Alliierte Zensur im Nachkriegsdeutschland


Altogether / Insgesamt 35743 Entries / Einträge!


Die größte Büchervernichtungsaktion der Geschichte

Nachdem 1933 Adolf Hitler als Vorsitzender der stärksten Partei mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, war es die Deutsche Studentenschaft, die unter Berufung auf die Verbrennungen papistischer Literatur durch Martin Luther und auf das Wartburgfest, bei dem revolutionäre Studenten feierlich Symbole reaktionärer Politik, darunter auch Schriften, auf Scheiterhaufen warfen, Bücher "undeutschen Geistes" öffentlich verbrannten. Es sollten Demonstrationen sein; mit Bücherverboten hatten die Aktionen nichts zu tun. Verbote setzten zunächst unkoordiniert von verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen ein, bis das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels über die Reichsschrifttumskammer die einzig verbindlichen Bücherverbote aussprach. In jenen von der Reichsschrifttumskammer veröffentlichten Verbotslisten fanden auch Titel Eingang, die in der Zeit der Weimarer Republik auf den Schmutz-und-Schund-Listen der Polizei erschienen waren, deren Zahl aber permanent abnahm. Statt dessen wurde die Literatur von Emigranten ("Volksverräter"), Marxisten und Sowjetautoren und anderen aufgenommen. "Pornographen" machten 1939 nur noch zehn Prozent der verbotenen Bücher aus. Nach dem Standardwerk über "Nationalsozialistische Literaturpolitik" von Dietrich Strothmann (3. Aufl.: Bouvier, Bonn 1985; die erste Auflage erschien 1960) wurden "in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft in Deutschland annähernd 12500 Bücher verboten". Allerdings vertritt Dietrich Aigner in seiner umfangreichen Untersuchung über "Die Indizierung 'schädlichen und unerwünschten Schrifttums' im Dritten Reich", veröffentlicht in Band XI des Archivs für Geschichte des Buchwesen 1971 (Buchhändlervereinigung, Frankfurt/Main, erste Auflage 1968) aufgrund seiner Forschungen die Ansicht, diese Zahl sei "viel zu hoch veranschlagt worden". Nach seinen Untersuchungen enthielt die Verbotsliste der Reichsschrifttumskammer bis Ende 1938 insgesamt 4175 Einzeltitel und 565 Gesamtverbote, d.h. Verbote des Gesamtwerks von 565 Autoren. Diese Zahl schnellte in die Höhe, als 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion begann und 337 zusätzliche Gesamtverbote ausgesprochen wurden gegen Autoren, die in einer positiven Beziehung zur Sowjetunion standen.

Man pflegt mit Nachdruck in öffentlichen Veranstaltungen und in Publikationen auf die Bücherverbote in der Zeit des Nationalsozialismus hinzuweisen, ohne an die in jeder Beziehung rigorosere und umfangreichere Büchervernichtung durch die Siegermächte nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg zu erinnern.

Als das buchhändlerische Fachorgan "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel", Frankfurt, 1989 in mehreren Folgen "Die Geschichte der Buchzensur" darstellte, wurde die Schilderung ab Mai 1945 unterbrochen, um wieder einzusetzen mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, über die dazwischen liegenden hinweggehend mit der pauschallsierenden Bemerkung, es habe sich nach dem Krieg "erneut eine gigantische Kontrollmaschinerie in Bewegung gesetzt". Informationen aber fehlten.

Dabei wäre eine Darstellung nicht schwierig gewesen. Die Siegermächte hatten nämlich, fußend auf einem Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland vom 15. 9. 1945, wenige Monate später, nämlich am 13. 5. 1946, den "Befehl Nr. 4" des Kontrollrats erlassen, "die Einziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen und militaristischen Charakters betreffend". Von der deutschen Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone wurden in Zusammenarbeit mit der Schriftenprüfstelle bei der Deutschen Bücherei in Leipzig sogenannte "Listen der auszusondernden Literatur" herausgegeben, die auch in den westlichen Besatzungszonen amtlich verwendet wurden. Insgesamt erschienen nach dieser ersten Liste aus dem Jahre 1946 drei Nachträge mit zusammen 34645 Buchtiteln [VHO kommt hier auf insgesamt 32826 Buchtitel, vgl. Bücher Buchstabe Z, bzw. zusammen mit den Zeitschriftentiteln auf 35743, vgl. Zeitschriften Buchstabe Z]. Außerdem waren pauschal verboten, ohne daß die Titel einzeln aufgeführt wurden, alle Schulbücher aus den Jahren 1933 bis 1945. Die "Listen der auszusondernden Literatur" sind als Reprints vor einigen Jahren als die Bände 1-3 und 8 in der "Toppenstedter Reihe" des Verlages Uwe Berg in D-21442 Toppenstedt erschienen (1983f.). Um diese interessante Quelle jedem auf einfache Weise zugänglich zu machen, hat sich VHO entschieden, diese hier im Internet zu veröffentlichen. Somit kann sich jeder ein Bild verschaffen, welche Literatur in der Auffassung der Sieger als "nationalsozialistisch und militaristisch" galt.

Während in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft verbotene Bücher in den Bibliotheken mit Archivfunktion gesammelt und sekretiert wurden, verfügte der Alliierte Kontrollrat, alle in dem Befehl erwähnten Veröffentlichungen und Materialien seien "den Zonen-Befehlshabern zwecks Vernichtung zur Verfügung zu stellen". Und tatsächlich wurden aus den "ehemaligen staatlichen und städtischen Büchereien", aus den "Universitäten, den Höheren und Mittleren Lehranstalten, aus allen Forschungsinstituten und Akademien, aus allen technischen oder wissenschaftlichen Gesellschaften", sogar aus den Elementarschulen, aus allen Buchhandlungen und Verlagshäusern alle Bücher, welche "nationalsozialistische Propaganda, Rassenlehre und Aufreizung zu Gewalttätigkeiten oder gegen die Vereinten Nationen gerichtete Propaganda" enthielten, entfernt und vernichtet. Es war dies sicherlich die größte Büchervernichtungsaktion der Weltgeschichte.

Beschlagnahmungen verbotener Bücher in Privatwohnungen waren nicht vorgesehen, doch kam es durchaus zu solchen Aktionen, wie es beispielhaft aus einer Aktennotiz aus der Gemeindeverwaltung der in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Gemeinde Feldberg in Mecklenburg hervorgeht. Dort wird unter dem Datum 19. 6. 1945 festgehalten, daß der von der Besatzungsmacht eingesetzte Bürgermeister "im Hause Saßmannshausen, Fürstenbergerstr. 11" eine Hausdurchsuchung veranlaßt hat. Dabei wurden "in einem Schuhschrank, der auf dem Flur der Wohnung Köhler-Schücke stand, zwei nationalsozialistische Bücher gefunden, und zwar das Buch "Brest-Litowsk" von Theodor Krüger und das Buch "Kriegsdichter erzählen" von August Friedrich Velmede, ( ... ) Frau Hirchert wird darum von mir zu 48 Stunden Haft verurteilt. Die Haft beginnt am 19. Juni mittags 12 Uhr und endet am 21. Juni mittags um 12 Uhr. Die beiden gefundenen Bücher sind beschlagnahmt. Der Bürgermeister, Ditzen." Dabei handelt es sich um niemand geringerem als um den Schriftsteller Hans Fallada, der stets Bücher im Geiste der jeweils herrschenden Macht schrieb und sich nach der Besetzung seines Dorfes durch die Rote Armee ihr sogleich angedient hatte.

Selbst Ulrich von Hutten und die "Pferdefibel"

Wer meint, in den "Listen auszusondernder Literatur" der Siegermächte seien ausnahmslos Werke nationalsozialistischer Observanz zu finden, der wird bei der Lektüre eines besseren belehrt, Werke Friedrich Nietzsches sind ebenso zu finden wie solche von Gottfried Benn; man trifft auf die Autoren Ernst Jünger, Ernst-Moritz Arndt, Helmut von Moltke, Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen" mußten vernichtet werden, aber auch ein Buch des später so erfolgreichen Verfassers des "Räubers Hotzenplotz", Ottfried Preussler, sowie alles über die Olympischen Spiele 1936. Bücher von Friedrich dem Großen wurden ebenso verboten wie solche von. Ulrich von Hutten (1511-1546). Verblüfft erfährt man, daß das im Dritten Reich verboten gewesene Buch "Die Herrschaft der Minderwertigen" des Hitler-Gegners Edgar J. Jung verboten bleibt, dessentwegen der Autor 1934 von Nationalsozialisten ermordet worden war. Man fragt sich, was wohl in einem Buch über "Die Aufgaben der Gemeindepolltik" aus dem Jahre 1919 so Gefährliches für die Alliierten enthalten gewesen sein mag, doch wundert man sich über nichts mehr, wenn man in der Liste der verbotenen Bücher sämtliche Ausgaben des "Deutschen Bauernkalenders" findet, das Buch eines Autors Belz "Unter den Tuaregs", eine "Pferdefibel", Carl von Clausewitz' "Vom Kriege" (natürlich!), aber auch Bücher wie "Der Diplom-Volkswirt", "Der Diplom-Landwirt" und "Der Diplom-Kaufmann".

Es leuchtet ein, daß ein Werk über die "Gewinnbeteiligung der Gefolgschaft" verschwinden mußte, handelte es sich dabei doch um eine typische NS-Forderung. Was aber war der Grund für das Verbot des Buches "Die Geschichte der Königsberger Klempnerinnung"? Auch das dichterische Werk des Arbeiterdichters Heinrich Lersch mußte dran glauben wie die Bücher von Artur Maraun, die auch während der NS-Herrschaft verboten waren. So erging es auch den Büchern von Moeller van den Bruck. Sie waren vor 1945 verboten und blieben es auch nach 1945. Hermann Pongs hatte 1933 ein Buch über "Die Allgemeinbildung an der Technischen Hochschule" verfaßt. Es wurde verboten wie auch zehn Titel von Carl Schmitt - natürlich! Aber auch Ina Seidel war auf dem Index, ebenso wie die 1941 erschienene "Tennisfibel". Und das Erstaunen nimmt kein Ende: Die Gedichte Walters von der Vogelweide erschienen den Besatzern so gefährlich, daß sie vernichtet werden mußten. Pikant, daß man offensichtlich auch von Juden stammende Werke auf der Verbotsliste findet, nämlich die Bücher von Boris Germansky, die 1938 in Jerusalem erschienen waren, in der "Eretz-Israel Press", und die die Titel trugen "Der autonome und nationale Mensch" und "Der absolut nationale Mensch". Um das Maß voll zu machen, verbot man ein Buch über den Schutz der Hecken und Knicks, herausgegeben vom Reichsbund für Vogelschutz (der heute noch existiert unter dem Namen "Naturschutzbund Deutschland"), sowie eine Anleitung aus dem Berg-Verlag "Wir bauen ein Iglu".

Verbrannt wurden die Bücher allerdings nicht, so daß das gern im Zusammenhang mit der demonstrativen Bücherverbrennung der Deutschen Studentenschaft verwendete Heine-Zitat "Wo man Bücher verbrennt, dort verbrennt man auch Menschen" hier nicht am Platze wäre. Es ist allerdings schwer ein Unterschied auszumachen zwischen den öffentlichen Bücherverbrennungen und der millionenfachen Büchervernichtung auf anderen, moderneren Wege, Der Effekt ist der gleiche.

(nach: Martin Lüders, Nation und Europa, 47. Jg., Heft 9/1997, S. 7-11.)



Zurück zu "Zensur in Deutschland"