Erster Weltkrieg - der Wendepunkt: Teil 2

Von Prof. Dr. Ralph Raico

 

Fortsetzung des ersten Teils aus VffG 4/2001, S. 406-419

Der Krieg an der Heimatfront

Die in Amerika während des 1. Weltkrieges bewirkten Änderungen waren so tiefgreifend, daß ein Wissenschaftler sie »die Wilsonsche Regierungs-Revolution« genannt hat.[1] Wie bei anderen Revolutionen ging ihr eine geistige Umwälzung voraus: das Fortschritts-Denken beherrschte mehr und mehr die politische Auseinandersetzung.[2] Progressive Vorstellungen, - daß laisser faire und eine verfassungsmäßig beschränkte Regierung veraltet seien, daß es dringende notwendig sei, die Gesellschaft „wissenschaftlich" zu organisieren, wie auch die Überlegenheit des Kollektivs über das Individuum - wurden vom einflußreichsten Teil der Intelligenz verbreitet und durchsetzten zunehmend das politische Leben der Nation.

So wie der Krieg Lenin ansonsten nicht vorhandene Chancen für die Verwirklichung seines Programms bot, so eröffnete er auch für Amerika „progressive" Aussichten - wenn auch in bescheidenerem Umfang, -, die es in Friedenszeiten nie gegeben hätte. Der Intellektuellen-Klüngel um The New Republic entdeckte eine vom Himmel geschickte Chance, seine Absichten voranzutreiben. John Dewey pries den »immensen Anstoß zu einer Reorganisation, die der Krieg bewerkstelligt hat«, während Walter Lippmann schrieb:

»Wir können wagen, auf Dinge zu hoffen, von denen wir in der Vergangenheit nie zu träumen gewagt hätten.«

Die Zeitung selbst frohlockte über die Möglichkeiten, die »soziale Kontrolle« zu erweitern und »das Individuum der Gruppe und die Gruppe der Gesellschaft unterzuordnen«, und sie befürwortete, daß der Krieg »als Vorwand [benutzt werde], um dem Land Neuerungen aufzuerlegen[3]

Woodrow Wilsons Bereitschaft, die traditionellen Beschränkungen der Regierungsgewalt abzuschütteln, erleichterten die Einführung solcher „Neuerungen" sehr. Das Ergebnis war eine Einschränkung der amerikanischen Freiheiten, wie sie zumindest seit dem Bürgerkrieg beispiellos war. Man unterscheidet gewöhnlich „wirtschaftliche Freiheiten" von „bürgerlichen Freiheiten", aber da alle Rechte im Recht auf Eigentum verwurzelt sind, angefangen von dem grundlegenden Recht auf Besitz, ist diese Unterscheidung letzten Endes künstlich.[4] Sie wird jedoch für den Zweck der Ausführungen hier beibehalten.

U.S. Präsident Woodrow Wilson

In Bezug auf die Ökonomie hat Robert Higgs in seinem Seminar-Werk Crisis and Leviathan die beispiellosen Änderungen dieser Zeit skizziert, die auf eine amerikanische Version eines Kriegssozialismus hinauslaufen. Schon bevor die USA in den Krieg eintraten, verabschiedete der Kongreß das Nationale Verteidigungsgesetz. (National Defense Act). Es gab dem Präsidenten die Befugnis, in Kriegszeiten oder »wenn sich ein Krieg abzeichnet«, an private Firmen Aufträge zu erteilen, »die Vorrang vor allen anderen Bestellungen und Verträgen haben sollten.« Sollte sich der Hersteller weigern, die Aufträge zu einem »vernünftigen Preis, wie er vom Kriegsminister bestimmt wird«, auszuführen, so war die Regierung »befugt, von einer jeden solchen Firma Besitz zu ergreifen [und...] darin die erforderlichen Produkte oder Materialien herzustellen«, während der private Besitzer »eines schweren Verbrechens für schuldig angesehen« wurde.[5]

Als der Krieg erst erklärt war, wuchs die Staatsmacht in einem schwindelerregenden Tempo. Allein schon das Hebel-Gesetz (Lever Act) gab Washington die Kontrolle über die Produktion und Verteilung aller Lebensmittel und Treibstoffe in den USA:

»Bis zum Waffenstillstand hatte die Regierung die Ozean-Verschiffung, die Eisenbahn-, Telefon- und Telegrafie-Gesellschaften übernommen, hatte Hunderte Herstellungsbetriebe unter Befehl, war auf eigene Rechnung massiv in Unternehmungen auf so verschiedenen Gebieten wie Schiffsbau, Weizenhandel und Gebäudebau eingestiegen, unternahm es, riesige Summen direkt oder indirekt an Unternehmen zu verleihen und regelte die private Ausfertigung von Sicherheiten, hatte amtliche Prioritäten für die Nutzung von Transportkapazitäten, Lebensmittel, Treibstoff und viele Rohstoffe erlassen, hatte die Preise Dutzender wichtiger Verbrauchsgüter festgesetzt, in Hunderte von Arbeitsstreitigkeiten eingegriffen und Millionen Männer zum Dienst in den Streitkräften eingezogen.«

Wilson gestand voll Albernheit ein, daß die ihm gewährte Macht

»wirklich groß ist, aber sie ist nicht größer als sich für notwendig erwiesen hat, um die anderen Regierungen, die diesen bedeutsamen Krieg führen, bei der Stange zu halten.«[6]

Dem Präsidenten zufolge vertraute sich Amerika also einfach der Führung der Nationen der Alten Welt an und stürzte sich in den Kriegssozialismus.

Massen frischgebackener Bürokraten, die darauf aus waren, die neuen Posten zu besetzten, überschwemmten Washington. Viele von ihnen entstammten der „progressiven" Intelligenz.

»Nie zuvor schwärmten so viele Intellektuelle und Akademiker in die Regierung, um bei der Planung, Regulierung und Mobilisierung des Wirtschaftssystems zu helfen«

Darunter befand sich auch Rexford Tugwell, der später die Schlüsselfigur beim Denk-Trust des New Deals wurde.[7] Andere, die aus dem Geschäftsleben dazugekommen waren, hatten Auffassungen, die sich nicht von der Staatsverherrlichung der Professoren unterschieden. Bernard Baruch, Wallstreet-Financier und dann Chef des Direktorenrats der Kriegsindustrie, war der Ansicht, daß der freie Markt von wilden Schwankungen, Verwirrung und Anarchie gekennzeichnet sei. Baruch betonte die wichtige Unterscheidung zwischen Verbraucherwünschen und Verbraucherbedürfnissen, und machte damit klar, wer befugt war, zu bestimmen, was zu welcher Kategorie gehörte.

Als die Preiskontrollen in der Landwirtschaft unvermeidbare Verzerrungen mit sich brachten, drängte Herbert Hoover - ein ehemals erfolgreicher Ingenieur und inzwischen Lebensmittel-Verwalter der Vereinigten Staaten - Wilson dazu, allgemeine Preiskontrollen einzuführen:

»Das einzige akzeptable Gegenmittel [ist] eine allgemeine Befugnis zur Preis-Festsetzung, die von Ihnen selbst oder durch die Nationale Handelskommission (Federal Trade Commission) ausgeübt wird.«

Wilson legte dem Kongreß eine passende Gesetzesvorlage vor, der Kongreß verwarf sie jedoch. [8]

Die Ratifizierung des Einkommenssteuer-Ergänzungsgesetzes von 1913 ebnete den Weg für eine massive Steuererhöhung, sobald Amerika in den Krieg eintrat. Die Steuern für die niedrigste Steuerklasse verdreifachte sich von 2 auf 6 Prozent, während das Maximum der höchsten Klasse von 13 Prozent auf 77 Prozent stieg. 1916 wurden weniger als eine halbe Million Steuererklärungen eingereicht, 1917 betrug die Zahl beinahe 31/2 Millionen, eine Zahl, die sich bis 1920 verdoppelte. Das erfolgte zusätzlich zur Erhöhung anderer Bundessteuern. Das nationale Steuereinkommen »kam nie mehr auf ein Niveau unter dem Fünffachen der Vorkriegssumme«.[9]

Massive Steuererhöhungen allein reichten nicht aus, um den teuren Krieg zu finanzieren, also ging der U.S.-Staat bei seinen Bürgern betteln...

Aber selbst ein riesiger Steueranstieg war bei weitem nicht genug, um die Kriegskosten zu decken. Durch das kurz zuvor eingeführte Federal Reserve System druckte die Regierung neues Geld, um ihre bestürzenden Defizite zu finanzieren, die bis 1918 monatlich eine Milliarde Dollar betrugen - mehr als das gesamte Jahresbudget der Nation vor dem Krieg. Die Schulden, die 1915 weniger als 1 Milliarde Dollar betrugen, wuchsen 1919 auf $25 Milliarden. Die Zahl der zivilen Angestellten des Bundes wurde von 1916 bis 1918 mehr als verdoppelt, auf 450.000.[10]

Leser, die vielleicht erwartet haben, daß diese kolossale Ausweitung der Staatskontrolle bei den heroischen Führern der Großunternehmen heftigen Widerstand hervorrief, werden enttäuscht. Im Gegenteil, die Wirtschaftsleute begrüßten die Regierungseingriffe, die ihnen garantierte Profite, einen „risikolosen Kapitalismus" bescherten. Viele waren vor allem mit der Gesellschaft für Kriegsfinanzierungen (War Finance Corporation) zufrieden, die für die Geschäfte Kredite gewährte, die als notwendig für die Kriegsbemühungen angesehen wurden. Auf dem Arbeitsmarkt machte die Regierung ihren Einfluß für die gewerkschaftliche Organisierung und für Tarifverhandlungen geltend, die für alle bindend waren. Das war teilweise eine Belohnung für Samuel Gompers, für dessen Kampf gegen die verruchte Weltvereinigung der Industriearbeiter (IWW), die es gewagt hatte, den Krieg im Namen der Arbeiter zu verdammen.[11]

Murray Rothbard schreibt, daß der 1. Weltkrieg »die kritische Wasserscheide für das amerikanische Geschäftsleben [war... Ein Kriegs-Kollektivismus wurde eingeführt,] der für den Rest des Jahrhunderts als Modell und Inspiration für den Kapitalismus staatlicher Gesellschaften diente[12]

Viele der Verwaltungsbeamten und Hauptfunktionäre der neuen Gesellschaften und Büros erschienen anderthalb Jahrzehnte später wieder, als eine neue Krise eine weitere große Welle der Regierungsaktivität hervorrief. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß Franklin Roosevelt 1917 selbst in Washington mit dabei war, als Hilfssekretär der Marine und eifriger Mitwirkender an Wilsons Revolution.

Die bleibende Wirkung des Krieges auf die Mentalität des amerikanischen Volkes, das einst berühmt war wegen seiner Begeisterung für das private Unternehmertum, faßt Jonathan Hughes zusammen:[13]

»Das direkte Erbe des Krieges - die Toten, die Schulden, die Inflation, die Änderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur, die von der immensen Umverteilung von Ressourcen durch Steuer und Geldschöpfung herrühren - diese Dinge waren ganz offenbar. Nicht so offensichtlich war der feine aber durchdringende Wandel unserer Auffassungen, daß wir eine bundesstaatliche, nicht vom Markt bestimmte Kontrolle mehr und mehr akzeptierten und uns als Ergebnis des Kriegserlebnisses sogar dafür begeistern.«

Den Bürgerrechten erging es nicht besser in diesem Krieg, der die Welt für die Demokratie reif machen sollte. In der Tat begann „Demokratie" bereits das zu bedeuten, was es heute bedeutet: das Recht einer durch formale Mehrheitsprozesse legitimierten Regierung, nach Belieben über das Leben, die Freiheit und das Eigentum ihrer Untertanen zu verfügen. Wilson gab den Grundton an für die rücksichtslose Unterdrückung eines jeden, der seinen Kriegsbemühungen in die Quere kam:

»Wehe dem Mann oder der Gruppe, die uns an diesem Tag der festen Entschlossenheit im Weg stehen will.«

Generalanwalt Thomas W. Gregory sekundierte dem Präsidenten und erklärte in Bezug auf die Kriegsgegner:

»Möge Gott mit ihnen Gnade haben, denn von einem wütenden Volk und einer rächenden Regierung brauchen sie keine zu erwarten.«[14]

Das Spionage-Gesetz von 1917, das im nächsten Jahr durch das Aufruhr-Gesetz (Sedition Act) ergänzt wurde, ging weit darüber hinaus, Spione zu bestrafen. Seine wirkliche Zielrichtung war die Meinung. Es wurde speziell gegen Sozialisten und Kritiker der Wehrpflicht eingesetzt.[15] Leute kamen ins Gefängnis, weil sie die Verfassungsmäßigkeit der Einberufung bezweifelten und wurden verhaftet, weil sie das Rote Kreuz kritisierten. Eine Frau wurde angeklagt und verurteilt, weil sie vor einer Frauengruppe gesagt hatte, »die Regierung ist für die Wucherer«. Ein Filmproduzent wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wegen eines Films, The Spirit of '76, der als antibritisch angesehen wurde. Eugene V. Debs, der 1912 als Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei 900.000 Stimmen bekommen hatte, wurde zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in einer Parteiveranstaltung den Krieg verurteilt hatte. Freiwillige gingen auf Antikriegs-Dissidenten los, wobei es in mindestens einem Fall zum Lynchen kam. Bürger deutscher Abstammung und sogar lutherische Priester wurden belästigt und sowohl von ihren Nachbarn wie auch von Regierungsagenten bespitzelt. Die New York Times stachelte die Behörden an, mit »Verschwörern«, die gegen den 1. Weltkrieg waren, »kurzen Prozeß zu machen«, genau wie die gleiche Zeitung Nicholas Murray Butler, dem Präsidenten von Columbia, Beifall spendete, weil er »seine Pflicht tat«, indem er Fakultätsmitglieder entließ, die gegen die Einberufung waren. Die öffentlichen Schulen und Universitäten wurden zum Sprachrohr der Regierungslinie gemacht. Der Generalpostmeister Albert Burleson zensierte und verbot die Verbreitung von Zeitungen, die kritisch gegenüber Wilson, der Kriegsführung oder den Alliierten waren.[16]

Wehrdienst und Arbeitsdienst für einen ungerechten Krieg: Mißbrauch des Patriotismus an allen Fronten

Die das ganze Land umfassende Unterdrückungskampagne wurde vom Ausschuß für Öffentlichkeitsinformation (Committee on Public Information) angespornt, der ersten Propaganda-Einrichtung der Regierung, mit George Creel an der Spitze.

In jenen Fällen, die den Obersten Gerichtshof der USA erreichten, wurde die Verfolgung der Dissidenten aufrechterhalten. Gerade der große liberale Richter Oliver Wendell Holmes Jr. verfaßte die Mehrheitsentscheidung, die die Verurteilung eines Mannes bestätigte, der die Verfassungsmäßigkeit der Einberufung angezweifelt hatte, genau wie auch 1919 im Falle Debs wegen dessen Antikriegs-Rede.[17] Im Zweiten Weltkrieg konnte der Oberste Gerichtshof der USA beim besten Willen nichts in der Verfassung finden, warum es verboten sein sollte, amerikanische Bürger einfach deshalb, weil sie japanischer Abstammung waren, festzunehmen, ins Innere abzutransportieren und einzukerkern. In gleicher Weise lieferten die Richter, mit Holmes als Anführer der Bande, jetzt die Bürgerrechte des amerikanischen Volkes an Wilson und seine Statthalter aus.[18] Wieder wurden Präzedenzfälle etabliert, die die Rechte des Volkes in der Zukunft weiter unterminieren sollten. Mit den Worten von Bruce Porter:[19]

»Wenn auch nach 1918 viel vom Unterdrückungsapparat aus der Kriegszeit abgebaut wurde, hinterließ der Erste Weltkrieg ein verändertes Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft, das künftigen Ansprüchen der Staatsmacht Vorschub leistete - angefangen beim New Deal.«

Wir sind alle mit dem als „McCarthyismus" bekannten Vorgang vertraut, der jedoch relativ wenige Personen betraf, von denen viele tatsächlich Stalinisten waren. Diese angebliche Terrorzeit wird immer noch endlos in Schulen und den Medien wiederaufgewärmt. Im Gegensatz dazu haben selbst unter gebildeten Amerikanern nur wenige jemals von der Demontage der Bürgerrechte unter Wilsons Regime gehört, die weit intensiver war und Zehntausende in Mitleidenschaft zog.

Die schlimmste und offensichtlichste Verletzung der Persönlichkeitsrechte stellte die Wehrpflicht dar. Manche wunderten sich, warum wir in dem großen Kreuzzug gegen den Militarismus gerade das Kennzeichen des Militarismus übernahmen. Der Sprecher des Hauses Champ Clark (D.-Mo) bemerkte, daß »es nach Einschätzung der Einwohner von Missouri herzlich wenig Unterschied zwischen einem Wehrpflichtigen und einem Sträfling gibt.« Das Problem lag darin, daß zwar der Kongreß für Wilsons Krieg gestimmt hatte, aber die jungen amerikanischen Männer mit ihren Füßen dagegen stimmten. In den ersten zehn Tagen nach der Kriegserklärung meldeten sich nur 4.355 Männer zu den Waffen; in den nächsten sechs Wochen vermittelte das Kriegsministerium nur ein Sechstel der benötigten Mannschaftsstärke. Aber Wilsons Programm forderte, daß wir eine große Armee nach Frankreich verschifften, damit die amerikanischen Truppen einen ausreichenden Blutzoll entrichteten. Sonst würden dem Präsidenten am Schluß die Referenzen fehlen, um inmitten der siegreichen Führer seine von der Vorsehung bestimmte Rolle zu spielen. Mit der ihm eigenen Selbsttäuschung erklärte Wilson, daß die Wehrpflicht »in keiner Weise eine Einberufung der Unwilligen sei, sondern eher ein Auswählen aus der Masse der Nation, die sich freiwillig gemeldet habe[20]

Der friedliebende Wilson, der Feind des Militarismus und der Autokratie, hatte nicht die Absicht, nach Kriegsende auf den Machtzuwachs der Staatsgewalt zu verzichten. Er schlug ein militärisches Nachkriegstraining für alle 18- und 19-jährigen Männer und die Schaffung eines großen Heeres und einer Marine vor, die der Großbritanniens gleichkommen sollte, und forderte ein Aufruhrgesetz für Friedenszeiten.[21]

Warren G. Harding, U.S. Präsident von 1921-1923

Zwei Episoden zum Abschluß kennzeichnen Woodrow Wilsons staatsmännische Kunst:

Bei dem neuen Völkerbund wurde auf ein US-Mandat (eine Kolonie) über Armenien gedrängt. Diese Idee sprach Wilson an. Armenien war genau ein solches »weit entferntes Schutzgebiet«, wie er es zwanzig Jahre zuvor gepriesen hatte, weil es einen »enormen Machtzuwachs« des Präsidenten bewirkten würde. Er schickte eine geheime Militärmission aus, um das Terrain zu sondieren. Aber dessen Bericht war einstimmig und warnte z.B., daß uns ein solches Mandat ins Zentrum eines jahrhundertealten Schlachtfeldes von Imperialismus und Krieg bringen und zu ernsten Komplikationen mit dem neuen Regime in Rußland führen würde. Der Bericht kam nicht an die Öffentlichkeit. Statt dessen forderte Wilson im Mai 1920 vom Kongreß die Befugnis, das Mandat zu errichten, wurde aber abgewiesen.[22] Es ist interessant, die wahrscheinlichen Folgen des amerikanischen Mandats über Armenien zu überdenken, die sich mit der Freude vergleichen ließen, die England mit seinem Mandat in Palästina hatte, plus andauernder Reibereien und vielleicht Krieg mit Sowjetrußland.

1920 waren die Vereinigten Staaten - Wilsons Vereinigte Staaten - das einzige Land, das in den Ersten Weltkrieg verwickelt gewesen war und immer noch eine Generalamnestie für politische Gefangene verweigerte.[23] Der berühmteste politische Häftling des Landes war der Sozialistenführer Eugene Debs. Im Juni 1918 hatte Debs eine Rede vor einer sozialistischen Zusammenkunft in Canton, Ohio, gehalten, in der er den Krieg und die US-Regierung anprangerte. Es gab weder einen Aufruf zu Gewalt noch folgten irgendwelche Gewalttaten. Ein Regierungsstenograph notierte die Rede und reichte bei den Bundesbehörden in Cleveland einen Bericht ein. Debs wurde nach dem Aufruhr-Gesetz angeklagt, vor Gericht gebracht, und zu 10 Jahren Haft in einem Bundesgefängnis verurteilt.

Im Januar 1921 war Debs krank, und viele fürchteten für sein Leben. Erstaunlicherweise war es Wilsons lärmender Generalstaatsanwalt A. Mitchell Palmer persönlich, der den Präsidenten drängte, Debs Urteil abzuändern. Wilson schrieb quer über die Empfehlung das einzige Wort: »Verweigert«. Er behauptete,[24]

»Während die Blüte der amerikanischen Jugend ihr Blut vergoß, um für die Sache der Zivilisation Zeugnis abzulegen, stand dieser Mann, Debs, hinter den Linien, schoß aus dem Hinterhalt, griff an und klagte sie an. [...] Er wird nicht begnadigt, solange ich regiere.«

In Wirklichkeit hatte Debs nicht »die Blüte der amerikanischen Jugend« angeklagt, sondern Wilson und die anderen Kriegstreiber, die sie zum Sterben nach Frankreich schickten. Um Debs zu begnadigen, bedurfte es eines Warren Harding, der einer kürzlich erfolgten Umfrage unter Historikern zufolge einer der „schlimmsten" amerikanischen Präsidenten gewesen sein soll, während Wilson, (fast „der Große") ihn im Gefängnis hätte sterben lassen. Debs und 23 weitere inhaftierte Dissidenten wurden am Weihnachtstag 1921 auf freien Fuß gesetzt. Harding erwiderte denen, die ihn wegen seiner Milde lobten:[25]

»Ich konnte nichts Anderes tun. [...] Diese Leute wollten niemandem schaden. Es war eine grausame Strafe.«

Eine anhaltende Aura der Heiligkeit umgibt Woodrow Wilson. Sie wurde vorwiegend in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen, als sein „Martyrium" als Keule benutzt wurde, um alle noch verbliebenen Isolationisten zu schlagen. Aber selbst wenn man von Wilsons Rolle als Kriegsbringer für Amerika und seinem dümmlichen und pathetischen Umhertaumeln bei der Friedenskonferenz absieht, sollte allein schon sein Kreuzzug gegen die Redefreiheit und die Marktwirtschaft ausreichen, um ihn aus der Sicht eines jeden echten Liberalen zu verdammen. Aber weil er unaufhörlich Begriffe wie „Freiheit" und „Demokratie" verwendet hat, werden weiterhin die in die Irre geführt, die lieber schmeichelnde Worte hören wollten, als sich die Handlungen anzusehen. Was die Völker der Welt von der Herrschaft des Wilsonschen „Idealismus" zu erwarten hatten, kann am besten von Wilsons Amtsführung zu Hause abgelesen werden.

Auch wenn er kein Professor war, verstand Walter Karp, ein weiser und versierter Kenner der amerikanischen Geschichte, die tiefere Bedeutung von Woodrow Wilsons Regime:[26]

»Heute wird amerikanischen Kindern in unseren Schulen beigebracht, daß Wilson einer unserer größten Präsidenten war. Allein das beweist schon, daß sich die Republik Amerika nie mehr von dem Schlag erholt hat, den er ihr beigebracht hat.«

Der Weg zum Zweiten Weltkrieg

Der unmittelbare Preis des Krieges betrug für die USA 130.000 Gefallene, 35.000 für den Rest ihres Lebens verkrüppelte, 33.5 Mrd. Dollar (plus bis 1931 weitere 13 Mrd. Beihilfe für Veteranen und Zinsen auf die Kriegsschulden, zum damaligen Geldwert) und vielleicht auch die 500.000 Grippe-Toten unter den amerikanischen Zivilisten durch den Virus, den die Männer aus Frankreich mit nach Hause gebracht hatten.[27] Der indirekte Preis, das Zerschlagen der amerikanischen Freiheiten und der schwindende Einsatz für liberale Werte war vielleicht viel höher. Aber wie Oberst House Wilson versichert hatte, ganz gleich, welche Opfer der Krieg forderte, »der Zweck wird sie rechtfertigen«. Der Zweck war, eine Weltordnung der Freiheit, Gerechtigkeit und des immerwährenden Friedens zu schaffen.

Die Umsetzung dieser ganz gewaltigen Aufgabe begann im Januar 1919 in Paris, als sich die Führer der »Alliierten und assoziierten Mächte« versammelten, um die Friedensbestimmungen festzulegen und die Satzung des Völkerbunds niederzulegen.[28]

Eine erhebliche Komplikation stellte die Tatsache dar, daß Deutschland nicht bedingungslos kapituliert hatte, sondern unter ganz bestimmten Bedingungen über die Art einer Endregelung. Die Note des US-Außenministeriums vom 5. November 1918 informierte Deutschland, daß die Vereinigten Staaten und die alliierten Regierungen dem deutschen Vorschlag beipflichteten. Grundlage der Schlußverträge sollten »die Friedensbedingungen sein, die der Präsident in seiner Rede vor dem Kongreß im Januar 1918 [14-Punkte-Rede] niedergelegt hatte, sowie die in seinen folgenden Reden ausgeführten Schlichtungsprinzipien.«[29]

Kern dieser Erklärungen war, daß die Friedensverträge von Gerechtigkeit und Fairneß gegenüber allen Nationen beseelt sein sollten. Für Rache und nationale Habsucht sollte bei der Neuordnung der Dinge kein Raum sein. In seiner 4-Prinzipien-Rede einen Monat nach der 14-Punkte-Rede stellte Wilson fest:[30]

»Es soll keine Kriegskontributionen, keine Strafzahlungen geben. Die Menschen sollen nicht durch eine internationale Konferenz von einem Hoheitsgebiet an ein anderes überstellt werden. Nationale Bestrebungen müssen respektiert werden; die Völker dürfen jetzt nur mit ihrer eigenen Zustimmung beherrscht und regiert werden. „Selbstbestimmung" ist nicht nur eine Phrase. [...] Alle Parteien dieses Krieges müssen sich zur Regelung aller damit irgendwie zusammenhängenden Fragen zusammentun. [...] Jede mit diesem Krieg zusammenhängende territoriale Regelung muß im Interesse und zum Nutzen der betroffenen Bevölkerungen getroffen werden, und nicht bloß als Teil eines Ausgleichs oder eines Kompromisses zwischen rivalisierenden Staaten.«

Bei den Verhandlungen vor dem Waffenstillstand hatte Wilson darauf bestanden, daß die Waffenstillstandsbedingungen auf jeden Fall dergestalt sein sollten, »daß eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten von deutscher Seite unmöglich gemacht würde.«

Dementsprechend übergaben die Deutschen ihre Kriegsflotte und ihre U-Boote, etwa 1.700 Flugzeuge, 5.000 Geschütze, 30.000 Maschinengewehre und andere Ausrüstung, während die Alliierten das Rheinland und die Rheinbrückenköpfe besetzten.[31] Deutschland war jetzt wehrlos und davon abhängig, daß Wilson und die Alliierten ihr Wort hielten.

Aber die Hungerblockade dauerte an und wurde sogar ausgeweitet, als die Alliierten die Kontrolle über die Ostseeküste erlangten und sogar Fischerboote blockierten. Es war so weit gekommen, daß General Herbert Plumer, Kommandeur der britischen Besetzungsarmee, von London forderte, den ausgehungerten Deutschen Nahrung zu schicken. Seine Truppen könnten nicht länger mit ansehen, wie sich »Scharen magerer und aufgedunsener Kinder über den Abfall der britischen Truppenunterkünfte hermachten«.[32] Dennoch wurden bis März 1919 keine Nahrungsmittel nach Deutschland gelassen, und die Rohstoffblockade hielt an, bis die Deutschen den Vertrag unterzeichnet hatten.

In Paris gab es bereits früh beunruhigende Anzeichen dafür, daß die Alliierten die Kapitulationsbedingungen verletzten. Der deutschen Delegation wurde nicht erlaubt, an den Erörterungen teilzunehmen. Der Vertrag, der unter den sich streitenden Siegern ausgehandelt wurde - Wilson war einmal so verärgert, daß er sich vorübergehend zurückzog -, wurde aufgesetzt und den deutschen Delegierten ausgehändigt. Trotz empörter Proteste waren sie schließlich unter der Drohung eines Einmarsches in das jetzt hilflose Deutschland gezwungen, den Vertrag während einer demütigenden Zeremonie im Schloß von Versailles zu unterschreiben.[33]

Dieser zweifelhafte Auftakt zum Zeitalter des ewigen Friedens und der internationalen Versöhnung wurde durch die Vertragsbestimmungen selbst noch weit schlimmer gemacht.

Deutschland wurde nur eine Armee von 100.000 Mann zugestanden, keine Flugzeuge, Panzer oder U-Boote, während das ganze linke Rheinufer dauernd entmilitarisiert wurde. Aber es war eine einseitige Entwaffnung und es gab keine Anstalten für eine allgemeine Abrüstung (Punkt 4 der 14 Punkte), deren erster Schritt dies angeblich sein sollte, die aber in Wirklichkeit nie erfolgte. Es gab keine »freie, großzügige und absolut unparteiische Regelung aller kolonialer Ansprüche« (Punkt 5). Statt dessen wurde Deutschland seiner Kolonien in Afrika und im Pazifik beraubt, die dann unter den Kriegsgewinnern aufgeteilt wurden. In dieser Hochzeit des Imperialismus bedeuteten Kolonien viel, wie sich aus der Brutalität zeigt, mit der England und Frankreich Aufstände der Eingeborenen niederschlugen. Damit wurde die Übereignung der deutschen Kolonien ein weiterer Anlaß für Besorgnis. An Stelle eines Friedens »ohne Kontributionen und Strafzahlungen« forderte der Vertrag nicht näher bestimmte Reparationen. Diese sollten nicht nur die Kosten für Schadenersatz an Zivilisten decken, sondern auch Renten und andere Militärausgaben. Die schließlich vorgeschlagene Summe soll das gesamte Vermögen Deutschlands überstiegen haben, und es wurde erwartet, daß die Deutschen noch über viele Jahrzehnte weiterzahlen würden.[34] Aber die am bittersten empfundenen Punkte waren die Gebietsveränderungen in Europa.

Wilson hatte versprochen, und die Alliierten hatten zugestimmt, daß „Selbstbestimmung" der Eckpfeiler der neuen Weltordnung der Gerechtigkeit und des Friedens sein würde. Diese Aussicht hatte zu Beginn der Friedenskonferenz in der ganzen westlichen Welt eine Welle der Hoffnung hervorgebracht. Aber die Sieger waren sich nicht darüber einig, wie wünschenswert Selbstbestimmung war, und was sie überhaupt beinhalten sollte. Der französische Premier, Georges Clemenceau lehnte es ab, sie auf die Deutschen anzuwenden, und wollte das Rheinland als separaten Staat etablieren. Den Briten war das Prinzip peinlich, da sie keinerlei Absicht hatten, es auf Zypern, Indien, Ägypten oder Irland anzuwenden. Nicht einmal Wilsons Außenminister konnte das Prinzip einhalten. Robert Lansing hat ausgeführt, daß sowohl die Vereinigten Staaten wie auch Kanada in eklatanter Weise das geheiligte Prinzip der Selbstbestimmung verletzt hatten, erstere in Bezug auf die Konföderierten, und letztere in Bezug auf Quebec.[35]

Das Schloß zu Versailles um 1900[36]

Wilson selbst hatte wenig Ahnung davon, was seine Doktrin beinhaltete. Mit dem Fortgang der Konferenz wurde der Präsident von dem grimmig entschlossenen Clemenceau und dem schlauen britischen Premierminister David Lloyd George herumgestoßen und fügte sich in eine Reihe Verstöße gegen die Selbstbestimmung, die letztendlich sein eigenes erhabenes aber unklares Prinzip zu einer Farce machten.

Wilson hatte erklärt, daß den Volksgruppen »die größtmögliche Befriedigung« gewährt werden müsse, »die ihnen zugestanden werden kann, ohne neue Uneinigkeiten oder Gegensätze herbeizuführen oder alte zu verewigen.« Italien hatte in Paris den Brenner-Paß als Nordgrenze erhalten, wodurch fast eine Viertelmillion österreichische Deutsche in Südtirol unter italienische Herrschaft kamen. Die deutsche Stadt Memel war zusammen mit dem gesamten Memelland an Litauen gegeben worden, und die Errichtung des polnischen Korridors zur Ostsee und der „Freien Stadt" Danzig (unter polnischer Oberhoheit) betraf weitere 1,5 Millionen Deutsche. Das Saargebiet wurde Frankreich für mindestens 15 Jahre überlassen. Alles in allem wurden etwa 13.5 Millionen Deutsche vom Reich abgetrennt.[37] Die schlimmsten Fälle von allen waren Österreich und das Sudetenland.

In Österreich stimmte bei Kriegsende die Nationalversammlung einstimmig für den Anschluß an Deutschland. Bei Volksabstimmungen stimmten Salzburg und Tirol gleichermaßen mit 98 bzw. 95%. Aber der Anschluß wurde durch die Bestimmungen des Vertrags verboten (wie auch der Name „Deutsch-Österreich" für das neue Land.)[38] Der einzige Grund für die schamlose Verletzung des Selbstbestimmungsrechts war, daß es Deutschland gestärkt hätte - und das war schwerlich, was die Sieger im Sinn hatten.[39]

Die Friedenskonferenz schuf ein Gebilde namens „Tschechoslowakei", einen Staat, der sich in der Zeit zwischen den Kriegen des Rufs einer tapferen kleinen Demokratie im dunklen Herzen Europas erfreute. In Wirklichkeit war es ein weiteres „Völkergefängnis"[40]Die Slowaken waren durch das Versprechen einer vollständigen Autonomie getäuscht worden mitzumachen, und trotzdem machten Tschechen und Slowaken zusammen nur 65 % der Bevölkerung aus. Tatsächlich waren die Deutschen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe.[41]

Die Deutschen hatten das Sudentenland seit dem Mittelalter bewohnt. Bei der Auflösung von Österreich-Ungarn wollten sie sich dem verbliebenen Österreich oder auch Deutschland selbst anschließen. Thomas Masaryk und Eduard Benesch, die Führer der gutorganisierten tschechischen Konferenzteilnehmer und gehätschelten Lieblinge der Alliierten, waren vehement dagegen. Selbstverständlich hatten zwar die Tschechen das Recht, sich von Österreich-Ungarn loszulösen, aber die Deutschen hatten kein Recht, aus der Tschechoslowakei auszutreten. Die Einverleibung des Sudentenlands wurde nämlich durch wirtschaftliche und strategische Erwägungen diktiert - und auch durch geschichtliche. Es scheint, daß die Ländereien der Krone des Heiligen Wenzel - Böhmen, Mähren und das österreichische Schlesien - unversehrt bewahrt bleiben sollten. (Bezüglich der Länder der Krone des Heiligen Stefan, dem alten Königreich Ungarn, gab es in Paris keine derartige Fürsorglichkeit.)[42] Schließlich versicherten Masaryk und Benesch ihren Gönnern, daß sich die Sudetendeutschen danach sehnten, sich dem neuen westslawischen Staat anzuschließen. Alfred Cobban kommentierte ironisch:[43]

»Um Zweifel zu vermeiden, wurde ihre Ansicht dazu nicht überprüft.«

Das ist in keiner Weise überraschend. Das Mittel der Volksabstimmung wurde angewandt, wenn es Deutschland schaden konnte. Auf diese Weise wurden Volksabstimmungen abgehalten, um Gebiete aufzuteilen, die als Ganzes genommen für den Zusammenschluß mit Deutschland hätten stimmen können, z.B. Schlesien. Aber die deutsche Forderung nach einer Volksbefragung in Elsaß-Lothringen, das viele Franzosen verlassen hatten, während viele Deutschen nach 1871 dorthin gekommen waren, wurde verweigert.[44]

In der neuen Tschechoslowakei litten die Deutschen unter der für die Staatsordnung Zentraleuropas typischen Diskriminierung, die von der Regierung gefördert wurde. Sie wurden bei der „Bodenreform" benachteiligt, in der Wirtschaftspolitik, im Öffentlichen Dienst und im Erziehungswesen. Die Bürgerrechte der Minderheiten einschließlich der Slowaken wurden durch Gesetze verletzt, der friedliche Einsatz gegen den straffen Zentralismus des neuen Staates kriminalisiert. Anschuldigungen der Deutschen, daß ihre Rechte aus dem Minderheitenvertrag verletzt wurden, brachten keine Besserung.[45]

Die Klagen der Deutschen, die sich in den Grenzen des neuen Polen wiederfanden, ähnelten denen in der Tschechoslowakei, nur daß die Deutschen in Polen oft auch Gewalttätigkeiten des Mobs ausgesetzt waren.[46] Die polnischen Behörden, die die deutsche Minderheit als potentielle Verräter ansahen, schlugen vor, sie entweder durch Assimilation - (unwahrscheinlich) oder Zwangsemigration zu beseitigen. Ein Wissenschaftler kam zu dem Schluß:[47]

»Deutsche in Polen hatten reichlich Grund für ihre Klagen; ihre Aussichten, auch nur mittelfristig zu überleben, waren trostlos.«

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts tendieren wir dazu, bestimmte Gruppen als ewig unterdrückte Opfer und andere als ewige Unterdrücker anzusehen. Aber dieser ideologische Kunstgriff begann nicht erst mit der jetzt alles durchziehenden Dämonisierung der weißen Rasse. Es gab schon davor einen Mythos, dem zufolge die Deutschen immer ihren slawischen Nachbarn gegenüber im Unrecht waren. Diese Legende ist heute tief verwurzelt, bestärkt durch die Berichte über NS-Greuel. Die Vorstellung, daß zu manchen Zeiten Polen und Tschechen die Deutschen zu Opfer machten, kann im amerikanischen Denkmuster gar nicht verarbeitet werden. Aber so war es oft in der Zwischenkriegszeit.

Die deutschen Führer waren natürlich vor dem Krieg und während dessen alles andere als Engel. Aber, wenn der Versailler Vertrag einen anhaltenden Frieden erzielen sollte, war es eine schlechte Idee, in Europas Zukunft Zeitbomben einzubauen. David Lloyd George sagte selbst in Bezug auf Deutschlands Grenze mit Polen voraus, daß sie »meines Erachtens früher oder später zu einem neuen Krieg im Osten Europas führen muß.« Wilsons Forderung, daß alle Ungerechtigkeiten mit der Zeit berichtigt würden, »es wird die Aufgabe des Völkerbundes sein, solche Angelegenheiten zu ordnen«, war eine weitere seiner Illusionen. Die Satzung des Völkerbundes forderte bei solchen Fragen Einstimmigkeit, und machte damit »den Völkerbund zum Werkzeug des Status quo[48]

Rache war weiterhin an der Tagesordnung, als Frankreich 1923 in das Ruhrgebiet einmarschierte, angeblich weil Reparationszahlungen im Rückstand waren (England und Italien waren nicht dieser Ansicht). Die Franzosen verstärkten auch ihre vergeblichen Versuche, aus dem Rheinland einen separaten Staat zu machen. Dort wie auch an der Ruhr setzten sie demonstrativ Truppen mit Eingeborenen aus den Kolonien ein, denen die Neuerung, Europäern übergeordnet zu sein, großes Vergnügen bereitete. Dies wurde von vielen Deutschen als weitere schmachvolle Behandlung empfunden.[49]

Die Probleme zogen sich durch die 20er und den Anfang der 30er Jahre. Alle politischen Parteien in Deutschland, von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten, waren bis zum Ende der Weimarer Republik schärfstens gegen die Bestimmungen der Gebietsabtretungen. In der Vergangenheit waren Verträge oft allmählich und friedlich revidiert worden, weil eine Seite Änderungen vornahm, ohne daß die anderen Staaten dagegen einschritten.[50] Aber Frankreich weigerte sich, auch nur einen Zoll nachzugeben, selbst angesichts der NS-Bedrohung, die sich über der Weimarer Republik abzeichnete. 1931 vereinbarte Kanzler Heinrich Brüning eine Zollunion mit Österreich, was einen großen nationalen Erfolg bedeutet hätte. Frankreich legte Veto dagegen ein. Vansittart warnte im britischen Außenministerium, »Brünings Regierung ist die beste, die wir uns erhoffen können; wenn sie verschwindet, würde ihr eine NS-Lawine folgen[51]

Im Osten weigerten sich Frankreichs Verbündete Polen und die Tschechoslowakei in ähnlicher Weise, irgend ein Zugeständnis zu machen. Sie waren gedrängt worden, Vereinbarungen zu unterzeichnen, die ihren Minderheiten gewisse Rechte garantierten, allerdings blieben diese Verträge wertloses Papier. Proteste der deutschen Minderheit an den Völkerbund erreichten nichts: Die Vermittler des Völkerbunds »empfahlen fast immer, sich mit den Versprechungen zu begnügen, daß die Mitglieds-Regierungen ihr Verhalten verbessern würden. [...] Selbst wenn der Völkerbund eine Vorgehensweise, über die sich eine Minderheit beklagt hatte, als regelwidrig befand, war er fast nie in der Lage, entsprechend auf das Handeln eines Mitgliedsstaats einzuwirken.«

Jedenfalls war die polnische Haltung, daß »Minderheiten keinen Schutz vor ihrer eigenen Regierung brauchen « und daß es »illoyal« seitens einer Minderheitenorganisationen war, beim Völkerbund auf Abhilfe zu dringen.[52]

Als Deutschland dem Völkerbund beitrat, erhielten die Beweise über das Schreckensregiment gegen die deutsche Minderheit in Polen mehr Gewicht. 1931 nahm der Rat des Völkerbundes einstimmig einen Bericht an, der »im wesentlichen die Anklagen gegen die Polen bestätigte«. Wieder erfolgte keine wirksame Abhilfe. Die britischen Delegierten hatten »offen die Ansicht vertreten, daß es Sache der deutschen Regierung sei, wo deutsche Minderheiten betroffen waren, deren Interessen wahrzunehmen[53] Nach 1933 entschied sich die deutsche Regierung, genau das in der ihr eigenen groben Art zu tun.[54]

Im Januar 1917 hatte Wilson vor dem Kongreß darüber gesprochen, welcher Art die Übereinkunft sein sollte, wenn der schreckliche Krieg erst einmal vorüber sei:[55]

»Es muß ein Frieden ohne Sieg sein. [...] Sieg würde ein dem Verlierer aufgezwungener Frieden bedeuten, daß die Bedingungen eines Siegers dem Unterlegenen auferlegt werden. Das würde man gedemütigt und unter Zwang annehmen, als ein unerträgliches Opfer, und es würde einen Stich zurücklassen, ein Ressentiment, eine bittere Erinnerung, die den Friedensbedingungen keine dauerhaft Grundlage geben würde, sondern wie Flugsand wäre.«

Wahrhaftig - eine prophetische Warnung. Daß Woodrow Wilson sie selbst mißachtet hat, trug dazu bei, für Europa und die Welt eine Tragödie herbeizuführen, die selbst den Ersten Weltkrieg übertraf.


Anmerkungen

Ralph Raico ist Professor für Geschichte am Buffalo State College und ehemaliger Absolvent des Ludwig von Mises Institute. Entnommen dem Buch von John V. Denson (Hg.), The Costs of War: America's Pyrrhic Victories, 2. Auflage, Transaction Publishers, New Brunswick/London 1999, S. 203-247, hier S. 230-247.

Bildquelle, falls nicht gesondert vermerkt: Library of Congress, Washington, http://memory.loc.gov/ammem/odmdhtml/preshome.html (W. Wilson, W. Harding) und http://lcweb2.loc.gov/pp/wwiposquery.html (Poster).

[1]Bruce D. Porter, War and the Rise of the State: The Military Foundations of Modern Politics, Free Press, New York 1993, S. 269.
[2]Arthur A. Ekirch, Jr., Progressivism in America: A Study of the Era from Theodore Roosevelt to Woodrow Wilson, New Viewpoints, New York 1974; und Robert Higgs, Crisis and Leviathan: Critical Episodes in the Growth of American Government, Oxford University Press, New York 1987, S.113-16. Siehe auch Murray N. Rothbards Beitrag »World War I as Fulfillment: Power and the Intellectuals«, in John V. Denson (Hg.), The Costs of War. America's Pyrric Victories, Transaction Publishers, New Brunswick/London 21999, S. 249-299.
[3]David M. Kennedy, Over There: The First World War and American Society, Oxford University Press, New York 1980, S. 39f., 44, 246; A.A. Ekirch, Decline of American Liberalism, Longmans, Green & Co., New York 1955, S. 205.
[4]Siehe Murray N. Rothbard, The Ethics of Liberty, New York University Press, New York [1982] 1998.
[5]R. Higgs, aaO. (Anm. 2), S. 128f.
[6]Ebd., S. 123, 135.
[7]Murray N. Rothbard, »War Collectivism in World War I«, in Ronald Radosh, Murray N. Rothbard (Hg.), A New History of Leviathan: Essays on the Rise of the American Corporate State, E.P. Dutton, New York 1972, S. 97f. Tugwell klagte darüber, - in Rothbards Worten - daß »nur der Waffenstillstand ein großes Experiment - die Produktions-, Preis- und Konsumkontrolle - verhindert hat.«
[8]D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 139-41, 243. Kennedy schlußfolgerte, S. 141:
»unter dem aktiven Ansporn von Kriegsverwaltern wie Hoover und Baruch erfolgte ein deutlicher Umschwung im Geschäftsleben der Nation hin zum Korporatismus. Ganze Industrien, sogar ganze Wirtschaftsbereiche, wie im Falle der Landwirtschaft, wurden wie nie zuvor organisiert und diszipliniert und in enge und regelmäßige Verbindung mit entsprechenden Kongreß-Ausschüssen, Ministerien (cabinet departments) und Büros der Exekutive gebracht.«
Bezüglich Hoover, siehe Murray N. Rothbard, »Herbert Clark Hoover: A Reconsideration«, New Individualist Review, Liberty Press, Indianapolis, Ind., 1981, S. 689-98, Reprint von New Individualist Review 4(2) (Winter 1966), S. 1-12.
[9]D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 112; B.D. Porter, aaO. (Anm. 1), S. 270.
[10]Jonathan Hughes, The Governmental Habit: Economic Controls from Colonial Times to the Present, Basic Books, New York 1977, S. 135; D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 103-13; B.D. Porter, aaO. (Anm. 1), S. 271.
[11]D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 253-58; J. Hughes, aaO. (Anm. 10), S. 141. Hughes stellte fest, daß die War Finance Corporation ein bleibendes Kriegsrelikt war, das unter verschiedenen Namen bis zum heutigen Tag weiterbestand. Außerdem »waren nachfolgende Regierungen beider politischen Parteien tief in Wilsons Schuld wegen seines bahnbrechenden Vorstoßes zum Pseudokapitalismus der Regierungsgesellschaften. Sie ermöglichten, daß kollektive Unternehmungen im Gewand des Privatunternehmens verblieben, obwohl sie so „sozialistisch" waren wie sonst nur ein sowjetisches Wirtschaftsunternehmen.«
M.N. Rothbard, aaO. (Anm. 7), S. 90, bemerkte, daß die Eisenbahnbesitzer der Übernahme durch die Regierung gar nicht abgeneigt waren, weil ihnen gleich hohe Gewinne wie 1916-1917 - zwei gute Jahre für die Unternehmen - garantiert wurden.
[12]Ebd. S.66
[13]J. Hughes, aaO. (Anm. 10), S. 137. Siehe also R. Higgs, aaO. (Anm. 2), S. 150-56.
[14]Zitate von sowohl Wilson und Gregory in H. C. Peterson, Gilbert C. Fite, Opponents of War, 1917-1918, University of Washington Press, Seattle [1957] 1968), S. 14.
[15]Ebd., S.30-60, 157-66, und passim.
[16]A.A. Ekirch, aaO. (Anm. 3), S. 217f.; B.D. Porter, aaO. (Anm. 1), S. 272ff.; D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 54, 73-78. Kennedy kommentiert auf S. 89, daß der Punkt erreicht war, wo »man bei Kritik des Kriegsverlaufs oder Infragestellung der amerikanischen oder alliierten Friedensziele sofort eine Strafverfolgung wegen Verrat riskierte
[17]Ray Ginger, The Bending Cross: A Biography of Eugene Victor Debs, Rutgers University Press, New Brunswick, N.J., 1949, S. 383f. Holmes beklagte sich über die »dummen Protestbriefe«,, die er nach dem Urteil über Debs erhielt: »da war eine Menge Geschwätz von Freier Rede«, sagte der Richter. Siehe auch D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 84ff.
[18]Siehe H.L. Menckens brillanten Beitrag, »Mr. Justice Holmes«, in ders., A Mencken Chrestomathy, Vintage, New York 1982 [1949]), S. 258-65. Mencken schlußfolgerte »Ihn einen Liberalen zu nennen, heißt dem Wort seine Bedeutung zu nehmen«. D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 178f., führt Holmes exzentrische, den Krieg verherrlichende Äußerungen aus. Nur im Krieg könnten Menschen »die göttliche Torheit der Ehre« verfolgen. Wenn auch das Kampferlebnis schrecklich sein könne, »siehst Du [hinterher], daß seine Botschaft göttlich war.« Das erinnert weniger an das, was man gewöhnlich unter Liberalismus versteht, als an die Weltanschauung Benito Mussolinis.
[19]B.D. Porter, aaO. (Anm. 1), S. 274. Zu den Wurzeln der nationalen Sicherheit des Staates in der Zeit des Ersten Weltkrieges siehe Leonard P. Liggio, »American Foreign Policy and National-Security Management«, in R. Radosh, M.N. Rothbard (Hg.), aaO. (Anm. 7), S. 224-59.
[20]H.C. Peterson, G.C. Fite, aaO. (Anm. 14), S. 22; D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 94; R. Higgs, aaO. (Anm. 2), S. 131f. Siehe auch den Beitrag von Robert Higgs, »War and Leviathan in Twentieth Century America«, in John V. Denson (Hg.), The Costs of War: America's Pyrrhic Victories, 2. Auflage, Transaction Publishers, New Brunswick/London 1999, S. 375-388.
[21]D.M. Kennedy, aaO. (Anm. 3), S. 87; A.A. Ekirch, aaO. (Anm. 3), S. 223-26.
[22]Carl Brent Swisher, American Constitutional Development, 2. Aufl., Houghton Mifflin, Cambridge, Mass., 1954, S. 681f.
[23]A.A. Ekirch, aaO. (Anm. 3), S. 234.
[24]Ray Ginger, aaO. (Anm. 17), S. 356-359, 362-376, 405f.
[25]H.C. Peterson, G.C. Fite, aaO. (Anm. 14), S. 279.
[26]Walter Karp, The Politics of War: The Story of Two Wars which Altered Forever the Political Life of the American Republic (1890-1920), Harper and Row, New York 1979, S. 340.
[27]Otis L. Graham, Jr., The Great Campaigns: Reform and War in America, 1900-1928, Robert E. Krieger, Malabar, Fla., 1987, S. 91.
[28]Die folgende Erörterung bezieht sich neben anderen Werken auf John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, Harcourt, Brace and Howe, New York 1920; Alcide Ebray, La paix malpropre: Versailles, Unitas, Milan 1924; Sally Marks, The Illusion of Peace: International Relations in Europe, 1918-1933, St. Martin's Press, New York 1976, S. 1-25; Eugene Davidson, The Making of Adolf Hitler. The Birth and Rise of Nazism, University of Missouri Press, Columbia [1977] 1997; Roy Denman, Missed Chances: Britain and Europe in the Twentieth Century, Cassell, London 1996), S. 29-49; und Alan Sharp, The Versailles Settlement: Peacemaking in Paris, 1919, St. Martin's Press, New York 1991.
[29]James Brown Scott (Hg.), Official Statements of War Aims and Peace Proposals, December 1916 to November 1918, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, D.C., 1921, S. 457. Die zwei Modifikationen, die von den alliierten Regierungen vorgeschlagen und von den Vereinigten Staaten und Deutschland angenommen worden waren, betrafen die Freiheit der Meere und die Entschädigung, die Deutschland für die der Zivilbevölkerung der alliierten Nationen zugefügten Schäden schuldete. Über früher zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten ausgewechselten Noten bezüglich der Kapitulationsbedingungen siehe S. 415, 419, 420f., 430f., 434f., 455.
[30]Arthur S. Link (Hg.), The Papers of Woodrow Wilson, January 16-March 12, 1918, Princeton University Press, Princeton, N.J.1984, Bd. 46, S. 321ff. Zu der 14-Punkte-Rede vom 8. Januar 1918 siehe ders.., ebd., November 11, 1917-January 15, 1918, Princeton University Press, Princeton, N.J., 1984, Bd. 45, S. 534-39.
[31]J.B. Scott, aaO. (Anm. 29), S. 435; E. Davidson, aaO. (Anm. 28), S. 112 und R. Denman, aaO. (Anm. 28), S. 33.
[32]Ebd., S.33-34; und C. Paul Vincent, The Politics of Hunger. The Allied Blockade of Germany, 1915-1919, Ohio University Press, Athens 1985, S. 110 und 76-123. Es scheint unleugbar, daß die Hungerblockade ihren Teil zum Anfachen des späteren NS-Fanatismus beitrug, siehe Theodore Abel, The Nazi Movement: Why Hitler Came to Power, Atherton, New York [1938] 1960), von dem Peter Lowenberg, in »The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohorts«, American Historical Review 76(3) (Dezember 1971), S. 1499, bemerkte:
»die auffälligste Gefühlsregung, die in Abels Autobiographien [von NS-Kadern] zum Ausdruck kam, sind die Erinnerungen der Erwachsenen an intensiven Hunger und Entbehrung in der Kindheit.«
[33]Nach damals und heute geltendem Völkerrecht ist ein Vertrag, der unter Dritten ausgehandelt wird und dessen Unterschrift durch Gewalt erzwungen wird (Hungerblockade, Drohung mit militärischer Gewalt) von Anfang an nichtig. Somit war der Versailler Vertrag niemals völkerrechtlich gültig. Anm. der Redaktion.
[34]Charles Callan Tansill, »The United States and the Road to War in Europe«, in Harry Elmer Barnes (Hg.), Perpetual War for Perpetual Peace, Caxton, Caldwell, Idaho, 1953, S. 83-88; R. Denman, aaO. (Anm. 28), S. 32, 57-59; E. Davidson, aaO. (Anm. 28), S. 155.
[35]Alfred Cobban, The Nation State and National Self-Determination, Thomas Y. Crowell, New York 1970, S. 61f. Bezüglich der Verachtung, mit der Wilson die Forderung der Iren nach Unabhängigkeit behandelte, s. S. 66.
[36]http://lcweb2.loc.gov/pp/mdbquery.html
[37]R.W. Seton-Watson, Britain and the Dictators: A Survey of Post-War British Policy, Macmillan, New York 1938, S. 324.
[38]E. Davidson, aaO. (Anm. 28), S. 115f. Sogar Charles Homer Haskins, Chef der Westeuropa-Abteilung der amerikanischen Delegation, sah das Verbot des österreichisch-deutschen Zusammenschlusses als Ungerechtigkeit an; siehe Charles Homer Haskins and Robert Howard Lord, Some Problems of the Peace Conference, Harvard University Press, Cambridge, Mass., 1920, S. 226ff.
[39]Der Bericht von Reinhard Spitzy, So haben wir das Reich verspielt: Bekenntnisse eines Illegalen, Langen Müller, München 1986, ist diesbezüglich aufschlußreich. Als junger Österreicher war Spitzy empört über die Behandlung seines eigenen Landes und der Deutschen im allgemeinen bei der Pariser Friedenskonferenz und später. Die Tötung von 54 sudetendeutschen Demonstranten durch die tschechische Polizei am 4. März 1919 bestürzte Spitzy besonders. Er schloß sich der österreichischen NS-Partei und der SS an. Später wurde Spitzy, der nie für einen deutschen Expansionismus war, ein ätzender Kritiker Ribbentrops und gehörte dem Widerstand gegen Hitler an.
[40]Zur tschechischen Frage bei der Friedenskonferenz und der ersten tschechoslowakischen Republik siehe Kurt Glaser, Czecho-Slovakia: A Critical History, Caxton, Caldwell, Idaho 1962, S. 13-47.
[41]Hier die Bevölkerungsangaben gemäß dem Zensus von 1926: Tschechen 6,5 Mio., Deutsche 3,3 Mio., Slowaken 2,5 Mio., Ungarn 800.000, Ruthenier 400.000, Polen 100.000. John S. Keltie (Hg.), The Statesman's Yearbook, 1926, Macmillan, London 1926, S. 768; und K. Glaser, aaO. (Anm. 40), S. 6.
[42]Die Deutschen waren durchaus nicht das einzige Volk, dessen „Recht auf Selbstbestimmung" offenkundig mißachtet wurde. Millionen Ukrainer und Weißrussen wurden in das neue Polen einbezogen. Was die Ungarn betrifft, so wird die ihnen gegenüber in Paris vorherrschende Haltung durch die Äußerung von Harold Nicholson, einem der britischen Unterhändler, veranschaulicht:
»Ich gestehe, daß ich den turanischen Stamm mit heftigem Widerwillen betrachtet habe - und immer noch betrachte. Wie ihre türkischen Vettern haben sie viel zerstört und nichts geschaffen.«
Die neuen Grenzen Ungarns wurden so gezogen, daß ein Drittel der Ungarn benachbarten Staaten zugewiesen wurde. Siehe Stephen Borsody, »State- and Nation-Building in Central Europe: The Origins of the Hungarian Problem«, in ders.. (Hg.), The Hungarians: A Divided Nation, Yale Center for International and Area Studies, New Haven, Conn., 1988, S. 3-31, und besonders Zsuzsa L. Nagy, »Peacemaking after World War 1: The Western Democracies and the Hungarian Question«, ebd., S. 32-52. Die Staaten, die Gebiete von Deutschland und Österreich-Ungarn erbten, hatten folgende Minderheiten-Anteile: Tschechoslowakei 34.7 % (Slowaken nicht mitgerechnet), Polen 30.4 %, Rumänien 25 %, Jugoslawien 17,2 % (Kroaten und Slowenen nicht mitgerechnet) Seton-Watson, aaO. (Anm. 37), S. 322f.
[43]A. Cobban, aaO. (Anm. 35), S. 68. C.A. Macartney, National States and National Minorities, Russell and Russell, New York [1934] 1968, S. 413ff., bemerkte, daß Tschechisch durch eine amtliche Verordnung die Staatssprache war, die in allen wesentlichen Regierungsämtern ausschließlich, und in der allgemeinen Öffentlichkeit in der Regel gebraucht wurde. Dies führte zu deutschen Klagen, daß es Ziel sei, »die ganze Verwaltung des Landes so weit wie möglich in tschechoslowakische Hände zu bekommen«. Macartney beharrte trotzdem darauf, daß die Sudentendeutschen »nicht grundsätzlich zum Mutterland zurückstrebten«. Natürlich waren sie nicht gefragt worden, wie Cobban ausführte.
[44]A. Cobban, aaO. (Anm. 35), S. 72. Sogar S. Marks, aaO. (Anm. 28), S. 11, der im allgemeinen den Versailler Vertrag guthieß, stellte fest, daß Elsaß-Lothringen wieder an Frankreich kam »zum beträchtlichen Mißvergnügen vieler seiner Einwohner«. Zu dieser Frage siehe T. Hunt Tooley, »The Internal Dynamics of Changing Frontiers: The Plebiscites on Germany's Borders, 1919-1921«, in Christian Baechler, Carole Fink (Hg.), The Establishment of European Frontiers after the Two World Wars, Peter Lang, Bern 1991, S. 149-65.
[45]K. Glaser, aaO. (Anm. 40), S. 13-33.
[46]Im Gegensatz zu den Sudentendeutschen, die hauptsächlich in einem geschlossenen Siedlungsgebiet lebten, das an Deutschland und Österreich angrenzte, hätten die meisten Deutschen in Polen (allerding nicht in Danzig) nur dann mit ihrem Mutterland vereint werden können, wenn auch viele Nichtdeutsche miteingebracht worden wären, wobei sich viele dieser Nichtdeutschen (Masuren, Kaschuben, Pommeranen) allerdings mehr Deutschland zugeneigt zeigten als Polen, wie sich bei Volksabstimmungen in einigen Kreisen West- und Ostpreußens ergab. Aber selbst einige an Deutschland angrenzende Gebiete mit einer klaren deutschen Mehrheit wurden an Polen übereignet. In Oberschlesien wurden die Industriezentren Kattowitz und Königshütte, die in Volksabstimmungen mit 65 % bzw. 75 % für Deutschland gestimmt hatten, an Polen gegeben. Richard Blanke, Orphans of Versailles: The Germans in Western Poland 1918-1939, Lexington, Ky., 1993, S. 21, 29.
[47]Ebd., S. 236f. Siehe auch C.C. Tansill, aaO. (Anm. 34), S. 88-93.
[48]R. Denman, aaO. (Anm. 28), S. 42,45; S. Marks, aaO. (Anm. 28), S. 14.
[49]C.C. Tansill, , aaO. (Anm. 34), S. 94f.; R. Denman, aaO. (Anm. 28), S. 51f.
[50]A. Ebray, aaO. (Anm. 28), S. 341ff.
[51]R. Denman, aaO. (Anm. 28), S. 53.
[52]R. Blanke, aaO. (Anm. 46), S. 132, 136f.
[53]E. Davidson, aaO. (Anm. 28) (die beste Arbeit über die fördernde Rolle des Versailler Vertrags beim Emporkommen des Nationalsozialismus), S. 289; and A. Cobban, aaO. (Anm. 35), S. 89.
[54]Die Vorstellung, daß eine angloamerikanische Garantie für Frankreich gegen eine deutsche „Aggression" hätte helfen können, das Kräfteverhältnis von 1919 ad infinitum festzuschreiben, war unrealistisch. Bereits 1922 erlangte die Weimarer Republik in Rapallo eine Annäherung an Sowjetrußland.
[55]Arthur S. Link (Hg.), The Papers of Woodrow Wilson, November 20, 1916-January 23, 1917 , Princeton University Press, Princeton, NJ., 1982, Bd. 40, S. 536.

Quelle: Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 6(1) (2002), S. 4-12.


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