, die Pakete zu verteilen.« (S. 132f.)
»1. April 1945. Die Einrichtung eines neuen Blocks erfordert unter den gegebenen Umständen eine beachtliche Anstrengung. Ich tat es mit Freude und, wie ich selbst sagen kann, mit Erfolg. Jetzt bin ich also an der Spitze eines Bereichs von einigen 500 Kranken, zur Hälfte Typhuskranken, zur Hälfte "internen Fällen". Gute Krankenpfleger, gute Ärzte. Alles läuft prächtig.«
Für die letzten Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, sowie die Übernahme und Auflösung des Konzentrationslagers Dachau, geben die Aufzeichnungen Haulots wertvolle Hinweise. Haulot:
»6. April 1945. Man fühlt das Ende so nahe, daß man es jede Minute erwartet. Es besteht ein erschütternder und obendrein doppelter Kontrast zwischen dem relativen Frieden des Lagers und dem schrecklichen, wüsten Getöse draußen und dem Ausmaß des Schlamassels, in das uns die Befreiung entläßt.
21. April l 945. Das Blatt wendet sich. [
] Hinsichtlich folgender Themen wechselt die Lageratmosphäre von Stunde zu Stunde von äußerstem Optimismus bis zu schwärzestem Pessimismus:
1. Nahrung: Die Pakete werden seit zwei Wochen nicht mehr ausgeliefert. Ein Grund dafür wird nicht genannt. Man vermutet, daß es sich darum handelt, eine Lebensmittelreserve für das Lager anzulegen für den Fall, daß es, sich selbst überlassen, über keine Nahrungsmittel mehr verfügen würde. [
] In der Zwischenzeit reduzierte man die tägliche Essensration auf ein Minimum.
Heute gelang,, es mir endlich, ein Paket pro Mann zu verteilen. Aber in den Strafblöcken krepiert mun buchstäblich vor Hunger.
2. Evaknierung. Die verschiedensten falschen Gerüchte sind in Umlauf. Massendeportation nach Tirol. Oder in die Schweiz. [
] Dagegen steht die Meinung, daß Dachau bleibt, wo es ist und offiziell den Alliierten übergeben wird.
3. Liquidierung? Die größten Pessimisten sprechen natürlich von einer Liquidierung Dachaus nach dem klassischen Muster. Massenexekution oder Gaskammer [
]
Dagegen: [
] Abreise in Richtung Tirol von einigen Ehrengefangenen wie Blum [
], Schuschnigg [
] usw. Ich weiß nicht, wer bis jetzt das Lager verlassen hat. [
]
Ich persönlich bin immer noch unerschütterlich in einen Flirt verwickelt, der keine Konsequenzen nach sich ziehen wird, aber letzten Endes prickelnd ist und zum Zweck hat, mein seelisches Gleichgewicht zu bewahren, indem er mich von der allgemeinen Besessenheit ablenkt.
Ich kämpfe verbissen darum, so viele Pakete wie möglich von der Post für meine Kameraden im Block zu erhalten, leite meine Baracke und ziehe Erkundigungen ein. Laut neuesten Nachrichten von heute morgen kann es sein, daß ich mit Tom und einigen Engländern bei einer der nächsten Fuhren, die für das [
] "Wäldchen" bestimmt sind, dabeisein werde. [
] Schade, vielleicht 10 km von der Freiheit entfernt abzukratzen. Aber was dagegen unternehmen? Ich habe gespielt, gut gespielt, und vielleicht werde ich verlieren! Aber nicht gänzlich. Ich wäre vielleicht nur nicht da, um den Erfolg zu kosten. Was soll's. Was zählt, ist nicht nach der Schlägerei dazusein, sondern sie geführt oder zumindest begonnen zu haben. Das Danach geht die Nachfolgenden etwas an. [
] Und vielleicht ist es auch besser, die Enttäuschungen, die diesem Krieg ebenso wie dem vorherigen folgen werden, nicht zu erfahren. Der Friede ist ein schrecklicher Totengräber der Illusionen! [
] Meiner Ansicht nach wird der Frieden für Europa nicht schön ausfallen!«
Anmerkung: Zu 1. Nahrung. Das Anlegen einer Lebensmittelreserve ist eine durchaus plausible Erklärung für das Zurückhalten der Pakete.
Zu 3. Liquidierung. Haulot bezeichnet hier selbst eine geplante Liquidierung des Lager als pessimistisches Gerücht. In dem später geschriebenen Vorwort behauptet er jedoch, er hätte durch seine Geliebte den angeblichen Himmler-Befehl zur Liquidierung des Lagers erfahren. Der Befehl, ein angebliches Fernschreiben, ist in der Holocaust-Literatur mit den Daten 14. bzw. 18. April 1945 und folgendem Wortlaut überliefert:
»Die Ubergabe kommt nicht in Frage. Das Lager ist sofort zu evakuieren. Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen. Die Häftlinge haben sich grauenhaft gegen die Zivilbevölkerung in Buchenwald benommen. Gezeichnet: Heinrich Himmler, Reichsführer SS.«
Am 21. April, dem Datum des oben zitierten Eintrags von Haulot, hätte er also auf jeden Fall davon wissen müssen, behauptet er doch in der nachträglich geschriebenen Einführung, er hätte durch seine Geliebte von dem Befehl erfahren »eine Stunde nachdem dieses Dokument in Dachau eingetroffen war«.
Wie bereits erwähnt, kommt eine Untersuchung von Stanislav Zamecnik, einem tschechischen Historiker in Prag, zu dem Ergebnis, daß dieser Befehl, falls er überhaupt echt ist, auf keinen Fall für das Lager Dachau bestimmt gewesen sein kann, sondern höchstens für Flossenbürg.5
Die von Haulot in dem Abschnitt »Liquidierung« erwähnte »Gaskammer« führt in dem gesamten Tagebuch ein singuläres Dasein - mit Ausnahme eines Eintrags nach dem 29. April 1945. Möglicherweise wurde ihm da ein bestimmter Raum als »Gaskammer« bezeichnet. Aus eigener Erfahrung weiß er jedoch nichts darüber. Wie wäre es sonst zu erklären, daß er in seinen Aufzeichnungen, die doch die Geschehnisse im KZ Dachau festhalten sollen, darüber schweigt? In der Einleitung berichtet Haulot, in seinen Aufzeichnungen hätte er, obwohl sie ihm bekannt waren, »weder von den Malariaexperimenten noch von denen mit Meskalin gesprochen« (S. 131). Einen Grund dafür gibt er nicht an. Aber hier wäre die Stelle gewesen, auch eine Gaskammer zu erwähnen - wenn es sie denn in Dachau gegeben hätte. Inzwischen ist die Existenz bzw. der Betrieb einer Gaskammer in Dachau glaubwürdig widerlegt. Diese Auskunft wird auch regelmäßig von der KZ-Gedenkstätte Dachau erteilt.6 Haulot:
»23. April 1945. Die Aufregung wächst. [
] Das Krematorium und die Besoldungsstelle sind vermint. [
] Die Verrückten sind liquidiert. Die Juden zum Transport versammelt. Die Abfahrt wird aufgrund der Häufigheit und Heftigkeit der Sturzbomberangriffe beschleunigt vorangetrieben.
26. April 1945. Die Deutschen und die Russen verlassen das Lager. [
] 7.500 sollen heute nacht das Lager verlassen, der Rest morgen.
27. April 1945. Ich beobachte, wie die Leute abfahren. [
] Der Abtransport der Juden hat immer noch nicht begonnen. Die Waggons stehen noch jenseits der Umzäunung [
] Gestern abend werde ich ins Jourhaus gerufen, um M. Mauren, dem schweizerischen Delegierten des Roten Krenzes, vorgestellt zu werden. Er bringt 5 Lastwagen Pakete für die Westvölker.«
Haulot spricht also nicht von »Todesmärschen«, sondern von ordnungsgemäßen Abfahrten mit der Reichsbahn. - Das Rote Kreuz hat bis zuletzt Zugang zum Lager und kann die Inhaftierten mit Paketen versorgen. Haulot:
»28. April 1945. Die Franzosen werden plötzlich zur Entlausung ins Bad geschickt. Nichts geschieht.
Der lautlose Himmel macht einen rasend. Man fühlt das Ende so nahe, so nahe [
] Die Juden sind abtransportiert. Wohin werden sie gebracht?
29. April 1945. In der Nacht konstituierte sich heimlich ein Internationales Häftlingskomitee, das damit beauftragt war, in den Stunden, die folgen werden, für Ruhe im Lager zu sorgen und das nach der Befreiung die Leitung übernehmen soll.
Am Morgen stellen wir fest, daß die Lager-SS abgereist war. An ihren Platz treten zwei Kampftruppen, die die Wache übernehmen.
Am Nachmittag beginnen die Kampfhandlungen. [
] Ein Posten nach dem andern schwenkt die weiße Fahne. [
] Die Soldaten des letzten Wachturms ergeben sich. [
] Die auf der anderen Seite zusammengetriebenen SS-Leute werden öffentlich verhöhnt. Wenn sie uns in die Hände fielen, würden wir sie zerreißen.
Am selben Nachmittag werden die SS-Offiziere hingerichtet. In der Nacht erleiden die Soldaten das gleiche Schicksal. Die Amerikaner sagen: "Seit wir das erste Lager gesehen hatten, wußten wir Bescheid. Wir begriffen, daß wir nicht Krieg gegen Soldaten und Offiziere führten, sondern gegen Verbrecher. Wir behandeln sie wie Verbrecher."[7]
2. Mai 1945. Besichtigte das Krematorium. an die 2.000 Leichen, übereinandergestapelt, stinkend. Das eisige Entsetzen der Gaskammer. Der Zug, in dem die Juden transportiert wurden, ist mit Toten überladen. Man versteht, warum die Befreier gnadenlos jeden niederschossen, der eine SS-Uniform trug.«
Das Krematorium kam mit dem Verbrennen der Typhustoten nicht nach. Hier ist der Beweis dafür, daß es eben nicht möglich war - wie in der Holocaust-Literatur zu lesen - Tausende von Menschen in 1½ Stunden zu verbrennen. Wenn die Kematoriumsöfen das hätten leisten können, hätte es die Leichenberge nicht gegeben.
Das Krematorium wurde schon wenig später von den Amerikanern als Ausstellungsraum und Beweis für die den Deutschen angelasteten Greuel hergerichtet.
Hierzu eine Notiz von Naumann: Im Krematorium
»habe man alles so gelassen, wie es die Amerikaner beim Einmarsch vorfanden. Nur die umherliegenden Leichen seien durch Wachspuppen ersetzt worden. Ein biederer Bayer, der im Krematorium saubermachen mußte, meint hierzu: "Ja, wissen's, hier bau'n die Amerikana ihre große Tradition auf. Früher haben S' es sogar selba ernst g'numma. aber jetzt lachens sogar selberts drüber!"« (S. 142)
Welchen Raum Haulot als »Gaskammer« angesehen hat, sagt er nicht. Möglicherweise den kleinen Duschraum zwischen den Desinfektionsräumen und Krematorium, der heute noch als »Gaskammer - nie benutzt« ausgegeben wird.
Haulot ist der Meinung, die auch andere Zeugen aus jenen Tagen teilten, daß die Leichen in dem beim Lager stehenden Zug diejenigen der jüdischen Häftlinge gewesen seien, die aus Dachau weggebracht werden sollten.8 Andere behaupten, es seien Häftlinge aus Birkenau bzw. Buchenwald gewesen, die man nach Dachau geschickt habe.9 Für Buchenwald plädiert die KZ-Gedenkstätte Dachau, die sich dabei auf Zeugenaussagen, Lagerakten, persönliche Tagebücher von Lagerinsassen und ähnliches stützt. Haulot:
»4. Mai 1945. In den Blöcken zusammengepfercht, sterben die Leute massenweise. Eine Verfügung Eisenhowers: Typhusquarantäne.
15. Mai 1945. Offziell ist die Lagerleitung in den Händen des amerikanischen Kommandanten Rosenblom. [
] Über die Angelegenheiten der Häftlinge und des Internationalen Gefangenenkomitees entscheide ich [
] Viele Franzosen sind geflüchtet, besonders Ärzte. Die zu schwache und schlecht funitionierende amerikanische Führung hat diese Gefahren noch gesteigert. Als die Leute sahen, daß nichts geschah [
], beschlossen sie, sich selbst zu befreien. Mehr als 2.000 sind auf diese Weise verschwunden.
Die sanitäre Lage ist schrecklich. Von 120 Menschen sterben täglich immer noch 100. Ruhr, Typhus, Schwäche.«
Haulot bleibt bis zur Auflösung des Lagers, die sich bis Juni 1945 hinziebt, in Dachau. Anschließend kehrt er noch einmal zurück, um an dem im November 1945 beginnenden Prozeß gegen die Dachauer Belegschaft als Zeuge und Berichterstatter teilzunehmen.
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das am 18. Dezember 1945 veröffentlicht wurde, enthüllte Haulot noch zusätzliche Einzelheiten aus Dachau, die vor allen Dingen die Zusammensetzung der Häftlinge betrafen. Heute ist es ja üblich, jeden, der von sich behauptet: "Ich war im KZ", als Märtyer anzusehen und zu bemitleiden. Es ist völlig in Vergessenheit geraten, daß die Mehrzahl der KZ-Häftlinge aus rechtskräfitg verurteiltenVerbrechern bestand. Haulot erklärt in diesem Interview:
»Das Unerträglichste waren die moralischen Bedingungen, unter denen wir leben mußten. Das Zusammenleben mit Kriminellen aller Schattierungen, mit Asozialen, Verbrechern, Banditen.« Weiter heißt es: »Die Befreiung selbst brachte eine kitzlige Situation. Die amerikanischen Kampftruppen mußten weiterziehen und das Lager sich selbst überlassen. Angesichts der Tausende von Kriminellen, der ungefähr 10.000 Kranken, der Schwierigkeiten der Versorgung gehörten viel Mut, Umsicht und Entschlossenheit dazu, eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten und weitere Opfer zu vermeiden.«
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, muß abschließend eine Bemerkung angefügt werden. Die vorstehenden Auszüge aus dem Dachauer Tagebuch von Haulot sollen nicht den Eindruck erwecken, als sei ein KZ-Aufenthalt so etwas wie eine Erholungskur gewesen. Wenn das auch zeitweise für Haulot selbst zutraf - vor allem wegen der schlechten gesundheitlichen Verfassung, mit der er dort eingeliefert wurde -, so gab es Tausende von Häftlingen, denen es nicht so ging. Allerdings hat sich inzwischen, durch Untersuchungen und Zeugenaussagen belegt, der Eindruck durchgesetzt, daß das KZ Dachau gegenüber anderen Straflagern eine mildere Form des Lagers war. Aber wie der einzelne mit den Lagerverhältnissen fertig wurde, hing zum überwiegenden Teil von seiner Persönlichkeit ab und seiner Fähigkeit, sich in einem unsozialen System zu behaupten. Sehr wichtig war es aber auch, nicht unter einen Kapo zu geraten, der einem ungünstig gesonnen war, sondern baldmöglichst selbst eine führende Stellung innerhalb der Lagerhierarchie einzunehmen. Haulot ist des hervorragend gelungen. Seine Persönlichkeit und damit auch seine Aufzeichnungen stehen somit keineswegs stellvertretend für des Schicksal, des tausende Unschuldiger in Dachau erleiden mußten.
Anmerkungen
1 Auszüge aus seinem Tagebuch wurden veröffentlicht in: »Arthur Haulot, Lagertagebuch. Januar 1943 - Juni 1945«, Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, im Auftrag des Comité International de Dachau, Brüssel, herausgegeben von Wolfgang Benz und Barbara Distel, 1. Jahrgang 1985, Heft 1, »Die Befreiung«, Dezember 1985, S. 129-203.
2 Seine Tagebuchnotizen aus Dachau finden sich in: Gert Naumann, Besiegt und "befreit". Ein Tagebuch hinter Stacheldraht in Deutschland 1945-1947, Druffel, Leoni 1984, S. 139-199, 239-281.
3 Paul Berben, Dachau 1933-1945. The Official History, London 1975, S. 67f.
4 Es war "Thanksgiving" (Erntedankfest), des in Amerika groß gefeiert wird.
5 Zum angeblichen Himmler-Befehl zur Evakuierung des Lagers vgl. den Aufsatz von Stanislav Zamecnik: »"Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen." Zur Existenz des Himmler-Befehis vom 14./18. April 1945», Dachauer Hefte, Band 1, S. 219-231. Zamecnik führt darin den Nachweis, daß ein solcher Befehl für des Lager Dachau niemals existiert hat. Demzufolge ist es gar nicht möglich, daß die Geliebte von H. ihm von einem Himmler-Befehl erzählt hat.
6 In den obengenannten Dachauer Heften heißt es auf S. 23: »Tatsächlich war die Gaskammer im Krematorium des Lagers Dachau nicht in Betrieb genommen worden, es hatten in Dachau keine Vergasungen stattgefunden.«
7 Über die Exekution der letzten deutschen Wachmannschaft von Dachau berichtet ausfuhrlich als amerikanischer Augenzeuge Howard A. Buechner, Dachau. The Hour of the Avenger. An Eyewitness Account, Metairie, Louisiana 1986. Vgl. auch Ingrid Weckert, »Dachau - Tag der Rache, in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart, 35. Jg. Nr. 2, Juni 1987, S. 14-20.
8 Z.B. Nico Rost, Goethe in Dachau, Frankfurt/M. 1983, S. 229, 237, 245.
9 Birkenau: H.A. Buechner, aaO. (Anm. 7), S. 89; Buchenwald: Hans Carls, Dachau. Erinnerungen eines katholischen Geistlichen eus der Zeit seiner Gefangenschaft 1941 - 1945, Köln 1946, S. 198; Dachauer Hefte, 1, S. 10, 19, 20, 22; Hermann Langbein, ...nicht wie die Schafe zur Schlachtbank, Frankfurt/M. 1980, S. 382.